Der Teufel lauert auch im Paradies

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Kapitel 5

Weil der Mond nur eine schmale Sichel am Himmel bildete, war es zwischen den Palmen, Bäumen und Büschen so dunkel, dass sich einzelne Konturen kaum auseinanderhalten ließen. Während sie vorsichtig barfuß über den Rasen huschte, war von ihrem Sari nicht das geringste Geräusch zu vernehmen. Wie eine Einbrecherin hatte sie sich aus einem Dienstboteneingang seitlich am Haus gestohlen und peinlich darauf geachtet, beim Öffnen und Schließen der Tür kein Geräusch zu verursachen, auch wenn nur die Köchin im Haus war. Als sie sich im Schutz der Grünanlage weit genug von der Villa entfernt hatte, beschleunigte sie ihre Schritte und bewegte sich sicher wie eine Katze auf eine markante Palme zu. Sie hätte den Weg selbst mit verbundenen Augen gefunden, so oft wie sie in den letzten Jahren in der Dunkelheit der Nacht hierhergekommen war. Als sie nur noch wenige Meter von der hohen Palme entfernt war, löste sich ein Schatten von deren Stamm und trat leise auf sie zu.

Narindar hatte es viel einfacher, sie zu treffen. Er kam oftmals erst spät von der Plantage zurück und war als junger Mann auch nicht in der gleichen Weise in seinen Aktivitäten eingeschränkt, so dass er insbesondere am Abend meistens kommen und gehen konnte, wie es ihm beliebte. Erleichtert nahm er sie kurz bei den Händen und führte sie in das Wurzelgeflecht eines alten Banyan-Baumes, wo sie die Dunkelheit vollkommen einhüllte. Auch wenn sie dort weit vom Haus entfernt waren und sich unbeobachtet fühlen konnten, mussten sie vorsichtig sein. Ihre heimlichen Treffen würden als moralisch verwerflich betrachtet werden und wären von ihrem Mentor und Ziehvater niemals gebilligt worden.

»Es ist schön, dass du kommen konntest«, flüsterte Narindar, während sie sich im halben Lotus Rücken an Rücken zwischen die Wurzeln setzten. Auf diese Weise konnten sie die Wärme und Nähe des anderen spüren, aber hinreichend den Anstand waren, ohne Gefahr zu laufen, von ihren Gefühlen überrumpelt zu werden.

»Heute war es ganz einfach«, erklärte Ardas leise. »Er ist noch nicht wieder zurück und die Köchin schläft um diese Zeit fest.«

Sie schwiegen eine Weile, um die Anwesenheit des anderen zu fühlen. »Was ist mit dir?«, fragte Ardas schließlich besorgt, weil sie spürte, wie angespannt sich Narindars Rücken anfühlte. Bereits seit drei Jahren trafen sie sich immer wieder an dieser Stelle, nachdem sie sich seit der Pubertät auch als Frau und Mann zueinander hingezogen fühlten und sich ineinander verliebt hatten. Sie kannten sich seit ihren Kindertagen im Slum. Schon damals war Narindar anders gewesen als die anderen Jungs. Er hatte mit ihr, einem Mädchen, gespielt und sie stets beschützt. Leider hatten sie bisher keinen Weg gefunden, wie sie ihre Liebe jemals würden leben können. Ihr Ziehvater war bereits dabei, einen geeigneten Mann für Ardas zu suchen, weil sie es auf Dauer besser haben sollte, auch wenn er einmal nicht mehr wäre, wie er stets betonte. Ardas graute es bei dieser Vorstellung. Auch wenn sie nicht glaubte, dass er sie gegen ihren Willen weggeben würde, wollte sie niemand anderen als Narindar, der sie nicht nur begehrte, sondern ihr seit beinahe zwanzig Jahren bewies, sie auch zu verehren.

»Hast du von der toten Deutschen im Tempel gehört?«

»Meine Ohren sind groß«, erschrak Ardas ein wenig angesichts dieses Themas. »Deva hat es entsetzt und aufgelöst der Köchin berichtet, als ich zufällig in der Speisekammer war.«

Ardas spürte, wie Narindar mit dem Kopf nickte, als verstünde er die Reaktion von Deva. »Er hat mich gebeten, den Leichnam auf die Plantage zu bringen, zu verbrennen und die Knochen in der Mühle zu mahlen, um das Mehl irgendwo zu verstreuen.«

»Das tut mir leid.« Ardas drückte sich sanft gegen seinen Rücken. »Hast du schon ...?« Sie schluckte bei der Vorstellung.

