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FABIAN VOGT (Hrsg.)
Geheimakte Luther
Auf Entdeckungsreise zum Reformator
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 9783865067012
© 2014 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers
Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers
Titelmotiv: fotolia
Satz: Brendow Web & Print, Moers
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Pressemeldung
Fabian Vogt
Engelsburg
Die Zeugen
Albrecht Gralle
Conradus Overbeck
Eleonore Dehnerdt
Katharina von Bora
Fabian Vogt
Karl V.
Annekatrin Warnke
Eine Magd von der Wartburg
Eckart zur Nieden
Johann der Beständige
Martin Buchholz
Der Jude
Ingo Schütz
Hieronymus Weller
Storch
Philipp Melanchthon
Nicolas Koch
Egbert Prehm
Bodo Mario Woltiri
Lucas Cranach
Conny Ruß
Luthers Kusine
Christoph Zehendner
Die Tetzelin
Die Künstlergemeinschaft „Das Rad“
Anmerkungen
dpa
Pressemeldung
23. Mai 2014
„Luther-Akte“ entdeckt
Landesdenkmalamt bestätigt Sensationsfund
Die am Mittwoch bei Restaurierungsarbeiten im historischen Gasthaus „Zum Löwen“ (15. Jh.) in Gelnhausen entdeckte mittelalterliche Gürteltasche aus Leder enthält, wie von Fachleuten vermutet, tatsächlich wertvolle Dokumente aus der Reformationszeit. Dies bestätigte Professor Dr. Gerd Weiß, der Präsident des „Landesamtes für Denkmalpflege Hessen“, gestern bei einer Pressekonferenz in Wiesbaden.
Erste Untersuchungen der mit Bandzugfeder und Eisengallustinte geschriebenen Texte hätten ergeben, dass sie vermutlich im Jahr 1527 verfasst worden seien und sich intensiv mit dem Leben und Wirken des Reformators Martin Luther befassten. Offensichtlich wurden auf den handgeschöpften Papierbögen von verschiedenen Schreibern Zeugenaussagen festgehalten.
Gerd Weiß betonte, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch zu früh sei, Genaueres über die Hintergründe der Dokumente zu verkünden. Möglicherweise handle es sich aber um Protokolle von Gesprächen mit Zeitgenossen des großen Wittenberger Theologen. Sollte sich dies bestätigen, dann müsse hier von einem „Jahrhundertfund, ja von einem Jahrtausendfund“ gesprochen werden. Denn: „Authentische Augenzeugenberichte aus der Lutherzeit – und das so kurz vor dem Reformationsjubiläum –, so etwas kann man nur als Sternstunde der Geschichtsschreibung bezeichnen.“
Mitarbeiter eines Heizungsbaubetriebs hatten zwei Tage zuvor beim Ausstemmen einer Wand im Keller der historischen Gelnhausener Lokalität einen versiegelten Hohlraum entdeckt, in dem die Papiere wegen der trockenen Luft, so Weiß, „in erstaunlich gutem Zustand“ konserviert worden seien. Da Gelnhausen schon im Mittelalter an einer viel genutzten Handelsstraße lag, scheint es durchaus möglich, dass ein durchziehender Reisender die Tasche dort verborgen hat. Kurioserweise war das Gasthaus „Zum Löwen“ schon mehrfach Schauplatz bedeutender Ereignisse. So soll dort auch Georg Sabellicus, der als Dr. Faust berühmt wurde, mehrfach logiert haben.
Gerd Weiß kündigte auf der Pressekonferenz zugleich an, dass das Landesamt in Zusammenarbeit mit verschiedenen universitären Fachbereichen der Auswertung der gefundenen Quellen höchste Priorität einräume. Schließlich müssten die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus einer derart ungewöhnlichen Entdeckung der Öffentlichkeit möglichst bald zugänglich gemacht werden. Es könne durchaus sein, dass das Lutherbild der Forschung an manchen Stellen völlig überarbeitet werden müsse.
Vorher aber gehe es darum, die Echtheit der Papiere zu prüfen, fügte der Präsident in heiterem Tonfall hinzu. Schließlich wolle man als Historiker auf keinen Fall noch einmal ein Desaster wie damals mit den gefälschten „Hitler-Tagebüchern“ erleben. Spätestens im Herbst würden dann, wenn das umfangreiche Material wissenschaftlich verifiziert und ausgewertet sei, erste Publikationen erscheinen, im kommenden Jahr auch eine ausführliche, kommentierte Edition.
mkv.
