Der Teufel lauert auch im Paradies

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Kapitel 13

Es konnte nicht mehr allzu lange dauern, weniger als eine Woche. Ihre Menstruation ließ nach. Am Morgen waren ihr neben der täglichen Körperpflege die Nägel gefeilt und ihre Haare geschnitten worden. Inzwischen wehrte sie sich nicht mehr dagegen, weil es ohnehin zwecklos war und sie letztlich ihre bisher einzige Chance zur Flucht gekostet hatte. Um es sich leichter zu machen, versuchte sie sich immer wieder einzureden, wie angenehm es doch war, anderen ihre Körperpflege zu überlassen. Leider war das in ihrem konkreten Fall kein Akt des selbstlosen Dienens, das im Ashram sehr groß geschrieben wurde. Wie oft hatten sie sich das anhören müssen: einzig die Hingabe führe zu Gott. Inzwischen hatte sie gelernt, dass sich alles bis zum Perversen verdrehen ließ. Das, was hier mit ihr geschah, diene selbstverständlich nur ihrer Glückseligkeit, und sie »opferten« sich ausschließlich für ihr Seelenheil. Immer wieder ging ihr das durch den Kopf. Jedes Mal fielen ihr dabei neue Beispiele ein, wie Menschen Sachverhalte verdrehten, um über offenkundig Unsinniges Wohlverhalten herbeizuführen. Eine ihrer wenigen Freundinnen hatte eine Schwester, die ihr fast täglich unerlaubt Kleidung aus ihrem Schrank genommen hatte. Auf den irgendwann wütenden Protest hatte die nur entgegnet, sie verstehe das falsch. Das mache sie nur, weil sie sie so sehr bewundere, sie so sehr liebe. Dieser gequirlte Mist war geradezu absurd und einfach nur zum Schreien. Zum Schreien war auch ihre eigene Lage. Insbesondere Menschen, die Macht über andere besaßen, konnten so grausam sein. Macht blieb eben doch der Prüfstein des Menschlichen! Leider gab es nur wenige, die dieser Verantwortung tatsächlich gerecht wurden. Sie nahm einen Schluck Wasser aus dem Schlauch. Noch musste sie sich keine Sorgen machen. Erst wenn sie morgens gebadet und jedes Körperhaar penibel entfernt wurde, begann das immer noch nervenaufreibende Warten.

Das Warten ... Ihre Gedanken flüchteten in die Vergangenheit. Ein blondes Mädchen rannte über eine Wiese. Die Sonne schien, zahlreiche Blumen blühten dort. Der Boden fühlte sich weich unter ihren Füßen an und federte bei jedem Schritt. Auf einer Butterblume sah sie einen blauen Schmetterling, der in die Luft flatterte, weil sie sich so ungestüm genähert hatte. Neugierig folgte sie dem schwebenden Schmetterling bis an das Ende der Wiese, nachdem dieser eine Weile um sie herumgeflogen war. An diesem Ort war sie sehr oft alleine gewesen. Manchmal hatte sie ein paar Blumen gepflückt und mit nach Hause genommen. Aber dieses Mal verlief es anders. Der Schmetterling flog über den Waldweg am Rand der Wiese in den überwiegend undurchdringlichen Wald. Hier und da blinzelten Sonnenstrahlen durch das dichte Blätterdach bis auf den Pfad, dem sie folgte, obwohl ihr verboten war, alleine dort hineinzugehen. Doch der Schmetterling schien immer wieder auf sie zu warten. Sie war so gefesselt von seiner Anmut, dass sie überhaupt nicht merkte, wie weit sie diesem bereits gefolgt war. Unruhig stellte sie fest, dass diese Gedanken nicht mehr zu ihren Kindheitserinnerungen gehörten, konnte sie aber nicht unterbrechen. Plötzlich tauchten Gnome, Hexen und Waldgeister auf, die sie umringten und vom Weg abdrängten, um sie durch den dunklen Wald auf eine Lichtung mit einem teilweise verfallenen Haus zu führen. Nicht einmal in der Vorstellung gelang es ihr, eine starke Heldin zu sein, um sich den Dämonen zu entziehen. Mitleidlos wurde die schiefe Tür quietschend hinter ihr geschlossen. Mit aller Kraft biss sie sich schließlich in den Arm, um ihre Aufmerksamkeit von der bedrohlichen Gedankenkette, die sich in Gang gesetzt hatte, abzulenken. Der Schmerz holte sie in die Realität zurück. Eine Heldin wäre sie manchmal gerne gewesen. Aber dafür war sie insgesamt wohl zu schüchtern, was hier in der Dunkelheit kein Charaktermerkmal war, das große Bedeutung gehabt hätte. Vielleicht wäre sie gar nicht erst hierhergekommen, wenn sie lieber in Diskotheken gegangen wäre und mehr Freunde gehabt hätte?

