Читать книгу: «Hans Fallada – Gesammelte Werke», страница 4

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Damit hat sie sich aus der Tür geredet; sie ist froh, von diesen beiden schweigenden Gestalten fortzukommen, ihr Gewissen zwickt sie ein wenig.

Kaum ist die Tür hinter ihr zu, kommt Bewegung in den kleinen Mann. Ganz selbstverständlich öffnet er den Schrank, macht dadurch einen Bügel frei, dass er zwei Kleider seiner Frau übereinander hängt, und hängt dafür seinen Mantel auf den Bügel. Die Sportmütze legt er oben auf den Schrank. Er geht stets sehr sorgfältig mit seinen Sachen um, er hasst es, schlecht gekleidet zu sein, und er weiß, er kann sich nichts Neues kaufen.

Nun reibt er die Hände mit einem behaglichen »Soso!« aneinander, geht zum Gasherd und schnuppert in den Töpfen. »Fein!«, sagt er. »Brühkartoffeln mit Rindfleisch – feinfein!«

Er macht eine Pause, die Frau sitzt bewegungslos, dreht ihm den Rücken. Er legt leise wieder den Deckel auf den Topf, stellt sich neben sie, sodass er auf sie hinunter redet: »Nun sitz bloß nicht so da, Eva, als wenn du so ’ne Marmorfigur wärst! Was ist denn schon los? Du hast für ein paar Tage wieder ’nen Mann in der Wohnung, ich werd dir schon keine Scherereien machen. Und was ich dir versprochen habe, das halte ich. Ich will auch nichts von den Brühkartoffeln – höchstens, wenn ein kleiner Rest bleibt. Und auch den nur, wenn du ihn mir freiwillig gibst – ich bitte dich nicht darum.«

Die Frau antwortet ihm mit keinem Wort. Sie stellt den Stopfkorb in den Schrank zurück, setzt einen tiefen Teller auf den Tisch, füllt sich aus den Töpfen auf und fängt langsam zu essen an. Der Mann hat sich an das andere Ende des Tisches gesetzt, ein paar Sportzeitungen aus der Tasche gezogen und macht sich Notizen in ein dickes, schmieriges Notizbuch. Dabei wirft er von Zeit zu Zeit einen raschen Blick auf die essende Frau. Sie isst sehr langsam, aber sie hat sich schon zweimal nachgefüllt, viel wird bestimmt nicht überbleiben für ihn, und er hat Hunger wie ein Wolf. Den ganzen Tag, nein, seit dem Abend vorher hat er nichts gegessen. Der Mann von der Lotte, der auf Urlaub aus dem Felde kam, hat ihn ohne jede Rücksicht auf sein Frühstück mit Schlägen aus dem Bette gejagt.

Aber er wagt es nicht, Eva von seinem Hunger zu sprechen, er hat Angst vor der schweigenden Frau. Ehe er sich hier erst richtig wieder zu Hause fühlen kann, muss noch allerlei geschehen. Dass dieser Moment kommen wird, daran zweifelt er nicht einen Augenblick: man kriegt jede Frau rum, nur beharrlich muss man sein und sich viel gefallen lassen. Schließlich, ganz plötzlich meist, geben sie nach, einfach weil ihnen das Wehren über ist.

Eva Kluge kratzt die Reste aus den Töpfen aus. Sie hat es geschafft, sie hat das Essen für zwei Tage an einem Abend geschafft, aber nun kann er sie doch nicht um die Reste anbetteln! Dann erledigt sie rasch das bisschen Abwasch, und nun fängt sie eine große Umräumerei an. Direkt vor seinen Augen bringt sie alles, was ihr ein bisschen wert ist, in die Kammer. Die Kammer hat ein festes Schloss, in die Kammer ist er noch nie reingekommen. Sie schleppt die Essvorräte, ihre guten Kleider und Mäntel, das Schuhwerk, die Kissen vom Kanapee, ja, sogar das Bild mit den beiden Jungen in die Kammer – alles vor seinen Augen. Es ist ihr ganz egal, was er denkt oder sagt. In die Wohnung ist er mit List gekommen, aber viel soll er davon nicht haben.

Dann schließt sie die Kammertür ab und holt sich das Schreibzeug an den Tisch. Sie ist todmüde, sie läge am liebsten im Bett, aber sie hat sich nun einmal vorgenommen, heute Abend an den Karlemann zu schreiben, so tut sie’s. Sie kann nicht nur hart gegen ihren Mann, sie kann auch hart gegen sich sein.