Fabian Vogt
Engelsburg
Der Papst war unrasiert. Ein Drei- … nein, eher ein Fünftagebart umgab sein scharfes Kinn mit einem dunklen Schatten und verlieh seinem Gesicht etwas unerwartet Aufrührerisches.
Clemens VII. hatte im Zorn vor Gott und seinen Anhängern geschworen, seinen Bart wachsen zu lassen, bis die jüngst erlittene Schmach, diese unfassbare Demütigung der Heiligen Stadt, getilgt wäre.
Sebastiano schaute fasziniert auf die mit Grau durchsetzten Stoppeln am Kinn des Kirchenoberhauptes, das in einem beinah alltäglichen Gewand auf einem Holzstuhl saß und ihn anstarrte.
Lange.
Dann erst begriff der Besucher.
Er warf sich auf den Boden und murmelte: „Heiliger Vater!“
Clemens VII. deutete mit der linken Hand an, dass der Gast sich wieder erheben könne. Seine Stimme klang hoch und schrill – und sie hallte in den zugigen Mauern der Engelsburg wider.
„Was habt Ihr da an?“
Sebastiano schaute an sich herunter, obwohl er sehr wohl wusste, was er trug. Leise, mit dem Anflug eines Lächelns, antwortete er: „Das ist die raue Uniform der Condottieri, Eure Heiligkeit. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich es wage, in diesem despektierlichen Aufzug vor Euch zu treten, aber es schien mir die sicherste Möglichkeit, überhaupt zu Euch zu gelangen. Euer Rückzugsort ist von allen Seiten belagert, wie Ihr wisst, und nur im Gewand Eurer Feinde kam ich unerkannt durch die Stadt. Und Dank Eures tapferen Camerlengo, der mich an einer verborgenen Pforte in der Nähe des Tibers erwartete … “
Der Papst unterbrach ihn rüde. „Sagt mir Euren Namen.“
Der Besucher deutete eine Verbeugung an. „Ich bin immer der, den meine Auftraggeber brauchen. Der eine kennt mich als Magister Bolemius, der andere als Pater Dionigi, ein Dritter als Kaufmann Fabrizio und mancher sogar als Schwester Madelina, wenn es … nun, wenn es die Umstände erfordern. Aber nennt mich doch bitte Sebastiano, Heiliger Vater.“
Wieder flog ein Lächeln über seine scharf konturierten Lippen.
„Hört auf, so dämlich zu grinsen“, reagierte Clemens sofort. „Die Situation ist wahrlich ernst genug.“ Er richtete sich auf. „Habt Ihr auf Eurem Weg zu uns das Werk dieser Irren gesehen? Habt Ihr gesehen, was sie da draußen angerichtet haben?“ Er machte eine große Bewegung mit seinem Arm in Richtung Stadt.
Sebastiano nickte. Getroffen. „Verzeiht, Heiliger Vater, meine unziemlichen Grimassen. Tatsächlich gleicht Rom zurzeit einem einzigen Schlachtfeld, es ist ein Schreckensszenario, eine widerwärtige Brutstätte der Grausamkeiten, ein monströses Abbild des Purgatoriums.
Ja, ich habe das tausendfache Leid und das Elend vor Euren Toren gesehen. Es ist, als stöhne die ganze Stadt unter einem tiefen, beißenden Schmerz wegen des erlittenen Unheils. Und nicht nur das. Das abstoßende Treiben geht weiter. Denn noch immer rennen marodierende Massen durch die Straßen. Haltlos. Gierig. Und mörderisch.“ Er schluckte. Es sah aus, als zögen die verstörenden Bilder noch einmal vor seinem inneren Auge vorbei.
Leise sagte der Besucher: „Ich sah, wie eine Horde Männer auf offener Straße einer jungen Magd Gewalt antat. Wie Tiere.
Ich sah, wie Soldaten aus den Kirchen kostbaren Altarschmuck heraustrugen und zerschlugen, um ihn unter sich aufzuteilen.
Ich sah, wie ein Krankenhaus in Brand gesteckt wurde und die Siechen brennend durch die Gassen taumelten.