Narindar atmete tief durch. »Ich konnte es nicht«, gestand er ihr schließlich. Als sie nichts erwiderte, fuhr er fort. »Sie war doch auch ein Mensch! Er aber hat von ihr geredet, als sei sie ein ... ein Möbelstück, das ein Gast kaputt gemacht hat. Außerdem war sie zu mir immer sehr nett, obwohl sie wusste, wer ich bin.«

»Warst du auch bei ihr?«, sprach Ardas den absurden Gedanken aus, der sich tief in ihrem Unterbewusstsein gebildet haben musste. Aber Männer sollten wohl anders als Frauen sein, hatte man ihr wenigstens ihr ganzes Leben lang vermittelt.

»Niemals!« Sie konnte nicht sehen, wie er ärgerlich die Stirn runzelte, hatte aber für einen Augenblick den Eindruck, dass er beinahe aufgesprungen wäre.

»Entschuldige, Liebster«, beruhigte sie ihn wieder, indem sie ihm eine Hand auf die Schulter legte. »Ich weiß auch nicht, wo der Gedanke plötzlich herkam. Vielleicht hat man mir doch zu oft erzählt, dass Männer ...«

Narindar fiel ihr sanft, aber bestimmt ins Wort. »Ich liebe nur dich, tausendblättriger Lotus meines Lebens. Noch nie hatte ich Augen für ein Mädchen oder eine Frau außer dir.«

»Nein«, sie lächelte verlegen, aber glücklich über die gut gewählten Worte. Nein, es gab keine Zweifel. Sie nahm die Hand von seiner Schulter. »Was hast du stattdessen mit der Toten gemacht?«

»Ich habe sie am Waldrand hinter der Plantage beerdigt und in den am nächsten stehenden Baum ein Kreuz geschnitzt, weil ich davon ausgegangen bin, dass sie vermutlich ... Psst.«

Ein Ast hatte in der Nähe geknackt. Narindars Herz pochte wild, Ardas wurde stocksteif. Sie lauschten angestrengt. Zu ihrer Erleichterung hörten sie kurz darauf ein leises Hecheln. Wenig später spürten sie, wie Napoleon, ein intelligenter Dobermann, friedlich an ihnen schnüffelte. Ardas streichelte ihm über den Kopf und gab ihm einen Kuss auf die Schnauze, bevor der Wachhund sich leise trollte. Er war ihr Postbote. Wenn einer den anderen sehen wollte, klemmten sie eine Nachricht in die Naht an seinem Lederhalsband. Das barg zwar ein gewisses Risiko, aber wer von der offenen Stelle nichts wusste, konnte sie kaum erkennen, solange er das Halsband nicht genauer untersuchte.

»Was machst du, wenn er dich danach fragt?«, sorgte sich Ardas.

Er zuckte mit den Schultern. »Dann werde ich sagen, ich hätte die Asche in den Fluss geschüttet und die Reste des Feuers vergraben.«

»Und wenn er das überprüfen will?«

»Ich weiß, er hat viel für uns getan«, brachte Narindar seinen Widerstreit zum Ausdruck, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Im Grunde verdanken wir ihm alles. Aber er hat den Tod so ungerührt zur Kenntnis genommen. Geld war das Einzige, an das er gedacht hat. Je älter ich werde, desto weniger kann ich mich damit abfinden, bei Drogengeschäften und Prostitution zu helfen. Das ist nicht richtig«, wurde seine Stimme lauter.

