Der Teufel lauert auch im Paradies

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Der Teufel lauert auch im Paradies
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Henning Marx

Der Teufel lauert auch im Paradies

Der 3. Fall von Thomas Sprengel und Lene Huscher

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Epilog

Ein klärendes Wort ...

Mein Dank ...

Und wie es weitergeht ...

Impressum neobooks

Prolog

Ihre Haare waren so grau wie die an weiten Teilen abgeblätterte Farbe an dem alten Haus, in dem sie seit fünfzehn Jahren wohnte. Auch wegen ihrer Haarfarbe wirkte sie älter, als sie tatsächlich war, denn das Leben bescherte ihr einen Schicksalsschlag nach dem anderen. Durchgehalten hatte sie nur, weil sie ihren Töchtern eine Wiederholung ihres eigenen Leides ersparen wollte. Der Pfarrer, der in regelmäßigen Abständen nach ihr schaute, versuchte ihr immer wieder Mut zuzusprechen: »Die Seele ist viel belastbarer, als der Mensch im Allgemeinen annimmt; Sie müssen nur auf Gott vertrauen, um Geborgenheit zu finden.« Ihr Vertrauen hatte sich irgendwann in Luft aufgelöst. Sie wusste nicht mehr, wann genau, aber eines Tages muss es sich aufgemacht und sie im Stich gelassen haben. Ihre Eltern stammten aus sogenannten »einfachen Verhältnissen« und hatten mehr als drei Jahre für ihre erste große Reise gespart, nachdem sie selbst ihre Ausbildung begonnen hatte. Kurz nachdem sie eine Anstellung gefunden und geheiratet hatte, waren ihre Eltern gestartet – und bei einem tragischen Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Irgendwelche Sensoren waren vereist, die Maschine war ins Meer gestürzt. Die Leichen ihrer Eltern wurden nie gefunden. Wie auch? Das Meer war groß! Sie hatte sehr unter dem plötzlichen Verlust gelitten. Nur ihr liebevoller Mann hatte ihr eine Stütze geboten. Sonst wäre ihr damals bereits jeglicher Lebensmut abhanden gekommen. Wenige Jahre nach der Geburt ihrer Zwillinge war ihr Mann dann ebenfalls bei einem Unfall gestorben – einem Autounfall, an dem ihn keine Schuld traf. Ein betrunkener Autofahrer war auf die Gegenfahrbahn geraten und hatte mit seiner schweren Limousine ihren alten Polo weitgehend zerquetscht. Nach Wochen des Hoffens und Bangens war er schließlich nicht mehr aus dem Koma erwacht. Am liebsten hätte sie aufgegeben, aber da waren inzwischen die Zwillinge, Sylvia und Marion, die sie brauchten. In all den Jahren hatte sie immer zu verbergen versucht, wie lebensmüde sie nach dem Tod ihres Mannes geworden war. Vielleicht war auch das ein Auslöser dafür, dass sich vor einigen Jahren Symptome einer Multiplen Sklerose eingestellt hatten, die zuweilen so schwer waren, dass sie wochenlang nicht arbeiten konnte. Nach ihrem zweiten Schub war der kleine Buchladen, in dem sie gearbeitet hatte, insolvent geworden. Danach hatte sie keine neue Stelle gefunden. Irgendwie hatte sie keine Kraft mehr gehabt. Endlich hatten die Zwillinge die Schule beendet und Ausbildungen begonnen. Sylvia war zur Bank gegangen, Marion Rechtsanwaltsgehilfin geworden. Sie hatte Teilzeit gearbeitet, wodurch sie sich ihr Studium der Rechtswissenschaften finanziert hatte. Als ihre Mutter war sie so stolz gewesen. Die Mädchen hatten es zu einem besseren Leben geschafft. Hätte Marion nur nicht mit Yoga begonnen, draußen, neben der Autobahn, immer öfter. Schließlich war sie dort hingezogen und eines Tages war diese Karte gekommen. Die Welt war groß! Mit Tränen in den Augen starrte sie die Postkarte an, die sie in ihren zittrigen Händen hielt.