Und ich sah, wie Landsknechte einen Priester entkleideten und ihn zwangen, die Exkremente eines Hundes zu essen und dabei zu rufen ‚Christi Leib‘.
Das alles geschah … und es geschieht zwischen den geschundenen und ausgeraubten Toten der Schlacht, die niemand bestattet und die schon jetzt bestialisch stinken.“
Clemens war aufgesprungen. Mit einem wütenden Seufzer. „Sacco di Roma – die Plünderung Roms. So nennen sie das unmenschliche Gemetzel schon jetzt. Dabei klingt diese Bezeichnung noch wie eine Verharmlosung. Niemand, nicht einmal die üblen Vandalen, haben jemals so gehaust, wie es die unzivilisierten Barbaren Karls gerade auf den Plätzen wenige hundert Meter entfernt von hier tun. Verflucht seien sie alle.“
Sebastiano hob den Kopf. „Ich glaube nicht, dass der Kaiser dieses animalische Verhalten seiner Truppen billigt.“
Der Papst lachte höhnisch auf. „Ach! Sagt mir: Was ist das für ein schwächlicher, verachtenswerter Herrscher, der seine Untertanen so wenig im Griff hat? Der offensichtlich überhaupt nichts im Griff hat. Schaut: Erst verwehrt Karl seinen Soldaten monatelang den Sold. Dieser Trottel. Aber nicht nur das: Er lässt 24.000 Mann, ja, ganze 24.000 Mann, untätig in Oberitalien warten, dahinvegetieren – und wundert sich dann, dass diese Burschen aus lauter Frustration anfangen zu plündern. Hat ihn denn niemand gelehrt, wie man ein Heer führt?“
Der Gast machte einen vorsichtigen Schritt auf Clemens zu. „Es heißt: Georg von Frundsberg, der Befehlshaber der Truppen, wollte die Aufrührer im Heer zur Ordnung rufen, doch er erlitt dabei einen Schlaganfall. Und sein Nachfolger, Charles III., der Herzog von Bourbon, wurde beim Sturm auf Rom durch den Schuss aus einer Hakenbüchse getroffen.
Das aber bedeutet: Jetzt gibt es innerhalb der Truppen keinen Mann von Rang mehr, der in der eroberten Stadt für Recht und Ordnung sorgen könnte. Die Soldaten sind ohne Führung. Quasi haltlos. Mir scheint: Durch diese Freiheit kommen die dunkelsten Seiten in den Männern hervor.“
Leise fügte er hinzu: „Gott sei gedankt, dass es Euch, Heiliger Vater, noch gelungen ist, über den Corridoio di Borgo in die Engelsburg zu fliehen. Ich wage nicht, mir vorzustellen, was sie Euch in ihrem Wahn hätten antun können … “
„Das wage ich auch nicht. Und genau deshalb habe ich Euch hierher rufen lassen.“ Clemens presste die Worte mehr hervor, als dass er sprach.
„Genau deshalb. Ihr bringt es nämlich auf den Punkt. Diese ungezügelten Rotten würden nicht einmal davor zurückschrecken, ihre dreckigen Finger gegen den Papst zu erheben. Sie haben jegliche Scham und jegliche Achtung verloren. Und warum?“
Er schaute Sebastiano fragend an. „Weil dieser infernalische Raubzug da draußen anders ist als alles, was die ehrwürdige Stadt Rom je erlebt hat. Ein Massaker. Weil die deutschen Landsknechte keine Ehrfurcht mehr kennen. Wie Ihr richtig beobachtet habt. Sie sind völlig enthemmt. Ja, sie ergötzen sich daran, die heiligsten Dinge zu entweihen. Sie haben den Respekt vor der Kirche und vor Gott verloren. Diese elenden Hunde … und wisst Ihr, wer daran schuld ist? Wer? Muss ich es Euch sagen?“
Der Papst zog die Nase hoch, als wolle er gleich ausspucken. Dann warf er den Namen voller Verachtung in den Raum: „Luther. Martin Luther. Hört Ihr? Dieser vermaledeite Mönch ist allein dafür verantwortlich, dass die Menschen das Heilige neuerdings verspotten und mit Füßen treten. Dass sie Gott und seine Vertreter auf Erden nicht mehr mit dem nötigen Respekt behandeln. Dass sie schamlos die Reliquien der Heiligen zerstören.“
Clemens trat an eine der Fensteröffnungen. Alle Muskeln angespannt. Angefüllt mit Hass. „90 Prozent der Kunstschätze Roms wurden in den letzten vier Tagen zerstört. Könnt Ihr Euch das vorstellen? 10 Millionen Dukaten zerstört, schätzt der für Finanzen zuständige Kardinal. 10 Millionen Dukaten. Aus Bosheit vernichtet. In völliger geistiger Umnebelung.