»Beruhige dich«, ermahnte ihn Ardas. »Du hast ja recht! Aber was willst du tun? Er wird dich nie gehen lassen, wenn du ihm seine Geschäfte vorwirfst. Du weißt viel zu viel.«

»Bin ich undankbar?«, haderte er mit seiner Situation. »Aber man muss doch allen Menschen mit Respekt und Liebe begegnen. Er hat mir noch empfohlen, zur Morgenmeditation zu gehen, wenn mich die Tatsache ihres Todes so aufwühle. Meditation dient der Entfaltung von Mitgefühl, aber doch nicht dazu, grausam sein zu können.«

Ardas schwieg. Was sollte sie ihm sagen? Es stimmte. Auf der einen Seite war ihr Ziehvater immer gut zu ihnen gewesen. Er kümmerte sich auch herzlich um diejenigen, die ihm etwas bedeuteten. Auf der anderen Seite ordnete er alles seinem Streben nach Reichtum unter und benutzte Menschen wie Marionetten. Sie hatte ebenfalls zunehmend mit ihrem Gewissen zu kämpfen. Auch wenn sie persönlich Glück hatte, kam in der Haltung ihres Ziehvaters durchaus die in ihrer Heimat noch sehr verbreitete Haltung zum Ausdruck, der Mann könne beliebig über die Frau verfügen.

»Ardas?«, unterbrach Narindar ihre Gedanken.

»Ja?«

»Ich möchte dich etwas fragen.«

Sie stutzte angesichts dieser für ihre Freundschaft ungewöhnlichen Ankündigung. »Ja?«

»Du musst aber ganz ehrlich antworten, versprichst du das?«

Sie fühlte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. »Wie ich das immer getan habe.«

»Du hast recht.« Er zögerte einen Augenblick, als müsse er eine innere Hürde überwinden, bevor er schnell weitersprach. Dennoch konnte Ardas die Nervosität in seiner Stimme wahrnehmen. »Möchtest du mich heiraten und mit mir zusammenleben?«

»Das wird er nicht zulassen«, gab sie erschrocken zurück. »Wenn du damit zu ihm gehst, wird er mich sofort wegschicken und einem anderen geben.«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, insistierte Narindar angespannt.

»Ja, ich wünsche mir nichts anderes in diesem Leben«, gab sie glücklich zu, bevor die Vernunft sie sofort wieder gefangen nahm. »Aber dafür gibt es keinen Weg.«

»Und wenn ich einen fände? Würdest du mit mir fortgehen?«, ließ er nicht locker.

Ihm ist es wahrhaft ernst, ging es ihr durch den Kopf. Dennoch seufzte sie niedergeschlagen: »Er würde uns überall finden.«

»Würdest du?«

Für einen Moment gab sie sich dem sehnlichst gewünschten Gedanken hin und malte sich ein gemeinsames Leben mit Kindern aus, bevor sie aus tiefstem Herzen antwortete: »Ja, das würde ich.«

Narindar hätte vor Glück jubeln können. Dabei war gar nichts passiert. Dennoch, in diesem einen Satz lagen all die gemeinsamen Jahre und die Gefühle füreinander, die Ardas in derselben Weise empfand. In diesem Moment fühlte er sich unbeschreiblich ... reich, unverwundbar und grenzenlos. Er würde einen Weg finden, davon war er im Überschwang seiner Emotionen felsenfest überzeugt. Nur wusste er noch nicht, wie. Aber dieses Detail verdrängte er und spürte erneut bewusst ihren Rücken, den er über die Jahre genauso gut kennengelernt hatte wie seinen eigenen.

 

Als es Zeit wurde, erhoben sie sich und verließen lautlos den Schutz der Wurzeln ihres Banyans. Neben der Palme nahm Narindar wie üblich ihre Hände in seine. Sie ahnte mehr, wie er unsicher seinen Kopf auf sie zubewegte und kam ihm entgegen. Zum ersten Mal berührten sich zärtlich ihre Lippen. Wenn es nicht so dunkel gewesen wäre, hätte er das leichte Rot auf ihren Wangen erkennen können. Ardas schlich sich mit einer Mischung aus Glück, Aufregung, aber auch Unruhe und Besorgnis ins Haus zurück. Lange noch lag sie wach, spürte der Berührung auf ihren Lippen nach und hielt den angenehmen Geruch seiner Haut fest, den sie wahrgenommen hatte.