Sie hat erst ein paar Sätze geschrieben, da beugt sich der Mann über den Tisch und fragt: »An wen schreibste denn, Evchen?«

Unwillkürlich antwortet sie ihm, trotzdem sie sich fest vorgenommen hat, nicht mehr mit ihm zu sprechen. »An Karlemann …«

»So«, sagt er und legt die Zeitungen aus der Hand. »So, also an den schreibste und schickst ihm womöglich auch noch Päckchen, aber für seinen Vater haste nicht mal ’ne Kartoffel und ’n Happen Fleisch übrig, hungrig wie der ist!«

Seine Stimme hat etwas von ihrem gleichgültigen Klang verloren, sie klingt, als sei der Mann jetzt ernstlich beleidigt und in seinem Recht gekränkt, weil sie dem Sohne etwas gibt, das sie dem Vater vorenthält.

»Lass man, Enno«, sagt sie ruhig. »Das ist meine Sache, der Karlemann ist ein ganz guter Junge …«

»So!«, sagt er. »So! Und das hast du natürlich ganz vergessen, wie er zu seinen Eltern war, als sie ihn erst zum Scharführer gemacht hatten? Wie du ihm nichts mehr recht machen konntest und er uns als alte, dumme Bürger ausgelacht hat – alles vergessen, wa, Evchen? Ein guter Junge, wahrhaftig, der Karlemann!«

»Mich hat er nie ausgelacht!«, verteidigt sie ihn mit schwacher Stimme.

»Nee, natürlich nicht!«, spottet er. »Und das hast du natürlich auch vergessen, dass er seine eigene Mutter nicht gekannt hat, wenn sie mit der schweren Posttasche die Prenzlauer Allee langkam? Wie er da mit seinem Mädchen weggeguckt hat, der feine Knochen, der!«

»So was kann man ’nem jungen Menschen nicht übelnehmen«, sagt sie. »Die wollen alle möglichst fein vor ihren Damen dastehen, so sind sie alle. Das gibt sich später wieder, der kommt zurück zu seiner Mutter, die ihn an der Brust gehabt hat.«

Einen Augenblick sieht er sie zögernd an, ob er auch das noch sagen soll. Er ist sonst wirklich nicht nachtragend, aber diesmal hat sie ihn zu sehr gekränkt, erst, weil sie ihm kein Essen gab, dann, als sie vor seinen Augen offensichtlich alle guten Sachen in die Kammer trug. So sagt er denn: »Ich, wenn ich ’ne Mutter wäre, ich möchte so ’nen Sohn nie wieder in meine Arme nehmen, solch Schwein, wie der geworden ist!« Er sieht in ihre von der Angst vergrößerten Augen, er sagt es ihr erbarmungslos in das wächserne Gesicht hinein. »Auf dem letzten Urlaub, da hat er mir ein Foto von sich gezeigt, das hat ein Kamerad von ihm aufgenommen. Noch geprahlt hat er mit dem Bild. Da ist dein Karlemann drauf zu sehen, wie er so ’n Judenkind von vielleicht drei Jahren beim Bein hält, und mit dem Kopf haut er’s gegen die Stoßstange vom Auto …«

»Nein! Nein!«, schreit sie. »Das hast du gelogen! Das hast du dir aus Rache ausgedacht, weil ich dir kein Essen gegeben habe! So was tut Karlemann nicht!«

»Wie kann ich mir das denn ausgedacht haben?«, fragt er, schon wieder ruhiger, nachdem er ihr diesen Stoß versetzt hat. »Mir so was auszudenken, habe ich gar nicht den Kopf! Und übrigens, wenn du mir nicht glaubst, dann kannst du ja in die Destille von Senftenberg gehen, da hat er das Foto allen gezeigt. Der dicke Senftenberg und dem seine Olle, die haben es auch gesehen …«

Er hört auf zu reden. Es ist sinnlos, jetzt mit dieser Frau weiterzureden, sie sitzt da, den Kopf auf dem Tisch, und heult. Das hat sie davon, und übrigens ist sie doch auch in der Partei und hat immer auf den Führer und alles, was er tat, geschworen. Da kann sie sich doch nicht wundern, dass der Karlemann so geworden ist.

