Der Teufel lauert auch im Paradies

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Kapitel 3

Ekaterina Hilpertsauer war auf der Suche nach einem geeigneten Yoga-Unterricht für sich und ihren Mann. Sie waren erst wenige Wochen verheiratet. Nachdem sie, als sie sich im Krankenhaus kennengelernt hatten, anfangs skeptisch gewesen war, ob das mit ihnen unter diesen Umständen gutgehen könne, war sie schließlich ihrem Herzen gefolgt. Nicht einen Tag, nicht einmal eine Sekunde hatte sie ihre Entscheidung bereut. So gesehen musste sie dankbar dafür sein, kurz nach dem Jahreswechsel angefahren worden zu sein, wodurch sie aufgrund der Gesamtumstände Personenschutz erhalten hatte. Das alles lag inzwischen gefühlte Lichtjahre zurück. Obwohl sie bereits sechsunddreißig war, hatte sie zum aktuellen Sommersemester ein Studium der Sozialpädagogik aufgenommen. Auch diese Entscheidung hatte sich als überaus passend erwiesen. Nur ihre Suche nach einem geeigneten Yoga-Unterricht fügte sich nicht so einfach, wie sie erwartet oder gehofft hatte. Zwei Wochen zuvor hatte sie eine Probestunde in dem großen Yoga-Ashram auf dem ehemaligen Patrick-Henry-Gelände besucht. Das »Yoga der Erneuerung« hatte die komplette Siedlung, wie man hörte, sogar gekauft, in der bis zum Abzug der amerikanischen Truppen Soldaten mit ihren Familien gewohnt hatten. Eine ehemalige Turnhalle war zu einem öffentlichen Übungsraum umgebaut worden: Die Fenster hatte man bis auf den Boden gezogen und Parkett verlegt. Die ganze Halle wirkte lichtdurchflutet. Ordentlich verteilt lagen dort unzählige orangefarbene Matten, Kissen und Decken für die festen Mitglieder des Ashrams. Für Gäste und Interessenten waren im Randbereich der Halle rote Matten mit weißen Kissen und Decken bereitgelegt; niemand musste diese Dinge mitbringen. So schön das auch ausgesehen hatte, hatte Ekaterina die Atmosphäre überhaupt nicht gefallen. Durch die große Zahl der Teilnehmenden kam sie sich letztlich verloren vor, auch wenn die anderen Übenden um sie herum sehr freundlich zu ihr gewesen waren. Außerdem erklang ein Gong, sobald die »Leitenden« die Halle betraten, woraufhin alle Anwesenden dreimal »Guru« skandieren mussten, gefolgt von einem »Wir verbeugen uns in Demut«, das mit einer tiefen Verneigung verbunden wurde. Fortgeschrittene Assistenten gingen bei den Übungen durch die Reihen und korrigierten einzelne Teilnehmer. Auch das hatte Ekaterina nicht gefallen, plötzlich von hinten angefasst zu werden, während sie sich auf eine Aufgabe konzentrierte. Beim ersten Mal war sie zusammengezuckt. Wütend hatte sie den Kopf gedreht und sich gerade noch beherrscht, als sie in das Gesicht einer freundlich wirkenden Assistentin geblickt hatte – zum Glück. Wenn es ein Mann gewesen wäre, der ihr von hinten unter die Achseln gegriffen hätte, hätte sie für nichts garantieren können. Sie bestimmte inzwischen wieder selbst, wer sie berühren durfte – ausnahmslos! Nachdem sie mehrere Tage mit sich gehadert hatte, hatte sie Lene Huscher von ihren Zweifeln erzählt. Die hatte ihr wiederum den Tipp eines Yoga-Angebots in Gaiberg gegeben, das eine Freundin von ihr besuche und dort sehr zufrieden sei. Mit der Kommissarin hatte sie sich auf Anhieb verstanden. Bereits als sie das erste Mal bei ihr im Büro gewesen war, um Anzeige zu erstatten, hatte sie ein gutes Gefühl gehabt, auch wenn Lene sie zuerst weitergeschickt hatte. Sie würde ihr nie vergessen, wie sie sich um sie gekümmert hatte, nachdem sie der Kommissarin kurz darauf verzweifelt erneut auf dem Gang des Polizeipräsidiums begegnet war.