In einem wütenden Impuls trat sie mit dem nackten Fuß gegen einen der Gitterstäbe ihres Käfigs, der jedoch um keinen Millimeter nachgab. »Nein«, schrie sie aus Leibeskräften, »ich bin nicht schuld daran, hier zu sein. Nein, nein, nein, ich bin auch nicht schuld, dass andere beschlossen haben, mir das anzutun.« Sie begann zu schluchzen, das in einem letzten markerschütternden »Neiiiin« endete. Danach sank sie lethargisch in sich zusammen und begann aus der Leere, die der verzweifelte Wutausbruch hinterlassen hatte, in einen Halbschlaf hinweg zu dämmern.

Kapitel 14

Jo Kühne saß gemütlich hinter seinem Schreibtisch und schaute die beiden Kommissare aufmunternd an. Ihm war durchaus klar, dass Thomas Sprengel und Lene Huscher nicht bei ihm waren, um Urlaub zu beantragen. »Was kann ich für euch tun?«

»Wir sind der Meinung«, Thomas räusperte sich, »dass es gut wäre, beide Dezernate an der Aufklärung der Todesumstände von Sylvia Tröger zu beteiligen.«

»Wenn ich euch nicht kennen würde«, schmunzelte ihr Chef, »würde ich meinen, ihr hättet außerberufliche Interessen. Aber ihr seid ja schon verheiratet. Also was gibt es?«

Lene ergriff das Wort und erzählte von Cornelia Fabers Aussage. »Wir vermuten, dass sie kein Einzelfall gewesen sein dürfte. Sylvia Tröger könnte bei der Suche nach ihrer Schwester auf ähnliche Hinweise hinsichtlich Marions Schicksal gestoßen sein. Möglicherweise ist die nicht nach Indien und Nepal gereist, sondern bei einer Prozedur, wie sie Frau Faber über sich hat ergehen lassen müssen, sogar verstorben.«

»Hmmh«, war Jo Kühne interessiert, aber skeptisch, »was spricht dagegen?«

»Mutter und Schwester hätten gemerkt, wenn das auf der Karte nicht Marions Schrift gewesen wäre ...«

Der Kriminaldirektor nickte. »Und es scheint mir nicht sehr wahrscheinlich, dass ein Ableben von vorneherein einkalkuliert war. Dann hätte Frau Faber ebenfalls prophylaktisch eine Abschiedskarte schreiben müssen. Oder hat sie das?«

Lene schüttelte den Kopf.

»Gut«, zeigte der wie immer braun gebrannte Triathlet bis hierher keine interpretierbare Reaktion. »Was habt ihr mir noch anzubieten?«