Einen Augenblick steht Enno Kluge und sieht zweifelnd nach dem Kanapee hinüber – keine Decke und keine Kissen! Das kann ’ne schöne Nacht werden! Aber vielleicht ist das grade jetzt der richtige Augenblick, was zu riskieren? Er steht zweifelnd, sieht nach der verschlossenen Kammertür hin, dann entschließt er sich. Er greift einfach in die Schürzentasche der hemmungslos weinenden Frau und holt den Schlüssel raus. Er schließt die Tür auf und fängt an, in der Kammer rumzusuchen, und das nicht einmal leise …

Eva Kluge, die abgehetzte, übermüdete Briefbestellerin, hört das alles auch; sie weiß, dass er sie jetzt bestiehlt, aber es ist ihr gleich. Ihre Welt ist doch kaputt, ihre Welt kann nie wieder heil werden. Wozu hat man denn gelebt auf dieser Welt, wozu hat man Kindern das Leben geschenkt, sich an ihrem Lächeln, ihren Spielen erfreut, wenn dann Tiere aus ihnen werden? Ach, der Karlemann – er war solch ein süßer blonder Junge! Wie sie damals mit ihm im Zirkus Busch war, und die Pferde mussten sich der Länge nach hinlegen im Sand, wie er da Mitleid mit den armen Hottos hatte – ob sie krank seien? Sie musste ihn beruhigen, die Hottos schliefen nur.

Und nun ging er hin und tat den Kindern anderer Mütter dies an! Nicht einen Augenblick zweifelte Frau Eva Kluge daran, dass das mit dem Bilde stimmte, Enno war wirklich nicht fähig, sich so was auszudenken. Nein, sie hatte nun auch den Sohn verloren. Es war viel schlimmer, als wenn er gestorben wäre, dann hätte sie wenigstens über ihn trauern können. Jetzt konnte sie ihn nie mehr in die Arme nehmen, auch vor ihm musste sie ihr Heim verschlossen halten.

Der suchende Mann in der Kammer hat unterdes das gefunden, was er längst im Besitz seiner Frau vermutete: ein Postsparkassenbuch. 632 Mark drauf, ’ne tüchtige Frau, aber eigentlich wozu so tüchtig? Sie kriegt doch mal eines Tages ihre Rente, und was sie sonst gespart hat … Er wird morgen erst mal jedenfalls 20 Mark auf Adebar setzen und vielleicht 10 auf Hamilkar … Er blättert weiter in dem Buch: nicht nur ’ne tüchtige Frau, auch ’ne ordentliche. Alles liegt beisammen: hinten im Buch ist die Kontrollmarke, und die Auszahlungszettel fehlen auch nicht …

Er will das Buch grade in die Tasche stecken, da ist die Frau bei ihm. Sie nimmt ihm das Buch einfach aus der Hand und legt es aufs Bett. »Raus!«, sagt sie nur. »Raus!«

Und er, der eben noch den ganzen Sieg fest in seinen Händen glaubte, geht vor ihren bösen Augen aus der Kammer. Mit zitternden Händen, ohne auch nur ein Wort zu wagen, holte er Mantel und Mütze aus dem Schrank, ohne ein Wort ging er durch die geöffnete Tür an ihr vorbei ins dunkle Treppenhaus. Die Tür wurde ins Schloss gezogen, er knipste die Treppenbeleuchtung an und stieg die Stufen hinab. Gottlob hatte jemand die Haustür offengelassen. Er wird in seine Stammkneipe gehen; zur Not, wenn er niemanden findet, lässt ihn der Budiker auf dem Sofa dort schlafen. Er marschiert los, in sein Schicksal ergeben, gewohnt, Schläge einzustecken. Die Frau oben hat er schon wieder halb vergessen.

Sie aber steht am Fenster und starrt in das abendliche Dunkel hinaus. Schön. Schlimm. Auch Karlemann ist verloren. Sie wird es noch mit Max versuchen, dem jüngeren Sohn. Max war immer farbloser, mehr der Vater als sein glänzender Bruder. Vielleicht kann sie sich in Max einen Sohn gewinnen. Und wenn nicht, nun gut, dann wird sie eben für sich allein leben. Aber sie wird anständig bleiben. Dann hat sie eben das im Leben erreicht, dass sie anständig geblieben ist. Gleich morgen wird sie horchen, wie man es anfängt, aus der Partei herauszukommen, ohne dass die sie ins KZ stecken. Es wird schwer fallen, aber vielleicht schafft sie es. Und wenn es eben gar nicht anders sein kann, geht sie ins KZ. Das ist dann gewissermaßen ein klein bisschen Sühne für das, was Karlemann getan hat.

Sie zerknüllt den angefangenen, verweinten Brief an den Älteren. Sie legt ein neues Briefblatt hin und beginnt zu schreiben:

»Lieber Sohn Max!