Problemlos hatte Ekaterina Hilpertsauer zu einem kleinen Fachwerkhaus am Ende der Hauptstraße direkt am Waldrand gefunden. Ein kleines Schild hatte sie um das Haus herum zu einem größeren Pavillon aus Holz geführt, dessen Nord- und Ostseite gezimmert war, während die Wände zu den anderen beiden Himmelsrichtungen fast ausschließlich aus Glas bestanden. Mehrere Schafe grasten auf der Wiese zu ihrer Rechten, die an ein Gehege grenzte, in dem ein großer Hahn stolz vor seinen Hennen flanierte. Die Abendsonne tauchte die Idylle in ein warmes Licht. Als sie unerwartet angesprochen wurde, erschrak sie leicht, weil sie keine Schritte hinter sich gehört hatte.

»Kann ich Ihnen helfen? Möchten Sie am Unterricht teilnehmen?«

Ekaterina drehte sich um und sah sich einem sehr schlanken, sie freundlich anlächelnden Mann gegenüber, der vollständig in elfenbeinfarbenes Leinen gekleidet war. Sie hätte nicht sagen können, wie alt er war.

»Ja, ... guten Abend«, gab sie zögerlich zurück, »mein Name ist Ekaterina Hilpertsauer.« Sie hielt dem Mann die Hand hin, der diese mit einem wohldosierten Druck schüttelte.

»Akal Dharam«. Er verneigte sich kurz. »Komm, die anderen warten schon. Darf ich dich Ekaterina nennen?«, fragte er beiläufig, während er sie zur Tür an der Ostseite des Pavillons führte.

»Gerne«, erwiderte sie überrascht über sich selbst, weil sie in der Regel Wert darauf legte, zunächst bei einem Distanz erhaltenden »Sie« zu bleiben.

»Hast du bereits Yoga-Erfahrung, Ekaterina?«, erkundigte sich Akal Dharam Singh, während er die Tür hinter ihr wieder schloss.

»Ich habe bisher nur einen Probeunterricht in dem großen Yoga-Ashram neben der Autobahn mitgemacht«, erwiderte sie der Wahrheit gemäß.

»Gut, das bekommst du hin«, lächelte er sie an. »Nur eine Bitte hätte ich! Falls du dich entscheiden solltest, regelmäßig zu kommen, könntest du dich um hellere Kleidung bemühen!«

Ekaterina schaute an sich hinunter. Sie trug ein orangefarbenes Shirt über einer schwarzen Jogging-Hose. Damit war sie in dem Ashram nicht weiter aufgefallen. Dort hatte es von äußerst knappen und bunten Tops nur so gewimmelt. Als sie wieder aufschaute, fiel ihr erst auf, dass alle Anwesenden, fünf Frauen sowie drei Männer, durchweg in Weißtöne gekleidet waren und helle Schaffellmatten auf dem Holzboden lagen, überhaupt alle Stoffe in Weiß gehalten waren. »Oh«, war es ihr sehr peinlich, »ich wusste nicht ...«

»Die Wenigsten können Hellsehen, Ekaterina.« Akals Augen ruhten mild und ein wenig belustigt auf ihr. »Vielleicht denkst du darüber nach, sobald du dir sicher bist, häufiger kommen zu wollen. Ich will sagen, überstürze nichts, was am Ende nur Geld kostet.« Er klatschte leise in die Hände, um sich die Aufmerksamkeit der Gruppe zu sichern. »Ich bringe uns hier Ekaterina mit, die gerne Yoga ausprobieren möchte«, stellte er sie der Runde vor. »Das sind Leander, Brigitte, Susanne, Tom, Dharma, Ulrike, Snatam und Nirinjan.«

Alle lächelten ihr zu und verneigten sich leicht.

»Dharma, bitte richte ihr eine Matte neben Susanne«, bat Akal. Er überlegte kurz. »Ich vertraue sie dir an, Susanne, wenn du dir das zutraust!«

Susanne Adam lachte überrascht. »Ich melde mich bei dir, wenn ich mir unsicher sein sollte.«

Akal nickte nur knapp.

Ekaterina machte große Augen, weil sie eine Mentorin bekam. Das war alles ganz anders als in dem riesigen Ashram. Irgendwie hatte sie das Gefühl, der Name »Susanne« sollte ihr etwas sagen, aber sie kam nicht darauf. Sie konnte sich gerade noch bei Dharma für die Matte bedanken, als alle auch schon im Halbkreis um Akal saßen, der auf seinem Schaffell die Beine in einen halben Lotus überschlagen und mit einer dünnen Decke bedeckt hatte. Alles war so anders. Richtiggehend aufgeregt war sie. Nach einem verstohlenen Blick machte sie es einfach den anderen nach, legte die Hände in Gebetshaltung vor der Brust zusammen und schloss die Augen.