Kapitel 6

Gegenüber Horst Jung und seinem Kollegen Franz Hilpertsauer hatten am vergangenen Tag mehrere Befragte ausgesagt, wie Sylvia Tröger offensichtlich verwirrt durch die Straßen gehastet sei. Manchmal sei sie stehen geblieben und habe sich umgedreht und wild mit den Armen gestikuliert, so als weise sie jemanden zurück. Eine Bewohnerin der Kommune wollte gehört haben, wie sie »bleib fort, teuflischer Dämon, mich bekommst du nicht«, gerufen und daraufhin hysterisch gelacht habe. Ein weiterer Zeuge gab an, wie ein Mann, aus einer Seitenstraße kommend, hinter ihr hergelaufen sei. Er konnte allerdings keine Aussage dazu machen, seit wann dieser die verwirrte Frau verfolgt zu haben schien. Aber er habe mehrfach »Marion, bleib stehen«, gerufen, bevor diese einen Durchgang in der Lärmschutzwand erreicht, die Tür geöffnet habe und dahinter verschwunden sei. Leider hatte der Bewohner den Unbekannten im Zwielicht unter den Bäumen, deren Äste bis über den Gehweg reichten, nicht erkennen können. Als sich erste Fenster wegen des Geschreis geöffnet hätten, habe sich der auffällig verhaltende Mann augenblicklich in den Schutz der Grünanlagen verzogen und die weitere Verfolgung der Fliehenden aufgegeben. Eine Frau und ein Mann einer Wohngemeinschaft hatten die Gefahr für Sylvia Tröger sofort realisiert. Obwohl sie ihr aus einem der dem Durchgang am nächsten liegenden Häusern hinterhergestürmt waren, war es ihnen nicht mehr gelungen, die offensichtlich Desorientierte an der Überquerung der Fahrbahn zu hindern. Leider hatten die Ermittler in den weiteren Vernehmungen bisher keinen genaueren Hinweis zu dem unbekannten Verfolger erhalten.

Es nieselte leicht, als die beiden Kommissare mit ihrem Chef ein weiteres Mal von Tür zu Tür zogen. Die Gebäude sahen in diesem Eck des Areals alle gleich aus: Funktionsbauten aus den siebziger Jahren. Auf der östlichen Seite drei Eingänge pro Block, ein Fenster meist links neben dem Treppenhaus, zwei rechts davon, je nach Größe der Wohnung. Immerhin hatte man früher großzügig Grünflächen eingeplant, so dass die inzwischen in bunten Farben leuchtenden, phantasielosen Zweckbauten in erster Linie wegen ihres Anstrichs hinter den Bäumen und Büschen auffielen. Schnellen Schrittes flüchteten die drei Beamten vor dem Regen unter das Betonvordach mit zentralem Deckenlicht.

»Na, dann mal los«, forderte Thomas Sprengel seine Mitarbeiter angesichts des Wetters mürrisch auf. »Ich nehme die Wohnung im ersten Halbgeschoss, Horst die ganz oben.«

»Diskriminierung«, protestierte der Jüngste im Team wie immer, wenn es darum ging, weitere Strecken zurücklegen zu müssen. »Ältere Menschen benötigen erwiesenermaßen mehr Bewegung, um ihr Leistungsniveau auch nur zu halten.«

»Stell dir vor, du trainierst schon einmal für den Fall, dass dich zwei Kolleginnen begleiten«, scherzte Franz Hilpertsauer und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.

»Ja, Frauen, genau«, war der um eine Antwort nicht verlegen. »Lene hat erst vor kurzem auf Thomas´ ... äh ... großzügige Verhältnisse im Hüftbereich hingewiesen.«

Der Kopfnuss seines Chefs konnte er sich kichernd nur durch seine Flucht in den Regen entziehen.

»Du solltest aufpassen, dass bei dem Regen deine kunstvolle Gelfrisur nicht leidet«, spottete der Beleidigte zurück. »Du stehst wahrscheinlich länger im Bad als Heike.«

Franz Hilpertsauer drückte die drei Klingeln zu den linksseitigen Wohnungen, während Horst Jung sich vorsichtig, aber noch wachsam unter das Vordach traute. Er war an diesem Morgen längst nicht in Bestform, sonst wäre ihm zweifellos eine Replik eingefallen.

»Ja?«, knarzte es aus der Sprechanlage.