Ich will Dir wieder mal ein Brieflein schreiben. Mir geht es noch gut, was ich auch von Dir hoffe. Vater war eben hier, aber ich habe ihm die Tür gewiesen, er wollte doch nur von mir ziehen. Auch von Deinem Bruder Karl habe ich mich losgesagt, wegen der Scheußlichkeiten, die er begangen hat. Jetzt bist Du mein einziger Sohn. Ich bitte Dich, bleibe immer anständig. Ich will auch alles tun, was ich für Dich kann. Schreibe mir bald auch einmal ein Brieflein. Es grüßt und küsst Dich

Deine Mutter.«

6. Otto Quangel gibt sein Amt auf

Die mit etwa achtzig Arbeitern und Arbeiterinnen besetzte Werkstatt der Möbelfabrik, der Otto Quangel als Werkmeister vorstand, hatte bis zum Kriegsausbruch nur Einzelmöbel nach Zeichnungen hergestellt, während die Fabrik sonst in allen ihren anderen Abteilungen nur Massenmöbel anfertigte. Mit dem Kriegsbeginn war der ganze Betrieb auf die Herstellung von Heeresgut umgestellt worden, und der Quangel’schen Werkstatt war dabei die Aufgabe zugefallen, gewisse, sehr schwere und große Kisten herzustellen, von denen behauptet wurde, sie dienten zum Transport schwerer Bomben.

Was Otto Quangel anging, so war es ihm ganz egal, wozu die Kisten dienten; er fand diese neue, geistlose Arbeit seiner unwürdig und verächtlich. Er war ein richtiger Kunsttischler gewesen, den die Maserung eines Holzes, die Anfertigung eines schön geschnitzten Schrankes mit einem Gefühl tiefer Befriedigung erfüllen konnte. Er hatte bei solcher Arbeit so viel Glück empfunden, wie ein Mensch seiner kühlen Veranlagung nur empfinden kann. Jetzt war er zu einem bloßen Antreiber und Aufpasser hinabgesunken, der nur noch darauf zu achten hatte, dass seine Werkstatt ihr Soll und möglichst mehr als dieses Soll erfüllte. Seiner Art nach hatte er aber nie ein Wort über diese Gefühle verloren, und sein scharfes, vogelhaftes Gesicht hatte nie etwas von der Verachtung, die er für diese erbärmliche Fichtenholzarbeit empfand, verraten. Hätte ihn jemand genauer beobachtet, so hätte er bemerkt, dass der wenig redende Quangel nun überhaupt nichts mehr sprach und dass er unter diesem Zutreibersystem eher geneigt war, die Sieben grade sein zu lassen.

Aber wer sollte auf einen so trockenen, unausgiebigen Mann wie Otto Quangel groß achten? Er schien zeit seines Lebens nur ein Arbeitstier gewesen zu sein, ohne irgendein anderes Interesse als das für die Arbeit, die er zu verrichten hatte. Er hatte nie einen Freund hier besessen, nie zu jemandem ein freundliches Wort gesprochen. Arbeit, nur Arbeit, ganz gleich, ob Menschen oder Maschinen, wenn sie nur ihre Arbeit taten!

Dabei war er nicht einmal unbeliebt, trotzdem er die Aufsicht über die Werkstatt hatte und zur Arbeit antreiben musste. Aber er schimpfte nie, und er schwärzte nie jemanden bei den Herren vorne an. Schien ihm irgendwo die Arbeit nicht richtig voranzugehen, so ging er dorthin und beseitigte wortlos mit seinen geschickten Händen das Arbeitshindernis. Oder er stellte sich zu ein paar Schwätzern und blieb, die dunklen Augen fast blicklos auf die Sprechenden geheftet, so lange bei ihnen stehen, bis ihnen die Lust zum Weiterreden vergangen war. Ständig verbreitete er ein Gefühl von Kühle um sich. In den kurzen Ruhepausen suchten die Arbeiter möglichst entfernt von ihm zu sitzen, und so genoss er eine ihm ganz selbstverständlich gezollte Achtung, die ein anderer mit noch so viel Reden und Anfeuern sich nicht verschafft hätte.

Auf der Fabrikleitung wussten sie auch wohl, was sie an Otto Quangel hatten. Seine Werkstatt erzielte stets die höchsten Leistungen, es gab nie Schwierigkeiten mit den Leuten, und Quangel war willig. Er wäre längst aufgerückt, wenn er sich hätte entschließen können, in die Partei einzutreten. Aber das lehnte er stets ab. »Für so was habe ich kein Geld übrig«, sagte er dann wohl. »Ich brauch jede Mark. Ich muss ’ne Familie ernähren.«

Man grinste im Geheimen über das, was man seinen schmutzigen Geiz nannte. Dieser Quangel schien ja innerlich über jeden Groschen, den er zu einer Sammlung spenden musste, vor Leid zu vergehen. Er bedachte gar nicht, dass er durch den Eintritt in die Partei viel mehr an Gehaltszulage gewann, als er durch den Parteibeitrag verlor. Aber dieser tüchtige Werkmeister war eben politisch ein hoffnungsloser Idiot, und so hatte man denn auch keine Bedenken, ihn in dieser kleinen leitenden Stellung zu belassen, obwohl er kein Parteimitglied war.