»Ong namo guru dev namo«, tönte Akal in einer Stimmlage, in der sie die Worte einfingen, sie geradezu absorbierten. Das war es, was sie gesucht hatte. Beim zweiten Mal setzten die anderen mit ein und der ganze Raum wurde von dem Klang erfüllt. Als sie sich bei der dritten Wiederholung ebenfalls traute, hatte sie das Gefühl, als gäbe es nur noch diesen Klang.

»Wenn du möchtest, treffen wir uns das nächste Mal eine halbe Stunde vor dem Unterricht. Dann kann ich dich ein wenig korrigieren oder dir die eine oder andere Frage beantworten«, schlug Susanne ihrem Schützling am Ende der Stunde vor. »Ekaterina, richtig?«

»Stimmt. Und du heißt Susanne«, versicherte die sich ebenfalls noch einmal.

Susanne Adam überlegte einen Augenblick. »Ekaterina Hilpertsauer?« Sie sah die Gefragte erwartungsvoll an.

Bei der fiel endlich der Groschen. »Du bist Lenes und Thomas´ Freundin«, stellte sie erfreut fest. »Aber wie hast du mich zugeordnet?«, wunderte sie sich.

»Na ja,« lachte Susanne sie an. »Dein Vorname kommt ja nicht so oft vor. Und außerdem hat Lene dich einmal als bildhübsche Frau beschrieben. Wie hat sie gesagt: ›Sie ist die schönste Braut, die ich je gesehen habe‹.«

Ein Anflug von Röte zeigte sich auf Ekaterinas Wangen. »Lene hat natürlich maßlos übertrieben«, wiegelte sie verlegen ab.

»Nur keine falsche Bescheidenheit«, sah Susanne ihrem Naturell entsprechend keinen Grund, ein Blatt vor den Mund zu nehmen. »Ich kann Lenes Einschätzung nur bestätigen.«

»Danke.« Ekaterina wirkte in diesem Moment fast schüchtern, wie immer, wenn es um ihr Äußeres ging. »Ich würde dein Angebot gerne annehmen, wenn es dir wirklich nicht unbequem ist?«, wechselte sie das Thema sofort wieder.

»Nein, überhaupt nicht«, erwiderte Susanne von ganzem Herzen. Auch sie hatte in den ersten Wochen davon profitiert, von Akal einen der Erfahreneren an die Seite gestellt bekommen zu haben.

Zusammen waren sie um das Haus herum bis zu ihren geparkten Autos gegangen, nachdem sie sich von den anderen Teilnehmern verabschiedet hatten. Ekaterina hatte nicht mehr länger mit Akal Dharam sprechen können, weil der sich wegen einer Kuh entschuldigt und sofort nach der Stunde mit Leander den Übungsraum verlassen hatte. Susanne vermutete, dass Akals Kuh kurz davor stand, ihr Kalb zur Welt zu bringen.

 

»Also, Ekaterina«, verabschiedete sich Susanne, als sie bei den Pkws angekommen waren. »Bis Donnerstag oder erst nächste Woche?«

»Ich werde am Donnerstag kommen«, freute sich ihr Schützling unübersehbar.

Ekaterina betrat das Wohnzimmer ihrer Wohnung in der Weststadt, in dem sie zu ihrem Glück ihren Mann auf dem Sofa vorfand. Eigentlich hätte er an diesem Tag mitkommen wollen, aber die Tote auf der Autobahn hatte die Arbeitszeit des Kommissars unvorhersehbar verlängert.

Franz schaute hoch. »Du strahlst ja förmlich«, stellte er zufrieden fest, während er sein Buch zur Seite legte. »War es gut?«

»Viel besser, als ich gehofft habe.« Sie schmiegte sich an ihn und gab ihm einen Kuss. »Aber wie sieht es bei dir aus?«

»Vielleicht haben wir bereits eine erste Spur. Aber lass uns lieber über deinen Abend reden. Mir reicht es für heute, mich mit den Untiefen der menschlichen Psyche auseinanderzusetzen.« Franz nahm die Frau, auf die er Jahre gewartet hatte, liebevoll in den Arm. Nie würde er sie wieder hergeben, solange sie ihn auch wollte.

»Stell dir vor«, endete Ekaterinas Erzählung von ihrer Yoga-Stunde, »wen ich dort getroffen habe?« Fragend schaute sie ihn an.