Kapitel 1

Thomas Sprengel und Lene Huscher hatten sich mit Freunden in Mannheim im Kino getroffen, weil es zu ihrem Bedauern in Heidelberg nur noch ein kleines Programmkino gab. Nach einem lustigen Abend, der in der Lieblingskneipe ihrer Freunde ausgeklungen war, fuhren die beiden auf der A 656 nach Heidelberg zurück. Lene Huscher hatte das Schiebedach geöffnet und genoss die frische Luft, die sich im Wageninneren unaufdringlich verteilte. Der laue Sommerabend bescherte ihnen auch nach vierundzwanzig Uhr noch angenehme Temperaturen.

Lene seufzte, während sie ihrem Mann, Thomas Sprengel, mit ihrer Linken über den Oberschenkel strich. »Weißt du, wonach mir gerade der Sinn stünde?«

»Ins Bett zu fallen?«, zog dieser in Anbetracht der fortgeschrittenen Uhrzeit einen naheliegenden Schluss, während er ihre Hand zärtlich nahm.

Hatte sie da etwa einen Hintergedanken durchgehört? »Nein, ich würde gerne auf dem Ehrenfriedhof einen kleinen Spaziergang machen und mich mit dir noch ein wenig auf die Mauer setzen.« Immer mal wieder nutzten sie die Möglichkeiten, die sich in den Wäldern zwischen Bierhelderhof und Speyerer Hof für ruhebedürftige Spaziergänger boten. Auch wenn die Bäume inzwischen den Blick von der talseitigen Mauer des Ehrenfriedhofs über die Rheinebene sowie direkt darunter auf weite Teile Heidelbergs versperrten, mochten sie die Stimmung dort oben, insbesondere bei Mondschein wie in dieser Nacht. Nach ihrem letzten Kriminalfall hatten sie diesen Ort zwar für eine Weile gemieden. Aber nachdem die teils dramatischen Ereignisse immer mehr in Vergessenheit geraten waren, hatte sich die Erinnerung an die Zeiten entspannter Erholung zunehmend zurückgemeldet.

 

Thomas musste nicht lange überlegen. »Gerne, dort ist es heute Nacht bestimmt lauschig. Ich fahre aber über den Emmertsgrund hoch, wenn dich der kleine Umweg nicht stört.«

»Überhaupt nicht«, lächelte Lene verträumt, während sie seine Hand streichelte. Sie fühlte sich in diesem Moment ... glücklich und leicht – auch wegen dieses Mannes, der nahezu immer bereit war, ihr ihre Wünsche zu erfüllen. Manchmal musste sie in solchen Augenblicken innerlich schmunzeln, wenn sie daran dachte, wie rüde er sie anfangs beleidigt hatte. Damals, kurz nachdem sie nach Heidelberg gekommen war. Ohne ihren ersten gemeinsamen Fall wären sie vielleicht nie mehr ein Paar geworden.

Thomas Sprengel bog am Heidelberger Kreuz auf die A 5 Richtung Süden ab, um über die Ausfahrt Heidelberg/Schwetzingen den Emmertsgrund zu erreichen. Nachdem er auf die A 5 aufgefahren war, ordnete er sich zunächst hinter einem Lkw ein. Auf dem Abschnitt waren nur hundert Stundenkilometer erlaubt, um den Lärm für die Bewohner einiger Hochhäuser sowie des Patrick-Henry-Areals wenigstens etwas erträglicher zu machen. Früher, als in Heidelberg noch amerikanische Soldaten stationiert gewesen waren, hatten die amerikanischen Streitkräfte hier eine komplette Wohnsiedlung für ihre Bediensteten und deren Familien unterhalten. Inzwischen, glaubte sich Thomas Sprengel vage zu erinnern, sollte sich dort irgendeine Yoga-Sekte niedergelassen haben. Etwas abwesend überholte er den Lastwagen mit einem geringen Geschwindigkeitsüberschuss. Hinter sich sah er Scheinwerfer rasch näherkommen. Da nahm es wohl jemand weniger genau mit den Verkehrsvorschriften und demonstrierte unmissverständlich sein mangelndes Mitgefühl mit den vom Lärm ohnehin geplagten Menschen, für deren Wohnungen vermutlich mit einer sehr guten Verkehrsanbindung geworben wurde.