»Kriminalpolizei Heidelberg«, antwortete Franz Hilpertsauer. »Könnten wir Sie kurz sprechen?«

»Wieso?«, kam es misstrauisch zurück.

»Wir ermitteln im Todesfall einer Bewohnerin dieser ... Kommune«, gab der Kommissar Auskunft, nachdem ihm die Sprachregelung des Vortages wieder eingefallen war.

Es folgte ein kurzes Stocken am anderen Ende. In der entstehenden Pause vernahmen sie eine Frauenstimme, die sie hereinbat und den Türöffner betätigte. Als Franz Hilpertsauer die Tür aufdrückte, drang die erste Stimme sichtlich nervöser aus der Gegensprechanlage. »Kommen Sie bitte ins Souterrain.«

»Du sicherst den Flur«, wies Franz Hilpertsauer seinen Chef an, während er die Eingangstür weit aufstieß, damit sie nicht ins Schloss fiel. Der schaute wegen der Anweisung verdutzt und sah nur noch wie Horst nach rechts und Franz nach links davonstoben, wobei Letzterer ihm über die Schulter zurief: »Der will türmen. Hier gibt es nirgends Wohnungen im Souterrain.«

Als Peter Hüsing realisierte, dass sein Plan fehlgeschlagen war, sich an den in den Keller gelotsten Beamten vorbei aus dem Haus zu schleichen, eilte er panisch in sein Schlafzimmer, das auf einen Balkon hinausging, der auf der dem Eingang gegenüberliegenden Seite des Wohnblocks lag. Rasch öffnete er dessen Tür und kletterte behände über die Balkonbrüstung, von der er es hängend kaum mehr als einen halben Meter bis zum Boden hatte. So schnell er konnte überquerte er die Rasenfläche, die ein baugleiches Wohnhaus von seinem trennte. Mit einem Satz war er die wenigen Stufen zu einer der Kellertüren nach unten gesprungen und hoffte inständig, diese nicht abgeschlossen vorzufinden. Sonst saß er ziemlich in der Klemme.

Franz Hilpertsauer kam mit gezogener Waffe um die Ecke des Wohnblocks gespurtet und blieb wie angewurzelt stehen. Zwischen den Häusern war niemand zu sehen. Kurze Zeit später erschien Horst Jung am anderen Ende der Rasenfläche. Franz bedeutete ihm mit der Hand, stehen zu bleiben. Der Herr Hüsing, wie er dem Klingelschild entnommen hatte, konnte so schnell nicht einfach verschwunden sein. Diesbezüglich war er sich sicher. Nur wo steckte der Flüchtige? Sie wussten bisher nicht einmal, wie der aussah. Es gab in jedem Block drei Kellerausgänge, die sie aufgrund des Bewuchses nicht einsehen konnten. Was, wenn eine der Türen offen gewesen war? Es musste schnell gehen. Er zückte sein Telefon, um seinen überrumpelten Chef anzurufen, während er gleichzeitig Horst mit einer Handbewegung aufforderte, er solle zur Vorderseite des zweiten Wohnblocks laufen. Als er sah, wie der die Schultern und Hände fragend hob, versuchte er ihm zu signalisieren, wie der Gesuchte durch eine Kellertür nach vorne hätte gelangen können. Es dauerte einen Moment, bis Horst endlich begriff und eiligst verschwand.

»Habt ihr ihn?«, wollte der Hauptkommissar unmittelbar nach Entgegennahme des Anrufs wissen.

»Er ist nirgends zu sehen«, verneinte sein Mitarbeiter schnaufend. Seit er Ekaterina kannte, hatte er zwar schon einiges abgespeckt, aber ein bisschen zu viel war es immer noch, wie sich in dieser Situation ungünstig bemerkbar machte. Insofern ging es ihm keineswegs besser als Thomas Sprengel, nur Ekaterina kommentierte im Gegensatz zu Lene die Röllchen nicht auch noch. »Aber er kann unmöglich weg sein. Du musst die gesamte Hausfront im Auge behalten, falls der Mann durch die Keller wieder nach vorne gelangen sollte. Horst sichert die Vorderseite des nächsten Wohnblocks. Wir benötigen einen Hundeführer und schnellstens mehr Leute.«

»Hmmh«, brummelte sein Chef. »Können wir das nicht selbst erledigen?«

Franz Hilpertsauer verzog das Gesicht. »Wir können nicht alle Fluchtwege sichern und gleichzeitig die Häuser durchkämmen. Sobald irgendwer die Gebäude verlässt, bekommen wir ernsthafte Schwierigkeiten, den Überblick zu bewahren«, beharrte er aufgrund der besseren Ortskenntnis auf seiner Einschätzung.