Seine Hand wanderte zu ihrer vollen Brust. »Ich weiß nicht«, fiel ihm niemand ein.

»Wenn du nichts anderes im Sinn hast«, lächelte sie, öffnete aber ganz nebenbei den Reißverschluss ihres Shirts, »wundert mich das nicht. ... Susanne Adam. Ich soll dir einen Gruß ausrichten.«

»Was für ein Zufall«, fand auch Franz und schob seine Hand zärtlich unter ihr Bustier.

»Du scheinst nicht beim Thema zu sein, mein Lieber«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

»Nicht ganz, da ist mir was zugefallen«, blieb er ehrlich, woraufhin sie wie eine Katze auf seinen Schoß glitt und ihm einen feurigen Kuss auf die Lippen presste.

»Mehr gibt es nur, wenn du mir versprichst, nächste Woche mitzukommen.« Sie schaute erwartungsvoll. Erst als Franz lächelnd nickte, schob sie ihr Bustier nach oben, um ihm uneingeschränkte Zugriffsrechte zu gewähren.

Kapitel 4

Kommissar Sprengel musste höllisch aufpassen, wo er im Präsidium hintrat. Der Boden war vollständig abgeklebt, weil die Flure frisch gestrichen wurden. Auch wenn er inzwischen mehrfach in irgendwelche Farbkleckse getreten war, deren helles Gelb sich zur Freude seiner Sekretärin Frau Stöckl in deren Büro verteilt hatte, musste selbst die zugeben, dass der Anstrich dringend notwendig war. Das vorherige Weiß war mit der Zeit ziemlich grau geworden und an manchen Stellen hatte der Putz begonnen, von der Wand zu bröckeln. Thomas Sprengel war auf dem Weg zu Kriminaldirektor Jo Kühne, der normalerweise sehr zeitig im Büro erschien, schon um sich noch duschen zu können, weil er bei jedem Wetter entweder mit dem Rad oder joggend von Schwetzingen zum Dienst erschien. Der Triathlet ließ sich durch nichts von seinem Training abhalten. Manchmal wünschte sich Hauptkommissar Sprengel, ein wenig von Kühnes Disziplin zu haben. Umso überraschter war er, als er auf das Treppenhaus zuging, seinen Chef im Laufschritt die Stufen nach oben hasten zu sehen.

Thomas Sprengel spurtete die paar Meter zum Ende des Flures und rief Kühne hinterher: »Warte, Jo! Ich bin auf dem Weg zu dir.«

Sein Chef blieb stehen und blickte nach unten. »Morgen, Thomas. Ich habe dich gar nicht registriert.«

»Morgen. Kein Wunder bei deinem Tempo. Hattest du bereits einen Termin?«, gab er seine Verwunderung über das späte Kommen und die fehlende Sportkleidung zum Ausdruck.

Gemeinsam gingen sie in den fünften Stock und dort zu Kühnes Büro. »Nein, ich habe Joana zum Flughafen gefahren. Sie fliegt nach Portugal«, erklärte ihm der Verspätete.

»Benötigt sie ein bisschen Urlaub von dir?«, flachste Thomas Sprengel. Er hatte die portugiesische Frau von Jo Kühne bisher nur ein einziges Mal im »Peppers« getroffen: eine sehr sympathische Frau, die wie ihr Mann in Thomas´ Augen bewegungswütig war. Sie lief semiprofessionell Marathon und war deshalb immer mal wieder unterwegs.

»Nein, sie hat einen Küstenmarathon organisiert«, lachte der Verspottete gelassen, während er seinem Mitarbeiter die Tür zu seinem Büro aufhielt.

Der runzelte die Stirn. »Ich weiß, was ein Stadtmarathon ist, von einem Küstenmarathon habe ich noch nie gehört.«

Jo Kühne schloss die Tür und gab seiner Sekretärin Bescheid, anwesend zu sein, bevor er es sich hinter seinem Schreibtisch bequem machte. »Joana hat einen Marathon von Sagres nach Lagos an der Westalgarve organisiert, der immer wieder über schmalere Pfade entlang der Küste und an den kleinen Orten vorbeiführt. Eine herrliche Gegend übrigens. Falls ihr dort mal Urlaub machen wollt, könnt ihr unsere Wohnung in Burgau haben. Das Örtchen ist entzückend«, schweifte sein Chef vom Thema ab.