Lene stellte das Radio an, aus dem Britney Spears trällerte: »Born to make you happy ...«

»Genau so ist es«, lächelte Thomas seiner Frau ins Gesicht.

»Du sollst beim Fahren nach vorne schauen«, protestierte sie trotz der charmanten Bemerkung. »Wie oft muss ich dir das noch sagen!«

»Aber es ist doch ...«

»Vorsicht!«, unterbrach Lene ihn scharf. »Guck nach vorn, dort kommt was geflogen!«

Thomas Sprengel riss den Kopf herum und sah zusätzlich zu den grell leuchtenden Bremslichtern eines vor ihnen fahrenden Sportwagens einen ... Körper, der durch die Luft geschleudert wurde und auf sie zugeflogen kam. Reaktionsschnell riss er das Steuer nach rechts und zog nur einen knappen Meter vor dem kurz zuvor überholten Lkw bis auf den Standstreifen, auf dem er eine Vollbremsung hinlegte. Was sich in den wenigen Sekunden hinter dem Lastwagen abspielte, konnten die beiden nur ahnen.

Der durch die Luft geschleuderte Körper krachte in die Windschutzscheibe des von hinten schnell herangekommenen SUVs, dessen Fahrer wegen des Lastwagens keine Chance gehabt hatte, auszuweichen. Ins Schlingern geraten touchierte das Fahrzeug die Leitplanke und wurde von dort gegen den Anhänger des Lastzugs katapultiert, der ebenfalls dabei war, maximal zu verzögern. Die Wucht des gut zwei Tonnen schweren Autos traf den Anhänger an dessen Hinterachse, kurz nachdem dieser Sprengels Peugeot passierte, und drückte ihn auf den Seitenstreifen. Der Kommissar legte geistesgegenwärtig den Rückwärtsgang ein, um mit Vollgas den Wagen zurückzusetzen. Lene und Thomas sahen mit Entsetzen, wie der SUV nur einen Wimpernschlag später dort in die Leitplanke einschlug, wo sie kurz zuvor gestanden hatten. Der Lkw-Fahrer versuchte alles, um den seitwärts driftenden Anhänger wieder unter Kontrolle zu bekommen, konnte aber letztlich das Umkippen des Hängers nicht verhindern, wodurch sich die Zugmaschine querstellte. Ein nachfolgender Pkw raste seitlich unter den Lastwagen. Flammen breiteten sich umgehend explosionsartig unter der deformierten Motorhaube aus. Zwei weitere Autos konnten zwar noch bremsen, kamen aber nicht mehr rechtzeitig zum Stillstand. Nachdem der Lkw inzwischen die ganze Autobahn blockierte, hatten die Fahrer keine Chance zum Ausweichen gehabt und rauschten ebenfalls in die verunglückten Fahrzeuge.

»Ver...«, unterbrach sich Thomas rechtzeitig. »Oh Gott.« Selbst in dieser Extremsituation war es ihm gelungen, einen Fluch zu unterdrücken; so viel zum guten Einfluss seiner Frau. Lene hatte bereits das Telefon gezückt, zwar etwas zittrig, aber gefasst wie gedanklich präsent. Präzise informierte sie Polizei und Rettungsdienste. Danach war sie entschlossen ausgestiegen, um nach Verletzten zu schauen und Hilfe zu leisten.