Und wisst Ihr, was die Plünderer in die Fresken Raffaels geritzt haben, in diese edelsten aller Kunstwerke? In das Fresko der Disputa in der Stanza della Segnatura haben sie zum Beispiel geschrieben: ‚Es lebe König Karl. Luther.‘
Und in der Villa von Agostino Chilli, dem Haus meines Bankiers, haben sie auf die Wand geschmiert: ‚Was soll ich schreiben und nit lachen, die Landsknechte haben den Papst laufen machen.‘“
Clemens drehte sich mit einem Ruck wieder zu seinem Gast. „Glaubt mir, kein wahrer Katholik würde sich jemals so vermaledeit verhalten, wie es die irregeleiteten Lutherischen gerade tun. Nein, kein Katholik, und sei er auch noch so empört darüber, dass ich mich mit der Liga von Congnac gegen Kaiser Karl gestellt habe. Dabei ging es nur um Politik, in diesem Kampf aber geht es um die wahre Demut Gott gegenüber.
Ich sage Euch: Was da draußen geschieht – diese Plünderungen, Vergewaltigungen und die mutwilligen Zerstörungen – das ist eine Schande für das menschliche Geschlecht und für den Glauben an Christus. Ich weiß es nur zu gut: Es sind die Lutherischen im Heer Karls, die meine kirchlichen Würdenträger öffentlich demütigen und die die geweihten und edlen Monstranzen wie einen alten Kochlöffel behandeln. Sie machen aus diesem grauenhaften Krieg eine … ja, eine Schande. Und darum … “
Er setzte sich wieder hin. Schwer atmend. „Darum habe ich entschieden, das Übel bei der Wurzel zu packen. Wir müssen diesen Luther, den ich – das gebe ich offen zu – lange unterschätzt habe, viel zu lange, in den Griff bekommen. Ihn lahmlegen. Und zwar ein für alle Mal. Er muss vernichtet werden. Versteht Ihr, was ich meine?“
Sebastiano neigte den Kopf zur Seite und räusperte sich kurz. Dann antwortete er: „Verzeiht, Heiliger Vater. Aber habt Ihr nicht schon durch die Exkommunikation dieses Mannes und durch die bei Karl erlangte Reichsacht, die ihn vogelfrei macht, alles getan, was in Eurer Macht stand?“
Der Papst ließ verächtlich seine Lippen ploppen. „Ihr unterschätzt offensichtlich die Mächte des Himmels, Sebastiano. Und die Macht des Papstes. Passt auf: Diesem Luther ist es gelungen, eine fixe, von wirren Vorstellungen durchdrungene Idee in die Köpfe der Menschen zu pflanzen. Und mit der Bannbulle und der Ächtung haben wir ihn nur zum Märtyrer gemacht. Leider.
Nein, wir müssen ihn, seine Person und damit indirekt seine Lehre, lächerlich machen. Wir müssen der ganzen Welt zeigen, dass er diese ach so theologischen Hirngespinste nur ersonnen hat, um seine allzu menschlichen Begierden zu befriedigen. Seine banalen Sehnsüchte. Seine … was weiß ich. Das sollt Ihr ja herausfinden. Findet etwas in seinem Leben, die Achillesferse des Dr. Luther … “
Seine Augen waren glasig geworden. Seine Brust hob sich vor Erregung. „Wie der vermeintliche Held Siegfried wird auch dieser deutsche Ketzer eine Stelle haben, an der man ihn verwunden kann. Eine Blöße. Und Ihr sollt sie mir offenbaren. Ich will alles über ihn wissen, einfach alles. Wann er Blähungen bekommt, wie man ihn in seiner Heimat wahrnimmt und warum er mit diesen Humanisten herumhängt. Ich will ihn endlich verstehen. Weil man seinen Gegner nur besiegen kann, wenn man ihn gut kennt. Also: Beschafft mir möglichst viele Informationen.“
Ganz sachlich fügte er hinzu: „Stimmt es, dass Ihr fließend Deutsch sprecht?“
Sebastiano nickte. „Mein Vater war Italiener, meine Mutter Deutsche. Sie lehrte mich schon in Kindertagen, ihre Sprache zu beherrschen.“
„Nun, wenn dem so ist und wenn es stimmt, was man über Eure Talente als … als Löser spezieller Probleme … berichtet, dann wird es Euch ein Leichtes sein, das Vertrauen von Luthers Gefährten zu gewinnen und sie auszuhorchen. Hakt nach, verbeißt Euch in sein Leben, zerrt die dunkelsten Gelüste dieses Mannes ans Licht! Befragt sein Gesinde, seine Freunde, seine Feinde und seine Verwandten. Wenn nötig, verstellt Euch, verkleidet Euch, bezirzt den Zeugen, oder droht ihm mit der Hölle … ganz egal … wenn es nur Ergebnisse bringt … und vor allem: Tut es schnell. In wenigen Wochen erwarte ich Euren Bericht … “
Er kniff die Augen zusammen.