»Danke«, war Thomas bei diesem unerwarteten Angebot irritiert, weil er nicht so genau einschätzen konnte, wie ernst das gemeint war. »Joana hat diesen Marathon ins Leben gerufen, weil sie von dort stammt?«, konnte er seine Neugierde auch in diesem Fall nicht zügeln. Aber wie hatte es doch immer auf seiner Kinderschallplatte geheißen: »Wer nicht fragt, bleibt dumm«. Das hatte er zuweilen etwas zu sehr verinnerlicht. Es war schließlich niemand gezwungen, ihm zu antworten, wenn er nicht wollte.

Jo Kühne schaute kurz auf seine Armbanduhr. »Auch. Aber es gibt einen ernsteren Hintergrund«, begann er ausführlicher zu werden, nachdem er offensichtlich beschlossen hatte, sich die Zeit nehmen zu können. »Die portugiesischen Kleinbauern haben keine Chance, sich gegen die riesigen Agrarbetriebe in Spanien preislich durchzusetzen. Die Folge davon ist, dass die Situation der heimischen Landwirte zunehmend schwieriger wird, während selbst in Portugal immer mehr unreifes Obst und geschmackloses Gemüse aus dem Ausland in den großen Läden angeboten wird. Also hat sich Joana überlegt, einen Marathon zu organisieren, dessen Startgebühren dazu verwendet werden, einem Bauernmarkt in Lagos zu ermöglichen, einen ganzen Tag reifes Obst und Gemüse kostenlos an interessierte Käufer abzugeben. Ihre Hoffnung besteht darin, über die Aktion neue Kunden für die heimischen Produkte zu gewinnen, zumal die letztlich kaum teurer sind als die Ware der Handelsketten. Ganz einfach, weil es sich um einen Direktvertrieb handelt und somit Zwischenhändler fehlen.«

»Ah.« Thomas Sprengel musste erst seine Gedanken sortieren. Lene hatte ihm eindeutig vor Augen oder eher vor die Geschmacksknospen geführt, dass Obst und Gemüse im Supermarkt nur selten mit den Erzeugnissen guter lokaler Anbieter mithalten konnte. Aber einen Marathon zweitausend Kilometer entfernt auf die Beine zu stellen, schien ihm dann doch ein wenig über...engagiert. »Lene wird bestimmt begeistert sein, wenn ich ihr davon berichte«, versuchte er trotz seiner Bedenken einen positiven Kommentar abzugeben.

Jo Kühne lachte laut, weil er an dem Gesicht seines Mitarbeiters sofort abgelesen hatte, was der in dem Moment gedacht haben musste. »Schon gut«, beschwichtigte er, »ich fand die Idee am Anfang auch abgefahren. Aber so ist sie halt. Wenn sie eine Mission für sich ausgemacht hat, dann hält sie nichts mehr auf. Außerdem muss ich zugeben, sind die Einkaufsmöglichkeiten dort in den letzten Jahren durchaus schwieriger geworden, wenn man einen bestimmten Standard nicht aufgeben will.«

»Vielleicht sollte ich Lene doch lieber nichts erzählen«, sinnierte Thomas Sprengel nur halb im Scherz. »In der Hinsicht könnten die beiden sich wunderbar ergänzen. Am Ende bekämen wir unsere Frauen nur noch selten zu Gesicht.«

»Na, darum müssen wir uns wohl keine Sorgen machen«, antwortete sein Chef mit einer fröhlichen Leichtigkeit, die ihn selbst in widrigsten Situationen auszeichnete. Unmittelbar nach dieser Feststellung straffte sich der Kriminaldirektor sichtbar in seinem Schreibtischstuhl und ging ohne Schlenker zum dienstlichen Teil über. »Was kann ich für dich tun? Du wolltest dich vermutlich nicht nur über portugiesische Kleinbauern informieren!«

»Nein«, pflichtete Thomas ihm bei. »Ich habe inzwischen den Obduktionsbefund der auf der Autobahn verunfallten Frau.«

»Erzähl!«

Thomas Sprengel schnaufte unwillkürlich. Die Erinnerung an den auf dem Asphalt liegenden Torso rührte ihn noch immer. »In der Rechtsmedizin gehen sie davon aus, dass alle Traumata von den Kollisionen mit dem Porsche sowie dem SUV stammen, also im Vorfeld keine irgendwie geartete Misshandlung stattgefunden hat.«

Kühne nickte.