Kommissar Sprengel fingerte das Blaulicht auf das Dach und setzte den Wagen weitere fünfhundert Meter zurück, um die Aufmerksamkeit des nachfolgenden Verkehrs zu erhöhen. Danach eilte er als Erstes zu dem SUV, an dem sich Lene bereits zu schaffen machte. Im Vorbeilaufen sah er auf der Fahrbahn den oberen Teil eines orange gekleideten Torsos. In einem unwillkürlichen Reflex wandte er zunächst den Blick ab, bevor er genauer hinsah. Es handelte sich um eine Frau und nicht um ein Tier! Als er bei Lene an dem SUV ankam, konnte er im Halbdunkel auf dem Beifahrersitz die untere Hälfte des Frauenkörpers ausmachen. Der Mann hinter dem Steuer stand derartig unter Schock, dass er überhaupt nicht auf Lenes Versuche reagierte, mit ihm Kontakt aufzunehmen, schien aber nicht lebensgefährlich verletzt zu sein. Thomas drehte sich weg, um den Blick gewaltsam von dem Frauenkörper zu reißen. Lene war schon immer weniger empfindlich gewesen als er. Sie begründete das stets damit, dass sie in ihrer Familie nicht hätte überleben können, wenn sie nicht gelernt hätte, Emotionen auszublenden. Vielleicht hatte sie den unteren Teil der Leiche auch noch nicht wahrgenommen? Der Lkw-Fahrer war inzwischen dabei, mit einem Feuerlöscher die Flammen zu löschen, um ein Übergreifen zu verhindern. Die Insassen rechtzeitig zum Stehen gekommener Fahrzeuge halfen den weiteren Verunglückten. Einen Augenblick stand Kommissar Sprengel nur fassungslos da – in einer Wüste aus Trümmern, Glassplittern, Blut, Verletzten, Menschen, die weinten und klagten –, nahm auf, was um ihn herum passierte und war unendlich dankbar für das Glück, das sie selbst gehabt hatten. Dennoch schnürte es ihm das Herz zusammen, während er sich einen Überblick verschaffte, wo noch Hand anzulegen war. Es stellte sich jedoch auch ein Gefühl der Erleichterung ein, als er die Hilfsbereitschaft wahrnahm, die sich innerhalb von Sekunden angesichts der Katastrophe gebildet hatte. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass alle so gut es ging versorgt wurden, lief er auf der Fahrbahn zurück, holte eine Decke aus seinem Wagen und sicherte den oberen Teil der tödlich erfassten Frau. Danach zog er sein Diensttelefon aus der Tasche und forderte zusätzlich Kollegen von der Spurensicherung an. Während er noch telefonierte, registrierte er, wie der Verkehr auf der Gegenfahrbahn beinahe zum Erliegen kam. Das schien aber nicht an verstreuten Trümmern zu liegen. Gaffer! Ihm platzte fast der Kragen. Kaum hatte er das Gespräch beendet, lieh er sich von einem älteren Herrn aus einem der umstehenden Wagen etwas zum Schreiben und begann, sich die zugehörigen Kennzeichen zu notieren. Vereinzelt sah er wie Tablets und Telefone aus den Seitenfenstern auf das Unfallgeschehen gerichtet wurden. Selbst konnte er zu seinem eigenen Missfallen nicht einschreiten. Wer wusste schon, ob es nicht jemand ausgesprochen sexy fand, Fotos von dem Leichentorso zu schießen.

Kapitel 2

Das Haus war von einem kleinen Park umgeben, dessen Bäume tagsüber angenehmen Schatten spendeten. An der Rückseite des luxuriösen Kolonialbaus schloss sich eine Veranda an, auf der Amit Kumar Sharma gerade sein Frühstück zu sich nahm. Als er noch im diplomatischen Dienst tätig gewesen war, hatte er viel Zeit in Europa verbracht. Besonders die Briten mit ihren Geschmacksvorlieben am Morgen hatten es ihm nachhaltig angetan. Seither musste ihm seine Köchin jeden Tag »bacon and eggs« servieren. Manch einer seiner Landsleute rümpfte angesichts der Historie die Nase, aber das war ihm gleichgültig. Er hatte sich nie dadurch ausgezeichnet, sich Beschränkungen aufzuerlegen. Chancen, die sich ihm boten, nutzte er stets weitblickend. Er dachte international, legal wie illegal, falls es nicht anders ging. Irgendwann hatte er sich dann auch dieses wunderschöne Haus mit seinen zwei Etagen und umlaufenden Balkonen leisten können. Seitdem er aus dem Dienst ausgeschieden war, verbrachte er die meiste Zeit hier in Amritsar, von wo er seine vielfältigen Geschäfte leitete.