»Du wirst es wissen«, gab Thomas Sprengel nach, weil er sich auf seinen Mitarbeiter verlassen konnte und ihr Dilemma einsah. »Aber du übernimmst den Papierkram«, murrte er dennoch verdrießlich, während ihm ein Regentropfen in den Kragen seiner Jacke lief, die über keine Kapuze verfügte.

Die Kellertür war verschlossen. Peter Hüsing haderte mit sich und seiner Situation, während er in der schwachen Hoffnung leise klopfte, jemand könnte zufällig seine Wäsche aufhängen. Doch nichts rührte sich. Unauffällig linste er zwischen den Blättern einer Forsythie hindurch. Am südlichen Ende der Rasenfläche sah er zu seinem Entsetzen einen Mann mit Pistole in der Hand, der gestikulierte. Als er am Treppenaufgang vorsichtig in die andere Richtung schaute, bekam er beim Anblick eines weiteren Beamten ein flaues Gefühl im Magen. Ohne Zweifel, er saß in der Klemme. Kurz darauf verschwand der Jüngere hinter dem Wohnblock aus seinem Sichtfeld. Das bedeutete was? Selbst wenn er in den Keller gelangen sollte, käme er vorne nicht mehr ungesehen heraus. Schweiß brach ihm aus. Alles hatte er falsch gemacht. Hätte er nicht in Panik den erstbesten Gedanken, der ihm in den Sinn gekommen war, ausgesprochen, hätten die Beamten viel später begriffen, dass er getürmt war. Allerdings hatte er auch nicht ahnen können, dass die dermaßen auf Zack waren. Und jetzt? Sollte er sich einfach stellen? Der andere Polizist, den er erneut durch die Blätter seines ihn schützenden Busches beobachtete, verließ seine Position keineswegs, telefonierte aber inzwischen. Erneut klopfte er leise an die Kellertür.

Die Beamten öffneten die Tür zu Hüsings Wohnung mit einem Generalschlüssel, den sie sich zwischenzeitlich in der Ashram-Verwaltung organisiert hatten. Hundeführer Konrad Voß ließ seinen Schäferhund Zorro als Erstes an einer Jacke schnüffeln, die an der kleinen Garderobe neben der Eingangstür hing. Das inzwischen ebenfalls eingetroffene MEK hatte sich an den Schmalseiten beider Wohnblöcke postiert, ohne von den Fenstern gesehen werden zu können. Vier Beamte folgten dem Hundeführer. Nachdem Zorro den zu suchenden Geruch aufgenommen hatte, verließ Voß mit dem Hund sowie zwei Kollegen die Wohnung, um Zorro auf der anderen Seite des Hauses unterhalb des Balkons die Witterung aufnehmen zu lassen, während die anderen sicherheitshalber überprüften, ob sich die Zielperson in der Wohnung versteckt hielt.

Peter Hüsing fühlte beim Anblick der Polizisten und des Spürhundes sein Herz bis in den Hals schlagen. Er war geliefert. Nochmals klopfte er von Panik getrieben leise an die Kellertür, aber auch dieses Mal rührte sich nichts. Es war ihm unmöglich, den Blick vom Geschehen abzuwenden. Der Hund nahm unterhalb des Balkons sichtbar die Witterung auf und zog den Beamten geradewegs auf sein Versteck zu. Hüsings Knie wurden schlagartig weich. Der Hundeführer kam immer näher. Mit zittriger Faust klopfte er erneut leise gegen die unnachgiebige Kellertür. Wozu? Es gab doch ohnehin keinen Ausweg. Würde man ihm glauben? Gerade als er resigniert sein Versteck verlassen wollte, klickte der Schlüssel in der Kellertür, durch die Asima fragend ihren Kopf streckte. »Was ...?«

Peter Hüsing schob die hagere Frau einfach in den Keller und schloss die Tür leise wieder hinter sich ab.