„Wir müssen die Gunst der Stunde nutzen. Jetzt gerade stöhnen auch viele der Herrscher, die uns nicht wohlgesonnen sind, über die unfassbaren Gräuel, die in Rom geschehen. Und das kann uns in die Hände spielen.“ Er machte eine theatralische Pause. „Lasst uns schauen, ob wir nicht den Sacco di Roma noch in einen Triumph verwandeln können. Ob nicht aus dem Horror da draußen ein Sieg für die Kirche werden kann.“
Sebastiano senkte seine Stimme. Sanft bemerkte er: „Das wird einiges kosten, Heiliger Vater. Denn ich kann eine solche Aufgabe nicht alleine vollbringen. Ich werde weitere Agenten anwerben müssen, die mir zuarbeiten und ebenfalls Befragungen anstellen. Vermutlich bedarf es darüber hinaus immer wieder kleiner und größerer Bestechungsgelder. Schnelle Pferde werde ich brauchen … und noch vieles mehr … “
Der Papst hob die Hand. „Um all das wird sich mein Camerlengo kümmern. Und glaubt mir: Dieser Auftrag wird Euer Schade nicht sein. Ich fordere von Euch schließlich nicht weniger, als die Geschichte der Welt umzuschreiben. Möglicherweise wird dieses Jahr 1527 in die Historienbücher eingehen. Nun: Das hat seinen Preis. Dessen bin ich mir wohl bewusst.
Von euch will ich jetzt und hier nur eines wissen: Seid Ihr, wenn ich Euch als Gesandten nach Wittenberg schicke, einer solchen diffizilen Aufgabe gewachsen?“
Sebastiano musste nicht nachdenken. Gelassen antwortete er: „Ja, Heiliger Vater.“
Schon zwei Wochen später hatte der neue päpstliche Gesandte nach einem Eilritt die Dübener Heide vor den Toren Wittenbergs erreicht und dort innerhalb weniger Tage eine Gruppe von Männern zusammengestellt, die er auf bestimmte Zielpersonen ansetzte. Sie alle erhielten den Auftrag, ihre Gespräche schriftlich festzuhalten und sie in einem Monat in Gelnhausen im Kinzigtal im Gasthaus „Zum Löwen“ abzuliefern.
Die Zeugen
Albrecht Gralle
Conradus Overbeck
Es hält sich zur Verfügung: Conradus Overbeck, ein Mann mittlerer Größe, Gesicht durch Pockennarben leicht gezeichnet, ein Eckzahn und ein Vorderzahn fehlen, ansonsten guter Musicus, schlägt akurat die Laute, kann sowohl den Dudelsack spielen als auch den Contrabass und die Fiedel bedienen. Hauslehrer beim Kaufmann Schwertfeger zu Wittenberg, wo er auch dessen Kinder unter anderem in der Kunst der Musik unterrichtet. Overbeck ist verlobt mit der Jungfer Adelheid, Tochter des ansässigen Bäckermeisters Brandes. Der Zeuge war des Öfteren als Musicus bei einem Essen zugegen, bei dem auch der Luther geladen war, der in guter Manier Sprüche und Meinungen zu etlichen Dingen hat zum Besten gegeben, unter anderem auch, wie man als Christenmensch heut in der Messe Musik darbieten kann, damit es Gott und dem Volk gefalle. Berichtet werden soll, wie ich … wie er, der Gesandte des Papstes, ihn traf …
Der Agent schwitzte. Die Fenster der Kutsche waren eindeutig zu klein und ließen sich auch mit großer Anstrengung nicht öffnen, da der Holzrahmen durch Feuchtigkeit verzogen war. Ein Skandal, dass man ihm, dem päpstlichen Gesandten, ein so schäbiges Gefährt in dieser wichtigen Angelegenheit zugedacht hatte.