»Diese Erneuerungsbewegung«, holte Thomas Sprengel weiter aus, »hat sich von der sogenannten ›3HO‹ abgespalten, der ...«, er musste erst auf seinen Zettel schauen. Diesen esoterischen Slang konnte er sich einfach nicht merken. Hoffentlich verschonte ihn Lene mit dem Thema Yoga. Sie hatte bereits vor einem Jahr angedeutet, das ausprobieren zu wollen, und zu seinem Unglück war Ekaterina inzwischen vollkommen begeistert ... und Susanne, puh. Immerhin war Heiko bisher gegen diesen Frauenkram resistent geblieben. »... ›Healthy Happy Holy Organization‹ eines Yogi Bhajans. Anfang der Neunziger hatte Matthias Untersberger einen Ashram der ›3HO‹ in Hamburg übernommen, dessen Gründerehepaar in die USA zurückkehren wollte. Wenige Jahre später ist bekannt geworden, dass Untersberger für ausgewählte Suchende psychogene Drogen verwendete. Sexgeschichten wurden ebenfalls kolportiert. Für Yogi Bhajan waren Drogen sowie das Berühren der Schüler und Schülerinnen im Unterricht undenkbar, so dass Untersberger aus der ›3HO‹ ausgeschlossen wurde, weil er die Statuten massiv verletzt hatte. Anders als erwartet, traten aber die anderen Ashram-Mitglieder ebenfalls aus und Untersberger gründete die Erneuerungs-Bewegung, die sich über die Jahre immer erfolgreicher international ausbreitete. Er benutzt weiterhin die von dem Yogi gelernten Techniken, verzichtet aber auf die strengen moralischen Regeln Yogi Bhajans, wodurch sich scheinbar erst sein Erfolg einstellen konnte, wenn man die Entwicklung mit den Zahlen der ›3HO‹ vergleicht. Die meisten der parallel gegründeten Firmen produzieren alles, was man für Yoga braucht, und sind als Tochterfirmen kaum den Erneuerungsleuten zuzuordnen. Der Jahresgewinn aller Sparten vor Steuern beläuft sich inzwischen auf fast dreißig Millionen Euro.«

Jo Kühne pfiff durch die Zähne. »Ich hätte nicht gedacht, dass man mit ein bisschen Alle-haben-sich-lieb so viel Geld verdienen kann. Aber du willst ein Motiv konstruieren, sehe ich das richtig?«

Auf den Kopf gefallen war ihr Chef wahrlich nicht. »Genau. Wenn Sylvia Tröger auf etwas gestoßen sein sollte, das den Ruf dieses Vereins nachhaltig beschädigt hätte, würde das gesamte Marketing ins Leere laufen.«

»Bei einem einzigen Fehltritt?«, zweifelte Kühne diese Wirkung an.

»Das wäre durchaus möglich«, fügte Lene hinzu. »Frau Faber hat noch ein wenig über Interna geredet. Die meisten in den Ashrams folgen der Bewegung aufgrund ihres charismatischen Führers. Wenn dem ein Verbrechen gegen ein Mitglied nachgewiesen würde, wären er und das Konzept absolut unglaubwürdig.«

»Das kann ich ...«, wollte Jo Kühne relativieren, wurde aber von seinem Kommissar höflich unterbrochen. »Darf ich?«

Sollte er der Werbung für eine Soko ausgesetzt werden? »Bitte«, blieb er jedoch gelassen und offen für die Argumente der beiden.

»Yogi ...«, Thomas Sprengel schnaufte, weil er ein weiteres Mal seinen Zettel bemühen musste. »Yogi Bhajan war ebenfalls eine überaus charismatische Person. Der hat das allerdings mit dem Dienst an den Menschen und den Mitgliedern der ›3HO‹ sehr ernst gemeint. Bis zu seinem Tod hielt sich das Wachstum der Erneuerungsbewegung in Grenzen, danach fehlte es der ›3HO‹ an einer ...«, er zögerte, weil er nicht wusste, wie er das formulieren sollte, Lichtgestalt ging überhaupt nicht, »... alles überstrahlenden Persönlichkeit«, rettete er den Satz schließlich. »Im Laufe der Zeit setzte zudem eine gewisse Erosion ein, indem beispielsweise nach dessen Tod ›holy‹ nicht mehr ausschließlich mit ›heilig‹, sondern immer häufiger auch mit ›ganzheitlich‹ übersetzt wurde.« Der Hauptkommissar stöhnte. »Frag mich nicht, was daran so schlimm sein soll, aber Tatsache ist, dass nach Bhajans Tod das Wachstum der Erneuerungsbewegung rasant zugenommen hat. Das könnte natürlich nur zufällig gewesen sein, weil sich die Zeiten deutlich geändert haben und die Leute sich heutzutage weniger gerne in strenge Regeln fügen.«

 