»Allerdings haben sie Abbauprodukte von Lysergsäurediethylamid nachweisen können.«

»LSD«. Sein Chef zog die Augenbrauen zusammen. »Wie sind die auf die Idee gekommen, ausgerechnet danach zu suchen?«

»Wir hatten denen ins Pflichtenheft geschrieben, auch nach Hinweisen zu suchen, die unter Umständen erklären könnten, warum eine junge Frau mitten in der Nacht versucht, über eine Autobahn zu laufen. Um ehrlich zu sein, hatten wir dabei allerdings eher an Alkohol gedacht«, räumte Thomas Sprengel ein, der die Idee des Pathologen nicht für sich beanspruchen wollte.

»Du willst mir erklären«, zog Jo Kühne einen ersten Schluss, »dass die Frau einen ›bad trip‹ gehabt haben und aus Angst vor ihren dämonenhaften Halluzinationen orientierungslos geflohen sein könnte?«

Der Kommissar wackelte etwas unschlüssig mit dem Kopf. »Möglicherweise, aber dazu will ich erst mehr sagen, wenn unsere Befragungen im ›Patrick-Henry‹ abgeschlossen sind. Aufgrund der orangefarbenen Kleidung war es immerhin ziemlich offensichtlich, dass die junge Frau Mitglied dieser Yoga-Sekte dort ...« Er stockte und musste in seinen Unterlagen nachlesen. »›Yoga-Ashram der Erneuerung‹«, las er ab. »Ja, so heißen die«, nickte er, sich selbst bestätigend. »Es war keine große Sache aufgrund der Personenbeschreibung den Namen herauszufinden: Sylvia Tröger. Die wiederum war davor in Kirchheim gemeldet, wo unter ihrer alten Adresse noch eine Anneliese Tröger wohnt. Aufgrund des Alters könnte es sich um die Mutter handeln.«

»War schon jemand dort?«, erkundigte sich Jo Kühne, nachdem er die Luft aus seinen Backen hatte entweichen lassen. Seinem Gesicht konnte Thomas Sprengel zweifelsfrei entnehmen, dass auch sein Chef bekümmert bei dem Gedanken war, einer Mutter vom plötzlichen Tod ihrer Tochter berichten zu müssen. Im Normalfall sollte das umgekehrt sein – aber selbst dann nicht unerwartet. Das Leben konnte äußerst hart sein.

»Das steht heute Morgen auf der Agenda«, grummelte der Kommissar, der sich vor dieser Aufgabe stets zu drücken versuchte. »Allerdings sollte ich Horst Jung und Franz Hilpertsauer bei den Vernehmungen unterstützen, Heiner Janetzky ist noch im Urlaub«, unternahm er einen halbherzigen Versuch, sich von der unangenehmen Verpflichtung zu befreien. »Falls du vielleicht etwas Zeit hättest ...«

»Netter Angang, Thomas«, musste sein Chef lachen. »Selbst wenn ich wollte, hätte ich keine. Ich muss gleich los.«

»Ja, ...« Der Kommissar erhob sich schwerfällig aus seinem Stuhl, Canossa alle Ehre machend.

Jo Kühne hatte bei dem Anblick ein Einsehen. »Wie wäre es, wenn du Lene fragst, ob sie dich begleiten kann? Es wäre ohnehin kein Fehler, eine Frau bei dem Gespräch dabei zu haben.«

»So rudimentär ausgeprägt sind meine Sozialkompetenzen nun auch nicht«, brummelte der Leiter des Morddezernats augenblicklich latent beleidigt.

»Es ist nun mal erwiesen, dass sich die meisten Menschen eher Frauen öffnen können«, beruhigte ihn sein Chef nur ansatzweise. »Das nennt man wohl die Kehrseite zu einer selbst im einundzwanzigsten Jahrhundert noch nicht erreichten Gleichberechtigung oder zum mangelnden Ausgleich weiblich wie männlich assoziierter Persönlichkeitsanteile.«

Kühne hatte im Nebenfach Psychologie studiert, erinnerte sich Thomas Sprengel, konnte aber auf die Schnelle dem Gedankengang nicht ganz folgen. Er würde sich zu gegebener Zeit damit befassen – oder es vergessen haben.

Ansonsten war Jo Kühne einfach der beste Chef, den sich Thomas Sprengel vorstellen konnte. Das genaue Gegenteil seines Vorgängers Wilkens. Schon besser gelaunt hatte er Lene umgehend aufgesucht und war einigermaßen erleichtert gewesen, dass sie sich hatte freimachen können. Den Wagen hatte er neben den Gleisen gegenüber dem renovierungsbedürftigen Haus in Kirchheim geparkt, in dem Frau Tröger wohnte. Leider entwickelte sich alles noch viel schlimmer, als er im Stillen befürchtet hatte.