In Wahrheit war es nicht der Geiz Otto Quangels, der ihn von einem Eintritt in die Partei abhielt. Gewiss, er war in Gelddingen sehr genau und konnte sich über einen unüberlegt ausgegebenen Groschen noch wochenlang hinterher ärgern. Aber eben, weil er bei sich genau war, war er es auch bei anderen, und diese Partei schien alles andere als genau bei der Durchführung ihrer Grundsätze zu sein. Was er bei der Erziehung seines Sohnes durch Schule und Hitlerjugend erlebt, was er von Anna gehört hatte, wie er selbst erlebt hatte, dass alle gut bezahlten Posten in der Fabrik mit Parteigenossen besetzt wurden, denen die tüchtigsten Nichtparteigenossen stets zu weichen hatten – das alles bestärkte ihn in seiner Überzeugung, dass die Partei nicht genau, das heißt nicht gerecht war, und mit einer solchen Sache wollte er nichts zu tun haben.

Darum hatte ihn ja auch Annas Ruf ›Du und dein Führer‹ am Morgen so sehr gekränkt. Gewiss, er hatte bisher an den ehrlichen Willen des Führers, an seine Größe und seine guten Absichten geglaubt. Man brauchte nur alle diese Schmeißfliegen und Speckjäger, denen es nur um Geldscheffeln und Lebeschön ging, aus seiner Umgebung zu entfernen, und alles wurde besser. Aber bis es so weit war, machte er nicht mit, er nicht, und das wusste Anna, die Einzige, mit der er wirklich mal ein Wort sprach, auch ganz gut. Nun schön, sie hatte es in ihrer ersten Aufregung gesagt, er würde es mit der Zeit schon vergessen, er konnte ihr nie was nachtragen.

Was es freilich mit dem Führer und mit diesem Kriege auf sich hatte, das musste er sich erst noch genau überlegen. All so etwas ging nur langsam bei ihm. Andere waren von überraschenden Erlebnissen sofort beeindruckt, sie redeten los oder schrien und taten irgendetwas, bei ihm wirkte es lange, lange.

Wie er da so mitten im Sausen und Kreischen seiner Werkstatt steht, den Kopf etwas erhoben und den Blick langsam von der Dicktenhobelmaschine zu der Bandsäge, zu den Naglern, Bohrern, Bretterträgern wandern lässt, merkt er, wie diese Nachricht von Ottos Tod und ganz besonders Annas und Trudels Verhalten immer weiter in ihm wirken. Er denkt nicht eigentlich darüber nach, er weiß vielmehr genau, dass dieser Liederlich, dieser Tischler Dollfuß,13 schon vor sieben Minuten die Werkstatt verlassen hat und dass die Arbeit in seiner Reihe darum stockt, weil er auf dem Abtritt wieder mal eine Zigarette rauchen muss oder weil er dort Reden schwingt. Er gibt ihm noch drei Minuten, dann holt er ihn rein, er selber!

Und während sein Auge nun zu dem Zeiger der Wanduhr gleitet und feststellt, dass Dollfuß tatsächlich in drei Minuten zehn Minuten geschwänzt haben wird, fällt ihm nicht nur dieses hassenswerte Plakat über Trudels Kopf ein, denkt er nicht nur darüber nach, was das eigentlich genau ist: Landes- und Hochverrat und wo man so was wohl erfährt, sondern er denkt auch daran, dass er einen vom Pförtner ihm übergebenen Brief in der Jackentasche trägt, durch den der Werkmeister Quangel kurz und knapp aufgefordert wird, pünktlich fünf Uhr in der Beamtenkantine zu erscheinen.

Nicht, dass dieser Brief ihn irgendwie aufregt oder stört. Er hat früher, als die Möbelherstellung noch im Gange war, oft auf die Fabrikleitung gemusst, um die Herstellung eines Möbelstückes zu besprechen. Beamtenkantine ist etwas Neues, aber das ist ihm gleich, bis fünf Uhr sind es aber nur noch sechs Minuten, und bis dahin möchte er den Tischler Dollfuß gerne an seiner Säge haben. So geht er eine Minute früher, als er beabsichtigt hat, los, um den Dollfuß zu suchen.