Unauffällig näherte sich ein westlich gekleideter Inder durch den Garten der Veranda. »Es gibt schreckliche Nachrichten«, eröffnete dieser dem Hausherrn mit gedämpfter Stimme.

Der sah von seiner Zeitung auf, blieb jedoch trotz der beunruhigenden Ansprache gelassen. »Setz dich, Narindar«, bot er seinem Besucher an. »Möchtest du etwas frühstücken? So kann man den Tag doch nicht beginnen. Du solltest zur Morgenmeditation gehen, wie ich, das entspannt.« Er lachte. »Oder älter werden. Aber das dauert deutlich länger und hilft leider bei den Allerwenigsten.«

Der junge Mann, der erst Anfang zwanzig war, rieb sich über das Gesicht. Ihm war weder zum Lachen noch zum Essen zumute. »Die Deutsche ist tot«, brach es aus ihm in einer Mischung aus Sorge, Verzweiflung und Entsetzen heraus.

»Und deswegen gerätst du aus dem Gleichgewicht?«, wunderte sich der deutlich ältere Amit, legte aber doch die Zeitung beiseite. »Was ist passiert?« Bevor der Jüngere antworten konnte, klingelte sein graumelierter Arbeitgeber nach seinem Hausmädchen, um sie um ein weiteres Gedeck zu bitten.

Die Miene des jungen Inders veränderte sich nur unmerklich, während die ausnehmend hübsche, mit ebenmäßigen Gesichtszügen gesegnete Angestellte ihm mit anmutigen Bewegungen eine Tasse grünen Tee einschenkte. Verstohlen folgte ihr sein Blick, nachdem ihr mit einem Kopfnicken des Hausherrn bedeutet worden war, sich zurückziehen zu können. Nahezu lautlos entfernte sie sich in ihrem senffarbenen Sari, ohne ihrem Altersgenossen einen einzigen Blick geschenkt zu haben.

»Was ist also passiert?«

Tonlos erzählte Narindar: »Die Deutsche war letzte Nacht von Alok gemietet. Als ich heute Morgen in den »Tempel« kam, lag sie nackt auf ihrem Bett, übersät mit zahlreichen blauen Flecken und Striemen wie von einem Gürtel. Deva hat mir erzählt, dass Alok mit sechs Männern gekommen war. Einen glaubt sie, erkannt zu haben – ein Mitglied der Regierung in Delhi«, er schluckte. »Deva hat sich nicht getraut, sie aufzuhalten.«

»Schon gut, Narindar«, beruhigte ihn sein Gegenüber. »Ich hätte ohnehin nichts gegen unseren verehrten Bürgermeister unternommen. Die jetzige Situation ist für uns viel kostbarer als das Leben der Deutschen.«

Narindar kannte seinen Arbeitgeber – und Ziehvater – seit fünfzehn Jahren. Dass die Geschäfte nicht immer harmlos oder moralisch einwandfrei waren, hatte er schnell begriffen. Aber er hatte das akzeptiert, weil sein Chef ihn aus einem Slum bei Mumbai geholt hatte, nachdem seine Eltern durch eine Cholera-Epidemie gestorben waren, ebenso wie bei Ardas, dem Hausmädchen. Beide kannten sich seit Kindertagen, denn Ardas´ Eltern hatte die Blechhütte neben der seiner Familie gehört. Er kannte ihn also seit fünfzehn Jahren, war dankbar, treu ergeben, aber an diesem Morgen zum ersten Mal innerlich zerrissen, weil es ihn schockierte, wie sein Ziehvater so geringschätzig über ein Menschenleben reden konnte. »Aber sie ist tot«, flüsterte er fast unhörbar mehr zu sich selbst.

Der väterliche Blick aus den dunklen, gütig blickenden Augen hatte Narindar schon von je her über manches Leid hinweggetröstet, das er im Zusammenhang mit seinen Aufgaben wahrgenommen hatte.