Aber er ließ sich davon nicht wirklich berühren. Schließlich ging es darum, diesem Dr. Lutter, dem Lügner, Prahlhans und Lästerer des Papstes, das theologische Handwerk zu legen.
„Er hat es zu weit getrieben, der Lutter“, murmelte er, zog das Schweißtuch aus seinem Ärmel und wischte sich über das Gesicht.
Lutter, der die Tradition für nichts erachtete und die Bibel dafür in den Himmel hob. Was sollte das? Das brachte nur ein teuflisches Ungleichgewicht in den erhabenen Dom der Kirche auf Erden. Jeder Mensch steht nun einmal auf zwei Beinen, und es war doch sonnenklar, dass die kirchliche Lehrautorität in der Person des Papstes und die Bibel gleichwertig nebeneinanderstehen müssen, um nicht umzufallen oder zu humpeln.
Aber nicht genug damit. Jetzt verwirrte der Lutter angeblich die Geistlichkeit und das Volk obendrein noch mehr, indem er die gute, lateinische Gottesdienstordnung umstieß, um stattdessen teutsche Lieder auf seiner Laute zu klimpern, wie man hörte! Wenn das stimmte!
Der Agent sah nach draußen in die reifen Felder, die langsam vorbeizogen. Auf der Gerste lag ein Glanz wie von grüner Seide. Und wenn der Wind über die Halme glitt, bewegte sich das Feld wie ein Gewand. Aber er übersah die Schönheit. Sein Kopf war voll mit Argumenten und Gegenargumenten.
Nach Meinung Lutters sollte nun nicht mehr das Kyrie und das Gloria gesungen werden, sondern die edlen Worte sollten auf Teutsch geplärrt werden. Er konnte es kaum glauben, aber das würde er heute feststellen, wenn er seinen Zeugen befragte.
Der Bote schüttelte den Kopf. „Teutsch! Plumpe, dumpfe Bauernsprache, die sich anhört, als ob man Holz spaltet!“
Dabei wusste doch jedes Kind, dass Gott in den Tagen des Babylonischen Turmes das Latein und vielleicht noch das Griechische erwählt hatte, um die Musik zu zieren. Eine Sprache wie geschaffen dazu, Gott in würdiger Weise anzubeten.
„‚Herr, erbarme dich!‘ Wie klingt denn das auf Teutsch? Oder: ‚Ehr sei Gott in der Höhe‘? Lächerlich. Da hört sich doch Gloria in excelsis Deo ganz anders an. Und außerdem …“
Er wurde unsanft aus seinen frommen Betrachtungen gerissen, als die Kutsche sich gefährlich zur Seite neigte und der Kopf des katholischen Gesandten unsanft gegen die rechte Holzwand schlug. Die Kutsche stand. Man hörte das Wiehern eines Pferdes und die Stimme des Kutschers: „Gott sei‘s gedankt, wir sind in Wittenberg.“
Etwas langsamer und mit vielen Schaukelbewegungen fuhr das Fahrzeug über das holprige Pflaster und stand endlich vor dem behäbigen, dreistöckigen Haus des Kaufmanns Schwertfeger. Die Fenster waren weit geöffnet, um eine kühle Brise hereinzulassen.
Er quälte sich aus der Kutsche. Sein Diener reichte ihm die Hand. Die ersten Schritte machte der Gesandte noch unsicher, rieb sein Hinterteil und die Beule am Kopf und klopfte ans Tor. Über der Tür ging ein kleiner Holzladen auf, ein gerötetes Frauengesicht schaute aus dem weißen Leinengebinde wie aus einem Gemälde und blickte fragend den Mann an.