Aber er findet ihn weder auf den Abtritten noch auf den Gängen, noch in den anliegenden Werkstätten, und als er in die eigene Werkstatt zurückkehrt, zeigt die Uhr eine Minute vor fünf Uhr, und es wird höchste Zeit für ihn, wenn er nicht unpünktlich sein will. Er klopft sich schnell den gröbsten Sägestaub von der Jacke und geht dann eilig hinüber in das Verwaltungsgebäude, in dessen Erdgeschoss sich die Beamtenkantine befindet.

Sie ist ersichtlich für einen Vortrag vorbereitet, eine Rednertribüne ist errichtet, ein langer Tisch für die Vorsitzenden, und der ganze Saal ist mit Stuhlreihen ausgefüllt. Er kennt das alles von den Versammlungen der Arbeitsfront, an denen er oft hat teilnehmen müssen, nur dass diese Versammlungen stets drüben in der Werkkantine stattfanden. Der einzige Unterschied ist der, dass dort rohe Holzbänke standen statt der Rohrstühle hier, und dann saßen die meisten dort wie er in Arbeitskluft, während es hier mehr braune und auch graue Uniformen gibt, die Beamten in Zivil verschwinden dazwischen.

Quangel hat sich auf einen Stuhl ganz nahe an der Tür gesetzt, um beim Schluss der Rede möglichst rasch wieder in seine Werkstatt zu kommen. Der Saal ist schon ziemlich gefüllt, als Quangel gekommen ist, zum Teil sitzen die Herren schon auf den Stühlen, ein anderer Teil steht noch auf den Gängen und an der Wand in Grüppchen, sie reden miteinander.

Sie alle aber, die hier versammelt sind, tragen das Hakenkreuz. Quangel scheint der Einzige ohne das Parteiabzeichen zu sein (von den Wehrmachtsuniformen natürlich abgesehen, aber die tragen dafür das Hoheitszeichen). Es ist wohl ein Irrtum, dass sie ihn hierher eingeladen haben. Quangel wendet den Kopf aufmerksam hin und her. Ein paar Gesichter kennt er. Der dicke Bleiche dort, der schon am Vorstandstisch sitzt, das ist der Herr Generaldirektor Schröder, den kennt er vom Sehen. Und der kleine Spitznasige mit dem Klemmer, das ist der Herr Kassierer, von dem er jeden Sonnabend seine Lohntüte in Empfang nimmt und mit dem er sich schon ein paarmal wegen der hohen Abzüge kräftig gestritten hat. Komisch, wenn der an seiner Kasse steht, hat er nie das Parteiabzeichen getragen!, denkt Quangel flüchtig.

Aber die meisten Gesichter, die er sieht, sind ihm völlig unbekannt, es sind wohl fast nur Herren aus den Büros, die hier sitzen. Plötzlich wird Quangels Blick scharf und stechend, in einer Gruppe hat er den Mann entdeckt, den er vorhin vergeblich auf dem Abtritt gesucht hat, den Tischler Dollfuß. Aber der Tischler Dollfuß trägt jetzt keine Arbeitskluft, er trägt einen feinen Sonntagsanzug und redet mit den zwei Herren in Parteiuniform ganz so, als seien sie seinesgleichen. Und jetzt trägt auch der Tischler Dollfuß ein Hakenkreuz, dieser Mann, der ihm schon ein paarmal in der Werkstatt durch sein leichtsinniges Gerede aufgefallen ist! So ist das also!, denkt Quangel. Das ist also ein richtiger Spitzel. Womöglich ist der Mann gar kein richtiger Tischler und heißt auch nicht Dollfuß. War Dollfuß nicht ein Kanzler in Österreich, den sie ermordet haben? Alles Schiebung – und ich habe nie was gemerkt, ich dummes Aas!

Und er fängt an, darüber nachzugrübeln, ob der Dollfuß schon in seiner Werkstatt war, als der Ladendorf und der Tritsch abgelöst wurden und alle munkelten, sie seien ins KZ gewandert.

Quangels Haltung hat sich gestrafft. Achtung!, hat es in ihm gesagt. Und: Hier sitz ich ja wie unter Mördern! Später denkt er: Ich werde mich auch von diesen Brüdern nicht kriegen lassen. Ich bin eben nur ein oller, dussliger Werkmeister, ich versteh von nischt was. Aber mitmachen, nee, das tu ich nicht. Ich hab’s heute früh gesehen, wie es die Anna gepackt hat und danach die Trudel; ich mach bei so was nicht mit. Ich will nicht, dass eine Mutter oder Braut durch mich so hingerichtet wird. Die sollen mich rauslassen aus ihren Sachen …

So denkt er. Unterdes hat sich der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt. Der Vorstandstisch ist eng von braunen Uniformen und schwarzen Röcken besetzt, und auf dem Rednerpult steht jetzt ein Major oder Oberst (Quangel hat es nie gelernt, Uniformen und Rangabzeichen auseinanderzuhalten) und spricht von der Kriegslage.