Frau Tröger saß einfach nur da, still, aber die Tränen liefen ihr ununterbrochen über die Wangen. Jegliche Farbe war aus ihrem ohnehin blässlichen Gesicht gewichen. Diese wortlose Trauer war belastender als Zetern, Hadern, Schreien oder Weinkrämpfe, weil es wie eine vollständige Resignation, eine Kapitulation vor der Tragik ihres Lebens wirkte. Lene Huscher versuchte mehrfach, Frau Tröger anzusprechen, aber die reagierte überhaupt nicht mehr. Die Kommissarin nahm ihre Hand, die jedoch nur kalt und schlaff in der ihren lag. Etwas hilflos schauten sich die beiden Ermittler an. Thomas Sprengel hatte gerade beschlossen, einen Arzt zu rufen und war im Begriff den altmodisch eingerichteten Raum mit seinen freudlosen Gardinen zu verlassen, als Frau Tröger plötzlich zu reden begann: vom Tod ihrer Eltern, vom Tod ihres Mannes und von der Karte ihrer Tochter Marion. »Und nun nimmt mir der liebe Gott auch noch das Letzte, was mir geblieben ist«, endete die kleine Frau mit tonloser Stimme, als spreche sie aus weiter Ferne. Danach sackte sie in sich zusammen. Die Kommissarin fing den zarten Oberkörper auf, bevor der Kopf auf den Tisch aufschlagen konnte.

 

»Ich würde sagen«, stellte Lene Huscher erschüttert fest, »der arme Geist hat unter der Last eines weiteren Verlustes einfach abgeschaltet.« Ihr Mann hatte bereits während Frau Trögers Erzählung mit den Auswirkungen seines Mitgefühls gekämpft. So gesehen war es für ihn einfacher, aktiv werden zu müssen. Mit Lene zusammen legte er die gar nicht so alte Frau auf das Sofa, bevor sie einen Krankenwagen riefen. Sie sprachen beide nicht viel. Während sie warteten, sahen sie sich in dem kleinen Wohnzimmer um. Lene Huscher nahm eine Karte, die in einer Vitrine gut sichtbar an zwei ineinander gestellten Tassen lehnte. »Liebe Mama, ich weiß nicht, ob wir uns in diesem Leben wiedersehen. Der innere Ruf hat mich nach Indien geführt. Demnächst werde ich zum ›Ashram der Ewigkeit‹ nach Nepal aufbrechen. Gott ist dort ganz nah. Verzeihe mir, dass ich meinen Weg gehen muss. In Liebe, Deine Marion.« Lene reichte die Postkarte mit indischem Stempel wortlos an Thomas weiter, um sich wieder Frau Tröger zuzuwenden, die sich gerührt hatte.

Nachdem Thomas Sprengel die Karte ebenfalls gelesen hatte, ging er in die Küche, um ein Glas Wasser zu holen – oder lieber einen Schnaps? Aber er wollte nicht einfach in den Schränken herumwühlen. Lene Huscher hatte in der Zwischenzeit die schwache Frau auf dem Sofa mit Hilfe mehrerer Kissen aufgerichtet. Nachdem er Frau Tröger das Glas gereicht hatte, hielt er ihr auch die Karte hin. »Könnten Sie uns dazu noch etwas mehr erzählen?«

Frau Tröger schien sich leidlich gefangen zu haben. Sie seufzte, während sie die Karte anstarrte, als wolle sie bis Nepal schauen.

Nach einer Weile des Schweigens hakte Lene Huscher nach. »War Ihre Tochter Sylvia deshalb in dem hiesigen Yoga-Ashram?«

Mit einem schwachen Nicken wandte die unglückliche Mutter der Kommissarin den Kopf zu. »Marion hatte mit Yoga begonnen, ein oder zwei Mal die Woche. Sie war begeistert, weil sie dadurch besser abschalten konnte, bei der Doppelbelastung.«

»Welche Doppelbelastung?«

»Sie war Rechtsanwaltsgehilfin in Teilzeit und studierte parallel hier in Heidelberg Jura. Als es auf die große Prüfung zuging, lernte sie ganze Nächte hindurch. Eines Tages hat sie jemand auf Yoga hingewiesen. Es hat tatsächlich geholfen. Sie konnte sich wieder besser konzentrieren, schlief ruhiger ... Von einem auf den anderen Tag war sie dort hingezogen, weil sie sagte, vor Ort weniger Zeit zu verlieren und damit öfter Yoga praktizieren zu können. Schließlich verschob sie ihre Prüfungen, kündigte ihre Arbeit und wenige Wochen später kam diese Karte«, erinnerte sich Anneliese Tröger, während ihr erneut Tränen über die Wangen rannen.