Die einfühlende Antwort unterstrich das Wohlwollen dieses Mannes ihm gegenüber: »Ich verstehe dich durchaus«, gestand der ihm zu. »Aber es steht nicht in meiner Macht, das Ganze rückgängig zu machen. Die Deutsche muss große Schuld auf sich geladen haben, wenn ein solcher Tod für sie vorgesehen war. Akzeptiere das, Narindar. Darin liegt der Schlüssel zu Gelassenheit und Weisheit.«

Er nickte beklommen. »Was soll ich unternehmen?«

»Verbrenne sie auf der Plantage bei Hassanpura, wenn die anderen beim Abendessen sind«, zuckte der Ältere mit den Schultern. »Die Knochen malst du in der Mühle zu Mehl und verstreust es. Pass auf, dass dich keiner sieht.«

Obwohl ihm unwohl war, nickte Narindar. »Und Alok?«

 

»Ich werde wohl mit ihm reden müssen«, antwortete Amit Kumar Sharma nachdenklich.

Um die Mittagszeit saß der ehemalige Diplomat in einem sauberen Restaurant in der Nähe des goldenen Tempels dem übergewichtigen Bürgermeister gegenüber. Er hatte ihn kurzerhand angerufen, um das Thema so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen. Ungelöste Angelegenheiten hatte er noch nie ausstehen können und sich fast sein ganzes Berufsleben damit auseinandersetzen müssen, dass es in der Diplomatie üblicherweise länger dauerte, bis eine Situation als geklärt bezeichnet werden konnte. Nach der Suppe kam er deshalb direkt auf sein Anliegen zu sprechen, nachdem der Bürgermeister keine Anstalten gemacht hatte, von sich aus das heikle Thema anzuschneiden. Vielleicht dachte der auch, dass er den Tod der Deutschen einfach hinnehmen würde?

»Alok«, begann er zurückhaltend. »Mir ist zu meinem Bedauern zu Ohren gekommen, dass es heute Nacht einen – wie soll ich sagen? ... – Unfall gegeben hat!«

Der Angesprochene zuckte mit den Schultern, als ginge ihn das nichts an. »Sie muss wohl krank gewesen sein«, antwortete er lapidar.

Und die Striemen, die blauen Flecke? »Sie war jung, Alok«, entgegnete der graumelierte Bordellbetreiber in seinem leinenen Anzug ruhig. »Und sie wurde gut gepflegt. Ich habe sie erst vor ein paar Tagen ärztlich untersuchen lassen.«

Angesichts dieses Insistierens schnaufte der zur Rede Gestellte unwillig, während er sich eine zu große Portion Curry in den Mund schaufelte. »Ach, was weiß ich denn«, versuchte er sich mit einer nebulösen Erklärung aus der Affäre zu ziehen, wobei ihm einige Reiskörner neben die Tischkante fielen, »einer meiner Gäste konnte nicht genug bekommen. ... Du weißt schon ...«

Für wie dumm hältst du mich, Alok? Er hatte sich das Video der Nacht angeschaut, das er, wie von allen seinen Kunden, aufgenommen hatte. In der Tat, es war der Familienminister, der seinen ausgefallenen »Wunsch« zu rabiat umgesetzt hatte ...

»... mit Gewalt tief in ihren schönen Mund gedrängt und den Kopf festgehalten ...«