»So viel redest du ja selten am Stück, Thomas«, spottete sein Chef angesichts dieses ausführlichen Vortrags. »Die Mitglieder würden sich nach einem Eklat mehr der ›3HO‹ zuwenden, die sich immerhin auf den Gründer dieser Form des Yogas berufen kann, aha.« Kühne kaute auf seiner Unterlippe, während er nachdachte. »Aber wie haben die das gemacht?«, fragte sich der Behördenleiter. »Es war doch absoluter Zufall, dass Sylvia Tröger die Tür in ihrem Wahn nimmt, selbst wenn die absichtlich in der Schallschutzwand offen gelassen worden wäre?«

»Dazu haben wir leider noch keine belastbare Idee«, mussten die beiden Ermittler eingestehen. »Aber wir versuchen weiterhin, Zeugen zu finden, über deren Aussagen wir den Weg von Frau Tröger möglichst von ihrer Wohnung bis zu der Schallschutzwand rekonstruieren können. Insofern wäre es gut, wenn zumindest Lene uns bei den Ermittlungen unterstützt. Sie könnte sich um den Themenkomplex ›sexueller Missbrauch und Vergewaltigung‹ wie bei Frau Faber kümmern«, begründete Kommissar Sprengel ihr Anliegen.

»Deren Klage wurde damals abgewiesen«, warf Jo Kühne scheinbar unbarmherzig ein. »Und andere Fälle sind in Heidelberg nicht bekannt, oder?«

»Bisher nicht«, bestätigte die Dezernatsleiterin, »aber du weißt selbst, wie viele Frauen sich nicht trauen, Anzeige zu erstatten. Das dürfte insbesondere gelten, wenn sich eine derartige Klausel findet.«

»Hüsing ist draußen?«, wollte ihr Chef noch wissen.

Sein Hauptkommissar nickte griesgrämig. »Genau betrachtet könnte Hüsing Sylvia Tröger das LSD auch nur verabreicht haben. Damit bliebe immerhin eine Körperverletzung, vielleicht mit Todesfolge. Mit dem bin ich noch nicht fertig. Aber ich gebe zu, dass derzeit nichts für eine solche Annahme spricht.«

»Viel Gerede um wenig Substanz«, fasste Jo Kühne das Gehörte emotionslos ohne jeden Vorwurf zusammen. »Macht mal, wenn das zeitlich drin ist. Habt ihr euch eigentlich schon gefragt, ob Marion Tröger unfreiwillig ins Ausland verschoben worden sein könnte?«

Lene und Thomas schauten sich überrascht an. »Ehrlich gesagt, waren wir bisher nur mit Sylvia Tröger beschäftigt.«

»Eure Hypothese, Sylvia Tröger könnte etwas gefunden haben, muss nicht deren Tod betreffen«, erläuterte ihr Chef seinen Gedankengang. »Möglicherweise geht es auch um Menschenhandel in irgendeiner Form. Das würde jedenfalls die eigenhändige Karte erklären, zu der man sie gezwungen haben könnte.«

»Du bist uns einen Schritt voraus«, gestand Thomas ein.

»Deswegen bin ich ja auch Kriminaldirektor«, lachte Kühne und klatschte sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel. »Spaß beiseite. Ich muss mich im Gegensatz zu euch nicht um die Detailarbeit kümmern. Ihr solltet euch den Laden genauer ansehen. Ich werde mal bei unseren Freunden vom BKA anfragen, ob die vielleicht Informationen für uns haben.«

Zufrieden verließen Lene Huscher und Thomas Sprengel das Büro ihres jederzeit kooperativen Chefs. Thomas gab Lene im dritten Stock einen Kuss auf die Wange und schaute ihr wie immer noch hinterher, wie sie mit diesem leichten Hüftschwung die Treppen geradezu hinabschwebte. Und wie immer winkte sie nochmals nach hinten, ohne sich umzudrehen, weil sie wusste, dass er noch da stand, um sich an ihrem ... ja, kleinen Hintern zu erfreuen. Jetzt durfte bloß Horst Jung nicht vorbeikommen, der ihn jedes Mal damit aufzog, wie paralysiert er seiner Frau beim Abschied hinterherstarrte.