»Vielleicht kommt sie zurück, wenn sie gefunden hat, was sie sucht. Das kommt häufiger vor«, versuchte Lene Huscher einen hoffnungsvollen Gedanken zu formulieren.

»Es tut mir leid, Frau Kommissarin«, antwortete die Trauernde. »Wenn Sie mein Leben betrachten, glauben Sie da noch an Wunder?«

Ein Kloß schnürte Lene Huscher die Kehle zu. Sie war zu keiner unehrlichen Antwort fähig, doch ihr Mann half ihr. »Was macht Sie so sicher?«

»Sylvia hat dort nachgefragt«, erklärte Frau Tröger. »Marion war abgereist, keiner wollte oder konnte ihr Genaueres mitteilen. Daher hat sie selbst recherchiert. Es gibt aber keinerlei Hinweis auf einen ›Ashram der Ewigkeit‹ in Nepal. Damit wollte sich Sylvia nicht zufrieden geben, weil sie überzeugt war, dass Marion niemals ohne jede Verabschiedung gegangen wäre.«

»Teilen Sie diese Ansicht?«

Frau Tröger nickte. »Nach dem Tod ihres Vaters sind die Zwillinge unzertrennlich zusammengewachsen, haben sich blind verstanden, nie gestritten. Wie sich das wohl jede Mutter wünscht. Außerdem haben sie sich beide intensiv um mich gekümmert, seit ... Ich leide an MS. ... Nie haben sie mich spüren lassen, inzwischen eine Last zu sein.«

Thomas Sprengel konnte nicht mehr hinsehen. Würde er noch länger in dieses von tiefster Trauer gekennzeichnete Gesicht sehen, wären seine Tränen nicht mehr aufzuhalten. Das war vermutlich der affektiven Perspektivenübernahme geschuldet, wie ihm Frau Dr. Sauer bei der Aufklärung des Todes von Prof. Dr. Himmelreich zum Thema Mitgefühl erläutert hatte. »Und dann zog Sylvia los, um auf eigene Faust zu ermitteln?« Er drehte sich zum Fenster, natürlich nur, um nach dem Krankenwagen zu schauen.

Unerwartet war das schwache Aufflackern eines Aufbegehrens bei Frau Tröger zu vernehmen. »Ich habe sie gebeten, nein, angefleht, sich von dort fernzuhalten. Aber sie hat nicht anders können, zu sehr hat sie ihre Schwester geliebt. Nicht einmal meine Sorge, auch sie zu verlieren, hat sie davon abgehalten. Sie war so sicher, dass ihr nichts passieren würde – und jetzt ...«

»Hat sie etwas herausgefunden?«, wollte Lene Huscher wissen, aber sie schien zu der Unglücklichen nicht mehr durchzudringen.

»Der Krankenwagen«, erklärte der Kommissar, bevor er den Raum verließ, um die Haustür zu öffnen.

Nachdem die Sanitäter zusammen mit Frau Tröger eine Tasche gepackt hatten und mit ihr abgefahren waren, gingen Thomas Sprengel und Lene Huscher schweigend zu ihrem Dienstwagen. Beide ließen das Gehörte Revue passieren. Der Kommissar stützte sich mit beiden Armen auf das Autodach, bevor Lene einstieg.

»Wenn ich bedenke, wie sehr ich gejammert habe, als mich damals meine Ex verlassen hat, dann komme ich mir spätestens heute sowas von dämlich vor.« Er stockte, während Lene ihren Mann verständnisvoll ansah. »Und dabei war das für mich wenigstens der Beginn, um die Frau meines Lebens erobern zu dürfen. Aber Frau Tröger...«

»Das ist eine Tragödie«, stimmte ihm Lene mit bekümmertem Gesichtsausdruck zu, freute sich aber auch über das Kompliment. Nach kurzem Innehalten stiegen sie schließlich beide ein.

Als Thomas den Wagen startete, entfuhr ihm ein »Oh, nein.«

»Was ist?«, erschrak seine Frau wegen des entsetzten Tonfalls.

»Mir ist eingefallen, dass jemand die Leiche identifizieren muss«, stöhnte der Kommissar. »Das kann man der Frau doch nicht auch noch zumuten. Dafür muss eine andere Lösung her!«

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