Natürlich ist die großartig, der Sieg über Frankreich wird gebührend gefeiert, und es kann nur eine Frage von wenigen Wochen sein, dass auch England am Boden liegt. Dann kommt der Redner allmählich dem Punkte näher, der ihm am Herzen liegt: wenn nämlich die Front so große Erfolge erzielt, so wird erwartet, dass auch die Heimat ihre Pflicht tut. Was nun folgt, das klingt beinahe so, als komme der Herr Major (oder Oberst oder Hauptmann) direkt aus dem Hauptquartier, um der Belegschaft der Möbelfabrik Krause & Co. vom Führer zu sagen, dass sie unbedingt ihre Leistungen steigern müsse. Der Führer erwartet, dass die Fabrik in drei Monaten ihre Leistung um fünfzig Prozent, in einem halben Jahr aber aufs Doppelte gesteigert hat. Vorschläge, um dieses Ziel zu erreichen, werden aus der Versammlung gerne entgegengenommen. Wer aber nicht mitmacht, ist als Saboteur zu betrachten und entsprechend zu behandeln.

Während der Redner noch ein »Siegheil« auf den Führer ausbringt, denkt Otto Quangel: Dumm sind die, dumm wie Schifferscheiße! England liegt in ein paar Wochen am Boden, der Krieg ist alle, und wir steigern in einem halben Jahre unsere Kriegsproduktion um hundert Prozent! Wer denen bloß so was abnimmt?

Aber er schreit brav sein »Siegheil« mit, setzt sich wieder und blickt dann auf den nächsten Redner, der in brauner Uniform das Pult betritt, die Brust dick mit Medaillen, Orden und Abzeichen geschmückt. Dieser Parteiredner ist eine ganz andere Sorte Mann als sein militärischer Vorredner. Von allem Anfang an spricht er scharf und zackig von dem Ungeist, der immer noch in den Betrieben umgeht, trotz der herrlichen Erfolge des Führers und der Wehrmacht. Er redet so scharf und zackig, dass er nur brüllt, und er nimmt kein Blatt vor den Mund, als er von den Miesmachern und Meckerern spricht. Jetzt soll und wird der letzte Rest von ihnen ausgetilgt werden, Schlitten wird man mit ihnen fahren, man wird ihnen was über die Schnauze geben, dass sie nie wieder die Zähne auseinanderkriegen! Suum cuique, das hat auf den Koppelschlössern gestanden im Ersten Weltkrieg, und: Jedem das Seine, das steht jetzt über den Toren der Konzertlager! Da wird denen was beigebracht, und wer dafür sorgt, dass so ’n Kerl oder so ’n Weib reinkommt, der hat was geleistet für das deutsche Volk, und der ist ein Mann des Führers.

»Euch aber alle hier, die ihr hier sitzt«, brüllt der Redner zum Schluss, »ihr Werkstättenleiter, Abteilungsvorsteher, Direktoren – euch mache ich persönlich dafür haftbar, dass euer Betrieb sauber ist! Und Sauberkeit, das ist nationalsozialistisches Denken! Nur das! Wer da schlappschwänzig ist und weichmäulig und wer nicht alles anzeigt, auch die geringste Kleinigkeit, der fliegt selber ins KZ. Dafür stehe ich euch persönlich, ob ihr nun Direktor seid oder Werkmeister, ich bring euch zurecht, und wenn ich euch die Schlappheit mit den Stiebeln aus dem Leibe treten soll!«

Der Redner steht noch einen Augenblick da, er hat seine Hände wutverkrampft erhoben, er ist blaurot im Gesicht. In der Versammlung ist es nach diesem Ausbruch totenstill geworden, sie machen alle ziemlich bekniffene Gesichter, sie, die so plötzlich und unverhüllt zu Spitzeln ihrer Kameraden gemacht wurden. Dann stampft der Redner mit schweren Schritten von seinem Pult hinunter, wobei die Abzeichen auf seiner Brust leise klingeln, und nun erhebt sich der blasse Generaldirektor Schröder und fragt mit sanfter, leiser Stimme, ob etwa Wortmeldungen vorlägen.