Kapitel 15

Narindar hatte die Batala-Amritsar-Road verlassen und fuhr durch die Randbezirke von Amritsar. Im Kofferraum transportierte er reife Ananas, die sein Chef auf der Plantage bei Hassanpura in kleinen Mengen hatte pflanzen lassen. Ansonsten wurden dort neben Obst für den Eigenbedarf Baumwolle, Weizen, Kaffee, Tee und Pfeffer in einer Größenordnung angebaut, die für indische Verhältnisse bisher ungewöhnlich dimensioniert war. Es sollte nur eine Frage der Zeit sein, bis sich die Kleinbauern nicht mehr halten können und ihr Land Männern wie Amit Kumar abtreten müssen. Er zweifelte zusehends daran, dass das System der Mikrokredite auf lange Sicht die gewünschten Effekte entfalten konnte. In einem Bericht im Fernsehen hatte er quadratkilometergroße Felder in den USA gesehen. Dagegen war selbst ihre für indische Verhältnisse riesige Plantage irrwitzig klein. Immerhin war sein Chef so klug gewesen, nicht auf gentechnisch veränderte Pflanzen zu setzen. Im Gegenteil, er hatte seinen Baumwollanbau auf biologische Kriterien umgestellt, der ihm aufgrund der zunehmenden Nachfrage aus dem Ausland einen guten Preis sicherte und seine Ernteerträge stabil hielt. Sein »Vater« war in wirtschaftlichen Dingen ein sehr lehrreiches Vorbild. Deshalb bekümmerte ihn dessen Kälte gegenüber dem Tod der Deutschen umso mehr. Auf dem Rückweg von Delhi hatte ihn sofort wieder sein schlechtes Gewissen gepackt, weil er sein Verhalten trotz allem als illoyal empfand. Der Verkehr glitt dahin, rote Ampeln, Gehupe, Rollerfahrer, bis er den Wagen in die Auffahrt zur Villa seines Ziehvaters lenkte, ohne dass er hätte sagen können, wie er dorthin gekommen war.

Mit dem Korb Ananas betrat er durch den Seiteneingang die Küche, in der sich in diesem Moment niemand aufhielt, und stellte seine Fracht auf eine Anrichte neben der Speisekammer. Etwas ratlos sah er sich um. Er musste dringend mit Ardas sprechen. Als er im Begriff war, sich einen Zettel von einem Block neben der Küchentür abzureißen, um eine Nachricht zu schreiben, die er wie üblich im Halsband des Dobermanns verstecken wollte, ging die Tür zum Esszimmer auf, in der unerwartet Ardas vor ihm stand. Als sie sah, wen sie überraschend in der Küche vorfand, zog sie rasch die Tür hinter sich zu, kam zu Narindar geeilt und strich ihm sanft über eine Wange. Der ergriff ihre Hand und führte die Handfläche kurz zärtlich an seine Lippen.

»Wir müssen uns unterhalten«, flüsterte er hastig, weil er nicht wusste, wann jemand kommen würde. »Heute?«

»Das geht nicht«, schüttelte Ardas den Kopf, »heute ist der Empfang bei Alok, zu dem ich Baba begleiten soll. Das wird spät werden. Aber wo warst du gestern?«, warnte sie ihn, weil sie glaubte, dass er wegen seines Planes nicht erreichbar gewesen war. »Baba hat mehrfach versucht, dich zu erreichen.«

»Das ist eine längere Geschichte«, flüsterte er nervös. Die Tatsache, dass ihr Vater ihn gesucht hatte, beunruhigte ihn. Immerhin hatte Ardas ihn warnen können. »Wann?«

Schritte waren im Esszimmer zu hören, die sich schnell der Küchentür näherten.

»Übermorgen«, zischte die junge Frau, stieß ihren Verlobten von sich und verschwand schnellen Schrittes, aber lautlos in der Speisekammer, wo sie hörbar den Korb mit Ananas ausleerte. Narindar hatte sich wieder über den Block gebeugt und rief laut, ob er noch etwas von der Plantage für den Abend besorgen müsse, als die Köchin die Küche betrat.