Aber du warst es doch, Alok, der dasselbe grob fortgesetzt hat, nachdem der Minister von der bewusstlosen Frau abgelassen hatte. Die Miene des ehemaligen Diplomaten zeigte keinerlei Reaktion, als ihm die Bilder der Aufnahme wieder ins Gedächtnis kamen, obwohl ihn anwiderte, was die Männer dort getrieben hatten. In diesem Moment ekelte ihn dieser teigige Fettsack an; wie alle Männer, die Frauen respektlos begegneten. Das horizontale Gewerbe war zwar eines seiner lukrativsten Geschäfte, aber er kümmerte sich selbst um diese »gefallenen« Frauen auf seine Weise fürsorglich. Ansonsten verhielt er sich Frauen gegenüber tadellos. Ein einziges Mal hatte er sich vergriffen und es bis zu diesem Tag bereut: damals in London. Er hatte ein illegal in England lebendes philippinisches Hausmädchen angestellt. Gewalt hatte er keine aufgewendet, wie er das von anderen durchaus gehört hatte, die sich durch ihren Diplomatenstatus geschützt sahen. Das war nicht nötig gewesen. Die Drohung, sie den Ausländerbehörden zu melden, hatte vollkommen ausgereicht, um ihr das geblümte Sommerkleid aufknöpfen zu können und sich ihren jugendlichen Körper zu nehmen, über dessen kleinen Brüsten sie nicht einmal einen BH getragen hatte. Doch seither verfolgte ihn ihr Gesichtsausdruck. Manchmal schauten ihn ihre leeren Augen aus dem Gesicht anderer Frauen an. Er war sie nie wieder losgeworden. Schlagartig wie schmerzhaft hatte er es verstanden: Einem Manne gereiche die Jungfräulichkeit der Frau zur Ehre. Es war nicht die der eigenen Frau, sondern diejenige aller anderen Frauen, die es insbesondere zu achten galt. Erst viel später war ihm aufgegangen, dass er dieser schutzbedürftigen, jungen Frau noch viel mehr genommen hatte: die Hoffnung auf ein besseres Leben in einem europäischen Rechtsstaat. Seine melancholische Erinnerung schob er zur Seite, als Alok seine widerlichen Ausführungen beendete und ihn wieder direkt ansprach.

»Was willst du? Ich bin ein gut zahlender, langjähriger Kunde«, breitete der Bürgermeister die Arme aus.

Er hatte also die Taktik gewechselt. Schön, da hatte er ihn haben wollen. Es lief einfacher als gedacht. »Unfälle passieren«, gab sich der ehemalige Diplomat verständnisvoll, »aber ich muss mich um Ersatz bemühen, habe Unkosten ... Du weißt, wie begehrt hier blonde Frauen sind. Sie sind selten und die Deutsche war für den ganzen Monat ausgebucht.« Er setzte eine Leidensmiene auf.

»Daher weht der Wind«, lachte Alok mit vollem Mund. »Ich gebe dir fünfzigtausend.«

»Dollar«, legte Amit Kumar Sharma die Währung fest.

Beinahe hätte der Bürgermeister sich verschluckt. »Ich dachte eher an Rupien.«

»Dollar«, beharrte er mit ausdrucksloser Miene, feilschen gehörte schließlich zum Geschäft. Darin hatte er berufsbedingt jahrzehntelange Übung.

»Willst du gierig werden?«, funkelte ihn sein Gegenüber mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich kann dich auch auffliegen lassen. Das weißt du. Aber das würde ich natürlich nicht tun«, schloss er in jovialem Tonfall.

Der Mann mit den geschliffeneren Umgangsformen senkte den Blick – und wartete einfach. Auch ich könnte dir schaden, das solltest du nie vergessen!

»Wie kann man nur so stur sein«, fluchte der Bürgermeister. »Also zwanzig, einverstanden!«

Warum denn nicht gleich so. »Vierzig«, er blickte wieder auf und Alok direkt in die Augen.

»Dreißig.« Sein Verhandlungspartner wischte sich den Mund an der Serviette ab, bevor er scheinbar desinteressiert Reiskörner von seiner Hose sammelte.

»Fünfunddreißig und du zahlst das Essen.« Amit erhob sich, um zu signalisieren, dass es kein weiteres Entgegenkommen mehr geben würde.

»Abgemacht«, grummelte der Andere, während er von seinem Kissen hochblicken musste. »Eine Gratisnacht mit der Neuen inklusive.«

Amit Kumar Sharma nickte mit ausdruckslosem Gesicht. Während er das Restaurant verließ, gestand er sich ein, sich wie nach einer Viehauktion zu fühlen. Ungewöhnlich niedergeschlagen betrat er die belebte Straße. Der Preis war gut, aber vielleicht wurde er zu alt für derlei Geschäfte. Die Frau gereiche dem Mann zur Ehre, indem sich das Verhalten des Mannes als ehrenwert erwies! Warum war er an diesem Mittag nur dermaßen sentimental?

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