„Gott zum Gruß. Ich bin … äh … Magister Bolemius und werde erwartet.“
„Heut wird keiner erwartet!“, sagte die Magd. „Die Herrschaft ist auch gar nicht da.“
„Aber ich hab Boten geschickt, die schon vor drei Tagen hätten da sein sollen.“
„Wir haben keine Boten gesehen. Es ist nur der Hauslehrer Overbeck da, aber der steckt in der Holzwanne und singt. Also, gehabt Euch wohl und …“
„Nun, eben dem Overbeck gilt ja mein Besuch!“
„Was? Dem Conrad?“ Die Magd lachte.
Der angebliche Magister Bolemius richtete sich zu seiner vollen Größe auf, setzte sein Birett zurecht und rief: „Ich bin es nicht gewohnt, so behandelt zu werden. Melde dem singenden Overbeck, dass der Gesandte des allergnädigsten Bischofs von Rom vor der Tür steht und erwartet, empfangen zu werden. Wenn nicht, wird es deinem Herrn Schwertfeger teuer zu stehen kommen und dem Overbeck erst recht.“
Der kleine Holzladen schloss sich. Schritte entfernten sich, die nach ein paar Augenblicken zurückkehrten, ein Riegel wurde zur Seite gezogen, und das große Tor öffnete sich zu einem gepflasterten Innenhof.
Der Gesandte trat würdevoll herein, nickte der Magd hoheitsvoll zu und stieß mit einem nur spärlich bekleideten Mann zusammen, der eben aus einem Raum stolperte, aus dem Wasserdampf quoll.
„Entschuldigt den seltsamen Empfang, Meister Bolemius“, stieß Overbeck hervor. „Wir hatten erst morgen mit Euch gerechnet. Setzt Euch derweil in das Zimmer. Ich komme nach. Agnes wird uns etwas Bier und eine Brotzeit hinstellen.“
Die Magd stemmte die Arme in die Hüften und holte gerade Luft, um eine gepfefferte Bemerkung herauszulassen, aber Overbeck kam ihr zuvor und sagte: „Er ist ein päpstlicher Gesandter, Agnes, dein Herr würde ihm auch etwas anbieten.“
Der Gast wandte sich zu seinem Diener und sagte: „Fahr zu unserem Quartier, bereite alles vor, und hole mich zum Sonnenuntergang ab.“ Dann folgte er der Magd, die ihm stumm die Treppe nach oben wies und ihn in ein Zimmer führte, das wohl das Esszimmer der Kaufmannsfamilie war, denn ein breiter Holztisch nahm fast den ganzen Raum ein. Von der Decke hing ein Holzrahmen, auf dem halb heruntergebrannte Kerzen mit schwarzen Dochten steckten.
Ungefähr nach zehn Vaterunser erschien Overbeck in roten Beinlingen, deren Naht an einer Stelle aufgeplatzt war, und in einem dunkelblauen Oberteil, in der Mitte gegürtet. Unter dem Arm trug er mehrere Holztafeln und ein paar Blätter, die er vorsichtig auf den Tisch legte.
Sein Besucher saß vor einem Krug Bier neben einer geöffneten Ledermappe, die Pergamente enthielt. Die weißen Handschuhe hatte er ausgezogen, und man sah einen breiten Siegelring an dem Zeigefinger der rechten Hand. Neben den Handschuhen stand ein Tintenfass. Magister Bolemius war gerade dabei, die Feder mit einem Messer zu spitzen.
Nach dem üblichen Höflichkeitsaustausch sagte der Gesandte: „Nun, Overbeck, ich hoffe, du hast wenigstens Material für mich, auch wenn ich früher gekommen bin als erwartet. Ich habe noch ein paar Besuche vor mir, also beeilen wir uns.“
Overbeck giff zu dem anderen gefüllten Krug, setzte ihn an und tat einen herzhaften Zug. Er fühlte sich in der unverhofften Rolle, einen so vornehmen Gast zu empfangen, ganz wohl.
„Oh ja, Magister Bolemius“, grinste der Hauslehrer und zeigte seine Zahnlücken, „Material hab ich gesammelt. Hab doch den Dr. Lutter des Öfteren gesehen und gesprochen, wie er an der gemeinen Tafel seine Weisheiten allen kundgetan hat. Auch wenn wir Tischmusik machten, bekommt man ja das eine oder andere mit. Hab auch alles fein säuberlich danach notieret.“
Overbeck griff nach seinen Holztafeln, auf die er mit Kreide Notizen gemacht hatte.