Roshanara hatte keinen Verdacht geschöpft und Narindar nur im Vorbeigehen durch das Haar gewuschelt, was dieser mit einem unwilligen Brummen über sich ergehen ließ. Die alte Köchin hatte sie im Wesentlichen aufgezogen und war sowohl Ardas als auch Narindar ans Herz gewachsen. Meistens war sie streng, aber nie ungerecht. Trotz moderner Zeiten war sie der festen Überzeugung, dass Kinder eine sinnvolle Führung benötigten, um integer, verlässlich und selbstständig werden zu können. Ließ man sie immer gewähren, würden sie wie Schmetterlinge, die immer nur auf der Suche nach den Blüten mit dem süßesten Nektar waren.

»Was hast du uns heute mitgebracht, Narindar?«, fragte sie beiläufig, während sie sich einem Huhn zuwandte, das gefüllt werden sollte.

»Ananas«, erwiderte der junge Mann, der Roshanara bereits als kleiner Junge gerne bei der Arbeit zugesehen hatte. Sie arbeitete schnell, mit routinierten, eleganten Bewegungen. Auch sie trug einen Sari, der stets vorbildlich sauber war und ihre für ihr Alter nicht zu fülligen Formen weitgehend verbarg. Alle weiblichen Bediensteten trugen indische Tracht, weil ihrem Chef das heimische Flair trotz oder gerade wegen seiner internationalen Laufbahn grundsätzlich wichtig war. »Muss ich sonst noch etwas besorgen?«

Ardas kam aus der Speisekammer, doch ihr Blick streifte Narindar kaum. Roshanara überlegte, während sie kurz in der Arbeit innehielt. »Nicht das ich wüsste«, war sie sich unschlüssig. »Fällt dir noch etwas ein, Ardas?«

»Nein, Roshanara«, gab die knapp zurück, bevor sie die Küche verließ.

»Du hast gehört, was deine Schwester gesagt hat«, wandte sich die Köchin neben Narindar wieder ihrem Huhn zu. »Warum stehst du dann hier noch herum, hast du nichts mehr zu tun?«

»Doch«, er trollte sich. Roshanara hatte sie immer als Geschwister gesehen und sprach beide auch entsprechend an. Er war sich nicht sicher, was die Köchin darüber denken würde, wenn sie von der Absicht erführe, dass die »Geschwister« heiraten wollten. Gerne hätte er mit ihr darüber gesprochen, aber das war viel zu riskant.

Mit einem flauen Gefühl im Magen klopfte er am Büro seines Ziehvaters. Auch wenn es ihm schwerfiel, musste er klären, was der am Tag zuvor von ihm gewollt hatte. Er hoffte inständig, dass Amit nicht zu viele Fragen stellte.

»Ja?«, Amit Kumar blickte von einem Stapel Papiere auf.

»Guten Morgen, Baba«, Narindar war durch die offene Tür eingetreten und spürte, wie seine Finger vor Nervosität leicht zitterten.

»Ah, Narindar«, wurde er freundlich begrüßt. »Gut, dass du kommst. Du musst einen Botengang übernehmen.«

Sollte er davonkommen? Sein Magen entspannte sich. »Was gibt es?«

»Alok hat bereits bezahlt«, lachte der graumelierte Ex-Diplomat selbstzufrieden. »Offensichtlich hat er eingesehen, dass es für ihn nicht gut wäre, es sich mit mir zu verderben. Du gehst noch heute zu Bhagwan in den Ashram und bestellst eine neue Deutsche! ... Eine Schwedin ginge auch.«

Narindar musste sich beherrschen, um sich nichts anmerken zu lassen. Sein Ziehvater hatte den Auftrag in einer Weise ausgesprochen, als benötige er eine neue Matratze für ein Bett. Bisher hatte der Chef die »Bestellungen« stets selbst aufgegeben. Sollte er nun einbezogen werden, um ihn emotional abzuhärten, nachdem er sichtbar Anteil an dem Tod der Deutschen genommen hatte? Er schluckte.

Amit Kumar schaute ihn erwartungsvoll an.

»S...«, ihm blieb zunächst die Stimme weg. Nach einem kräftigen Räuspern setzte er erneut an: »Soll sie aussehen, wie ... wie ... die Letzte?« Schon wieder steckte ihm ein Kloß im Hals.

»Ja, wie sah sie denn aus?«, ließ ihn sein Ziehvater nicht einfach davonkommen.