»Was ist denn mit dir ...?«

»Psst«, zischte Peter Hüsing. Bevor Asima weiter protestieren konnte, nahm er sie bei der Hand und zog sie rasch von der Tür weg bis ins Treppenhaus. »Die Polizei sucht mich«, flüsterte er eindringlich.

»Wegen Drogen oder weshalb?« Drogen waren zwar im Ashram verboten, aber jeder wusste, dass sich manche nicht daran hielten, die den Weg zur Erleuchtung bequemer oder schneller zurücklegen wollten. Asima schien die Erwähnung der Ordnungsmacht nicht sonderlich zu beeindrucken.

»Nein«, seufzte er, »vermutlich, weil ich der Toten in der Nacht hinterhergerufen habe.«

Die kleine Person runzelte die Stirn. »Und weiter? Die befragen doch alle, ob sie etwas gesehen haben. Hat mir Prem gestern erzählt.«

»Und was ist, wenn die glauben, ich hätte noch mehr mit dem Tod zu tun?« Peter Hüsing wurde immer kopfloser.

Asima schaute ihn irritiert an, blieb aber die Gelassenheit in Person. »Und, hast du?«, wollte sie zunächst einmal wissen.

Er drehte sich von ihr weg, nur um sich ihr sofort wieder zuzuwenden. »Natürlich nicht.«

 

»Warum haust du dann eigentlich ab?«, sah er die Verwunderung auf ihrem Gesicht, das von den durch ihr Alter entstandenen Falten geprägt war. Sie hatte wohl schon Woodstock und dergleichen miterlebt.

»Am Ende glauben die mir nicht«, wurde der wesentlich jüngere Hüsing zunehmend nervöser.

Asima verzog keine Miene. »Leuchtet mir nicht ein. War da noch was?«

Beide hörten, wie der Hund bellte und die Türklinke mehrere Male heruntergedrückt wurde. Peter Hüsing ging hektisch mehrere Schritte zum Treppenabsatz, kam dann wieder zu Asima zurück, blieb vor ihr stehen und schaute sie Hilfe suchend an.

»Verstehe«, nickte sie. »Aber es ist nur eine Frage von Minuten, bis die vor dem Haus stehen, und weil der Hund deinen Geruch kennt, kannst du nicht mal hoffen, die könnten sich durch falsche Angaben zu deiner Person verschaukeln lassen.«

Fahrig fuhr sich der jüngere Mann über sein Gesicht. In diesem Augenblick begriff er, wie es sich anfühlte, gehetzt zu werden. »Ich könnte dich mit einem Messer ...«

»Rede doch keinen Quatsch!«, unterbrach ihn die Ältere. »Das macht alles nur noch schlimmer. Ich gehe jetzt da raus und erkläre ihnen, dass du dich freiwillig der Vernehmung stellst, damit die Bälle wieder flacher fliegen. Draußen steht wahrscheinlich eine ganze Truppe.« Sie machte eine gelangweilte Geste, weil sie noch in einer Zeit groß geworden war, in der Studenten nicht sonderlich gut auf die Polizei zu sprechen gewesen waren.

In Peter Hüsing entstand eine dumpfe Leere. Er hörte Asima nur noch entfernt, nickte mechanisch und ließ sich kraftlos auf die Treppenstufen sinken. Selbst die Angst vor einer Anschuldigung war in diesem tauben Zustand vorübergehend verschwunden.

»Bleib sitzen«, drang es an sein Ohr, bevor Asima die Treppe zum Erdgeschoss hinaufstieg und vor den Eingang trat. Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, blieb Peter Hüsing im Nichts zurück. Aber es war nicht die Art von Leere, nach der dort alle strebten.

»Halt!«, kam ihr ein junger Mann mit aufwendig gegelter Frisur sofort entgegen, als sie von dem dicht bewachsenen Eingangsbereich auf den Fußweg gelangte.