Ein Aufatmen geht durch die Versammlung, ein Zurechtrücken – als wäre ein böser Traum ausgeträumt, und der Tag komme wieder zu seinem Recht. Es scheint niemand zu sein, der jetzt noch sprechen will, alle haben sie wohl den Wunsch, möglichst bald diesen Saal zu verlassen, und der Generaldirektor will eben die Versammlung mit einem »Heil Hitler« schließen, da steht plötzlich im Hintergrund ein Mann in blauer Arbeitsbluse auf und sagt, was die Leistungssteigerung in seiner Werkstatt angehe, so sei das ganz einfach. Man müsse nur noch die und die Maschinen aufstellen, er zählt sie auf und erklärt, wie sie aufgestellt werden müssen. Ja, und dann müsse man noch sechs oder acht Leute aus seiner Werkstatt raussetzen, Bummelanten und Nichtskönner. Dann schaffe er das mit den hundert Prozent schon in einem Vierteljahr.

Quangel steht kühl und gelassen da, er hat den Kampf aufgenommen. Er fühlt, wie sie ihn alle anstarren, diesen einfachen Arbeiter, der so gar nicht zwischen diese feinen Herren gehört. Aber er hat sich nie was aus den Menschen gemacht, ihm ist es egal, ob sie ihn anstarren. Jetzt, wo er ausgeredet hat, stecken sie am Vorstandstisch die Köpfe über ihn zusammen. Die Redner erkundigen sich, wer das wohl ist, dieser Mann in der blauen Bluse. Dann steht der Major oder Oberst auf und sagt Quangel, die technische Leitung werde sich mit ihm wegen der Maschinen besprechen, aber wie er das meine mit den sechs oder acht Leuten, die aus seiner Werkstatt raus sollten?

Langsam und hartnäckig antwortet Quangel: »Ja, manche können eben nicht so arbeiten, und manche wollen es nicht. Da sitzt gleich einer von denen!« Und er zeigt mit dem großen, starren Zeigefinger ganz unverhohlen auf den Tischler Dollfuß, der einige Reihen vor ihm sitzt.

Jetzt platzen einige mit Lachen heraus, und zu den Lachern gehört auch der Tischler Dollfuß, der den Kopf nach ihm umgedreht hat und ihn anlacht.

Aber Quangel sagt kalt und ohne eine Miene zu verziehen: »Ja, leichtsinnig reden, Zigaretten auf dem Abtritt rauchen und die Arbeit versäumen, das kannst du, Dollfuß!«

Am Vorstandstisch haben sie wieder die Köpfe über diesen verdrehten Kauz zusammengesteckt. Aber jetzt hält nichts mehr den braunen Redner, er springt auf und schreit: »Du bist nicht in der Partei – warum bist du nicht in der Partei?«

Und Quangel antwortet, was er immer auf diese Frage geantwortet hat: »Weil ich jeden Groschen brauche, weil ich Familie habe, darum kann ich mir das nicht leisten!«

Der Braune brüllt: »Weil du ein geiziger Hund bist! Weil du nichts über hast für deinen Führer und dein Volk! Wie groß ist denn deine Familie?«

Und kalt antwortet ihm Quangel ins Gesicht hinein: »Von meiner Familie reden Sie mir heut nicht, lieber Mann! Ich habe gerade heute die Nachricht bekommen, dass mir mein Sohn gefallen ist!«

Einen Augenblick ist es totenstill im Saal, über die Stuhlreihen weg starren sich der braune Bonze und der alte Werkmeister an. Dann setzt sich Otto Quangel plötzlich, als sei nun alles erledigt, und ein wenig später setzt sich auch der Braune. Wieder erhebt sich der Generaldirektor Schröder und bringt nun das »Siegheil!« auf den Führer aus: Es klingt etwas dünn. Dann ist die Versammlung geschlossen.

Fünf Minuten später steht Quangel wieder in seiner Werkstatt; mit etwas erhobenem Kopf lässt er langsam den Blick von der Dicktenhobelmaschine zu der Bandsäge wandern, von da weiter zu den Naglern, den Bohrern, den Bretterträgern … Aber es ist der alte Quangel nicht mehr, der dort steht. Er fühlt es, er weiß es, er hat sie alle überlistet. Vielleicht auf eine hässliche Weise überlistet, indem er aus dem Tode des Sohnes Kapital schlug, aber soll man zu solchen Biestern anständig sein? Nee!, sagt er fast laut zu sich. Nee, Quangel, der alte wirst du nie wieder. Ich bin doch mal neugierig, was Anna zu dem allen sagt. Ob der Dollfuß gar nicht wieder auf seinen Arbeitsplatz kommt? Dann muss ich heute noch einen anderen anfordern. Wir sind im Rückstand …

13.Engelbert Dollfuß war ein österreichischer Politiker. Er fungierte von 1931 bis 1933 als Landwirtschaftsminister und von 1932 bis 1934 als Bundeskanzler, ab 5. März 1933 diktatorisch regierend.
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