Wenn er eines sicher wusste, dann dass er so nicht werden wollte. Sie sprachen über Menschen. Das war ihm leider erst richtig klar geworden, nachdem die arme, zur Prostitution gezwungene Frau gestorben war. Vorher war das eben wie immer gewesen. Er war quasi damit aufgewachsen, dass es Frauen gab, denen diese ... Aufgabe zukam. Wie es auch Frauen gab, die den flüssigen Durchfall ihrer Herrschaft in einem löchrigen Weidenkorb auf dem Kopf davontragen mussten, nur weil sie der falschen Kaste angehörten. Kühe wurden in Indien besser behandelt. Aber momentan hatte er keine Wahl. Insbesondere wenn er seinen Plan nicht gefährden wollte, durfte er sich keine Blöße geben. »Blond, blaue Augen, sehr schlank, mädchenhaft, aber nicht knochig«, zählte er die Anforderungen auf, die Amit gerne stellte.

»Wir verstehen uns, wie immer«, war sein Ziehvater zufrieden. »Oder möchtest du lieber ausladende Brüste?«, provozierte er den jungen Mann unerwartet.

»Ganz wie du wünschst, Baba!«, versuchte der sich vor einer Antwort zu drücken. Tief in seinem Inneren spürte er Abscheu aufsteigen, die sein schlechtes Gewissen und seine Dankbarkeit diesem Mann gegenüber umgehend in einem entfernten Winkel seines Bewusstseins einsperrten.

Amit lachte laut auf. »Nein, wie du willst, also?«

Sein Verstand versuchte einen Ausweg zu finden. Alles in ihm weigerte sich, am Ende daran schuld zu sein, dass gerade diese eine Frau nach Indien verschleppt werden würde.

»Ich höre!«, durchbrach es schärfer die Stille.

Narindar zuckte unmerklich zusammen, hatte aber rechtzeitig eine Lösung gefunden. »Weil wir Geld verdienen wollen, sollten wir das nicht an meinen, sondern an den Wünschen unserer Kunden festmachen.«

 

Amit nickte zu Narindars Erleichterung. »Wohl gesprochen. Also wie immer. Deine Aufgabe wird sein, einen guten Preis zu verhandeln.«

»Ja, Baba.«

»Dann ab mit dir«, wurde Narindar entlassen. Als er schon fast durch die Tür war und sich Erleichterung einstellen wollte, bohrte sich die ihm nachgerufene Frage doch noch in seinen Rücken: »Ach, wo warst du gestern? Dein Telefon war ausgestellt!«

Es fühlte sich an, als quetsche eine Faust seinen Magen zusammen. Die Finger begannen sofort wieder fein zu zittern, während er sich umdrehte. »Mein Akku war leer. Deshalb hatte ich das Telefon zu Hause gelassen.«

Amit zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen. »Und du warst wo?«

Narindar zögerte kurz, bevor ihm sein neutraler Geist zu seiner Erleichterung zu Hilfe kam. Nur wenn man wusste, was er dort gemacht hatte, war seine Reise verdächtig. Folglich war es am besten, so nah wie möglich an der Wahrheit zu bleiben. »Ich war in Delhi.«

Die Augen seines Gegenübers wurden äußerst schmal. »Für einen Tag?«

»Aber ich hatte doch frei«, entgegnete er ausweichend mit immensem Herzklopfen, das lautstark in seinen Ohren pulsierte.

Unerwartet entspannte sich der Blick von Amit Kumar, der sich wieder gemütlich in seinem Stuhl zurücklehnte. »Die große Welt. Ich war auch mal so. Ist gut, Narindar.«

Erleichtert entfernte er sich schnell, obwohl sich seine Beine sehr weich anfühlten. Er ahnte nicht, wie nachdenklich der Blick war, der ihm folgte. Umgehend verließ er das Haus und setzte sich in seinen Lada. Narindar legte beide Hände auf das Steuer und atmete tief durch. Für ihn gab es keine Möglichkeit, sich seiner Aufgabe zu entziehen, die er sofort erledigen musste. Hatte er eine andere Wahl, wenn er sich und vor allem Ardas nicht gefährden wollte? Ansonsten konnte er nur auf den Anruf der »Deutschen Botschaft« warten – und er war keinesfalls sicher, ob der erfolgen würde.

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