Sie musste schmunzeln. So sahen inzwischen Polizisten aus? Damals hätten sie den nicht ernst genommen. Ah, da kam ja auch die Kavallerie um die Ecke. Es hatte sich nichts geändert. Man hätte meinen können, die suchten einen Schwerverbrecher. Mit freundlichem Gesichtsausdruck, aber verschränkten Armen wartete sie in ihrer orangefarbenen Kleidung bis Horst Jung sie erreicht hatte. Der Regen machte ihr nichts aus, im Gegenteil – sie freute sich für die Pflanzen.

Langsam tauchten endlich konstruktivere Gedanken in seinem Kopf auf. Was war denn bloß in ihn gefahren? Zweifellos, er war in Panik geraten, weil er für einen Moment alles wie ein Kartenhaus in sich hatte zusammenfallen sehen. Er wollte auf keinen Fall in den Bau wandern. Sie würden nicht locker lassen. Ärgerlich drückte Peter Hüsing die Fäuste gegen seine Schläfen. Durch seine hirnlose Reaktion hatte er seine Lage nur noch schlimmer gemacht. Und ja, jetzt musste er sich ernstlich Sorgen machen. Panikartige Gedanken schwollen wie Gewitterwolken in seinem Kopf an, doch plötzlich tauchte ein triumphierendes Lächeln auf seinen Lippen auf. Wie von einer Tarantel gestochen sprang Peter Hüsing auf und hastete durch den Kellergang bis zu den Kellerräumen, die zu den Wohnungen an der nördlichen Seite des Wohnblocks gehörten. Ohne zu zögern, stieß er die Tür auf und rannte, so schnell er konnte.

»Niemand darf den Wohnblock verlassen. Wir suchen einen Verdächtigen«, erklärte Horst Jung der älteren Frau. »Der dürfte sich in diesem Haus aufhalten.«

»Stimmt«, antwortete Asima ungerührt.

Der Kommissar runzelte irritiert die Stirn. »Wie, stimmt? Wie meinen Sie das?«

»Natürlich so, wie ich das eben gesagt habe.«

»Ja, dann machen Sie uns bitte die Tür auf«, forderte Horst Jung sie auf und trat einen Schritt nach vorne, blieb jedoch überrascht wieder stehen, weil Asima ihm freundlich lächelnd, aber bestimmt den ausgestreckten Zeigefinger vor die Brust hielt.

»Einen Moment«, gebot ihm diese ältere Frau, keine fünfzig Kilo schwer, in strengem Ton Einhalt. »Der junge Mann ist nur deswegen völlig panisch geflohen, weil er Angst vor einer falschen Anschuldigung hat. Sie müssen ihn also nicht wie einen Schwerverbrecher ...«

Unterbrochen wurde sie durch einen Funkspruch, den einer der MEK-Beamten erhielt: »Verdächtiger flieht auf der Rückseite, schneidet ihm den Weg ab.« Die Polizisten stürzten sofort los. »Zu Ihnen komme ich später noch«, fuhr Kommissar Jung sie an, bevor er seinen Kollegen folgte. Asima ging ihnen kopfschüttelnd hinterher. Wie konnte der Junge nur dermaßen unvernünftig sein?

Kaum hatte Peter Hüsing das schützende Buschwerk verlassen, kamen schwarz gekleidete Männer hinter seinem Wohnblock hervor, die ausschwärmend auf ihn zuliefen. Gehetzt schaute er sich um, aber hinter ihm näherten sich Franz Hilpertsauer sowie Konrad Voß nebst Zorro und zwei weiteren Beamten. Zusätzlich erschien Hauptkommissar Sprengel im Laufschritt am südlichen Ende der Grünanlage. Verzweifelt lief der junge Mann nach links, aber dort jagten in diesem Moment weitere Polizisten um die Hausecke. Er schlug noch zwei, drei Haken, aber kurz darauf brachte ihn ein Mann des MEKs zu Fall. Als Asima ebenfalls um den Block herumkam, war bereits alles vorüber. Mitfühlend sah sie zu, wie der verzweifelte Peter Hüsing abgeführt wurde. Erleichtert registrierte sie, dass die Polizisten immerhin nicht so brutal wie damals vorgingen. Aber das war hier auch keine Demo.

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