„Was haltet Ihr davon?“, begann er und las: „Die musica sei den teufeln zuwider und unerträglich, verschaffe sie doch ruhe und ein fröhliches gemüthe.“
„Hm“, knurrte Bolemius, der schon die Feder ergriffen hatte und sie nun sinken ließ, „das scheint mir noch keine üble Rede zu sein. Man könnte ihr sogar zustimmen.“
„Oder hier, was er zur Messe sagt, das war erst vor ein paar Monaten, im vergangenen Jahr.“ Er drehte eine Holztafel herum: „Es mus beide, text und noten, sowie accent, weise und geberde bei der hl. Messe aus rechter muttersprach und stimme kommen, sonst ist alles ein nachahmen wie die affen thun.“
Der Gesandte hieb auf den Tisch, dass das Tintenfass gefährlich schwankte. „Eine Unverschämtheit, die lateinische Liturgia als ein Affenwerk zu bezeichnen!“ Er wischte die Federspäne zur Seite, tunkte die Feder ein und sagte: „Noch einmal von vorne!“
„Es mus beide …“, diktierte Overbeck dem päpstlichen Gesandten in die Feder.
Als das Zitat schwarz auf weiß auf dem Pergament stand, sagte Overbeck: „Der Lutter fängt auch an, selber geistliche Lieder zur Laute zu singen, die er gar nicht so übel schlägt, und er fordert, man solle sie in der Messe singen.“
„So? In der Messe? Aber nach welchen Melodien?“
„Nun, nach Melodien, die das gemeine Volk zu singen pflegt: Gassenhauer und andere Stücke. Hört nur selbst, ich will euch eins vortragen.“
Overbeck stand auf, griff nach der Laute, die an der Wand hing, stimmte die Saiten, nahm ein Notenblatt und sagte: „Das Liedchen hat er erst vor ein paar Wochen ersonnen und großen Beifall bei Tisch erhalten. Hört nur zu!“ Er räusperte sich, trank noch einen Schluck Bier und fing an: „Ein feste burg ist uhunser gott, ein gute weer und waffen. Er hilft uns frey aus ahaller not, die uns itzt hat betroffen. Der alt böse feint, mit ernst er‘s itzt meint, groß macht und viel list, sein grausam rüstung ist, auf erd ist nicht seinsgleichen.“
Magister Bolemius hatte aufmerksam zugehört und starrte unentschlossen auf das Pergament. Schließlich brummte er: „Nun, nun, das Lied ist roh und feist, aber die Melodie schlägt anders ins Gemüth als die gregorianischen Gesänge. Das muss ich schon sagen, und das könnt gefährlich werden, wenn‘s überhandnimmt.“
„Ja“, nickte Overbeck, „er will es sogar in der Messe die Leut singen lassen! Stellt Euch vor, wenn das Schule macht, dann legt man nachher das Kyrie, das Gloria, das Agnus Dei und die anderen Stücke beiseite, und aus der Kirche klingen die ungehobelten Lieder von der Gasse. Ich hab ja nichts dagegen, wenn man die Liedchen beim Essen singt, aber …“
„Grauenhaft“, stöhnte der Gesandte. „Die Kirche wird zum Wirtshaus. Und die Anbetung Gottes verfault auf dem Altar!“ Er trank einen Schluck und sagte: „Hast du dafür einen Ausspruch, den man als öffentliche Anklage vorbringen könnte?“
„Oh ja, den hab ich!“ Overbeck nahm wieder seine Holztafeln, sah sie durch und fand die richtige: „Ah, hier ist es, passt auf!“ Er las: „Ihr müsset die gassenhauer, reiter- und bergliedlein christlich, moraliter und sittlich verändern, damit die bösen, ärgerlichen weisen, die unnützen und schandbaren liedlein auf den gassen, feldern und häusern und anderswo mit der zeit abgehen möchten, wenn man christliche, gute, nützliche texte und worte darunter haben könnte.“
Der Gesandte schrieb die Worte nieder, dass die Feder nur so über das Pergament kratzte. Als er fertig war, stand Overbeck auf und sagte: „Hab schon des Öfteren gesehen, wie Bettler und fahrende Leut bei dem Lutter eingegangen sind und haben ihm ihre Lieder vortragen müssen, so lang, bis der Lutter sie selber auf seiner Laute schlagen konnte. Und seine neue Frau, die entlaufene Nonne, singt kräftig mit!“