Wir hatten mal ein Kind

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LUNATA

Wir hatten mal ein Kind

Wir hatten mal ein Kind

Eine Geschichte und Geschichten

© 1934 Hans Fallada

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Erster Abschnitt

Zweiter Abschnitt

Dritter Abschnitt

Vierter Abschnitt

Fünfter Abschnitt

Sechster Abschnitt

Erster Abschnitt
Die Urgeschichte des Helden

Johannes Gäntschow wurde am zwölften März 1893 als Sohn einfacher Bauersleute auf der Insel Rügen, und zwar auf deren Halbinsel Fiddichow, geboren. Der Hof Warder, auf dem diese Geburt stattfand, liegt etwa fünfzehnhundert Meter von Kirchdorf entfernt, allein unter uralten Linden und Pappeln. Auch von der Landstraße zum Suhler Hafen hält er sich eine Schlagbreite ab. Dort, wo der Fahrweg zum Hof von dieser Straße abzweigt, hatte schon Malte Gäntschow, des Johannes Großvater, das Schild auf einen Pfahl gestellt:

Hier wohnt Malte Gäntschow

Kauft nichts – Verkauft nichts

und empfängt auch keine Besuche.

Da er aber den Lesekenntnissen seiner Mitmenschen mißtrauen mochte, da er auch als Bibelkundiger den Spruch kannte ›Verstehest du auch, was du liesest?‹, so wurde weiterhin auf dem Hof stets eine ganze Meute von Hunden gehalten, die jeden leichtsinnig die Tafel Mißachtenden heulend, zähnefletschend, anspringend, kleiderzerreißend empfing.

Diese Hunde, wahre Nachkommen des deutschen Schäferspitzes, in weißen, hell- wie dunkelbraunen, sowie schwarzen Färbungen, mit listig verschlagenen, aber auch mutigen Wolfsköpfen, hatten sich schon unter des Johannes Großvater Malte so vermehrt, daß ihrem Tätigkeitsdrang wie ihrer Fresslust der heimische Ausbauhof zu eng wurde. In Banden zu zwölf und fünfzehn durchstreiften sie die ganze Halbinsel, sie wurden ebenso auf Sagitta gesehen wie in Schranske, sie jagten in Leerhof die geängsteten Schafe um den Tüder, bis sie zusammenbrachen, und veranstalteten auf der Kerbe Treibjagden auf Kaninchen.

Rau und zottig, mit wild funkelnden Augen, die Narben vieler Schlachten auf dem Leibe, mit zerrissenen Ohren und hinkend von den Schrotschüssen ihrer Feinde, versteckten sie sich abenteuernd längs des Feldwegs in einem Kornfeld. Kam dann ein Bauernmädchen mit seinem Einholkorb von Kirchdorf, so sah es plötzlich einen schmutzigen, demütigen Hund vor sich auf dem Boden kriechen, hilfeflehend zu ihr emporlechzen. Setzte sie den Korb ab, beugte sich mitleidig zu dem Verendenden, so war plötzlich die ganze, gespenstisch von hinten angeschlichene Meute in ihren Röcken, kniff und fetzte, und, während sie aufschreiend sich zu retten suchte, der vermeintlich Sterbende durch ihre Beine kroch und sie zu Fall brachte, rollte der Korb mit den Einkäufen im Gras. Die Hunde entflohen, lautlos wie ein Spuk, das Fressbare mit sich schleppend. Das arme Mädchen aber hatte im Korn die Nacht mit ihrem verhüllenden Dunkel zu erwarten, da es nicht rocklos in Büxen, manchmal auch sommertags ohne Büxen, heim ins Dorf konnte. Aber ging sie auch noch so spät heim, es kam doch immer heraus, und dröhnendes Gelächter und grobe Späße folgten ihr noch lange.

Wasser und Wind, ein unbeständiger, meist grauer Himmel, endloser rauer Winter und spätes Frühjahr, schwieriger Ackerbau, von Schiffbruch bedrohte Seefahrt haben die Bewohner dieser Halbinsel wohl wortkarg und rau, aber auch derben Späßen und lautem Gelächter geneigt gemacht. Zwar wehrten sie sich mit Steinen, Stöcken und Schießprügeln gegen die Gäntschow'sche Hundepest, erschlugen und vergifteten, so viele sie nur konnten, aber den Gäntschows nahmen sie das nicht weiter übel: wer keinen Sparren im Hirnboden hat, ist kein Fiddichower, doch wer einen derben hat, ist den Fiddichowern grade recht. Es ist eigentlich eine Zufallssache: entweder wird man bei solchem Klima hintersinnig und ein Spökenkieker, oder man läßt ein paar Fliegen burren, sich und der Nachbarschaft zur Freude.

Einmal wurde von einem ahnungslosen Nichteingeborenen der Landjäger, der damals noch Landgendarm hieß, in Sachen Gäntschow'scher Hunde mit einem Einspruch bemüht. Er lauerte den Bauern Malte listig in einem Wasserloch ab, wie sie dort häufig in die Äcker eingesprengt sind, von Weiden und Espen umstanden. Es war ein heißer Sommertag, der Bauer stand nackt im Loch und spülte sich die schwarzzottige Brust. Zwei Hunde lagen rasch atmend im grünen kühlen Gras, der eine schön schwarzbraun wie ein kühner Löwe, der andere sanft weißgelb, als könnte er kein Wässerchen trüben, doch mit listigem Auge. Beide Hunde klopften freudig mit den Schwänzen ins Gras, als sie den Gendarmen sahen. Der aber hätte schwören mögen, daß es eben dieses weißgelbe Katzenauge gewesen war, das vor ein paar Tagen in der Dämmerung eine wütende Attacke auf seine schwarzledernen Gamaschen gemacht hatte.

Was er, der Bauer Gäntschow, sich nun eigentlich denke mit seinen Hunden, Hettitern und Amalekitern, wieder sei eine Stadthose zerrissen und eine städtische Wade zerbissen.

Woran man es denn wohl gesehen habe, daß es seine, die Gäntschow'schen Hunde, gewesen seien, fragte der Bauer dagegen.

Er möge nur fein ruhig sein, seine Hunde seien bekannt auf der ganzen Halbinsel, da brauche es keine Visitenkarte, sagte der Gendarm, aber er setzte sich doch ausruhend ins grüne Gras.

Der Bauer riß eine Handvoll frischen Rohrs aus, knudelte es zusammen und fing an, sich den Rücken zu scheuern. Er müsse sich wundern, meinte er, was man da so leichtsinnig hinrede, er habe nur zwei Hunde, und daß das ganz harmlose Viecher seien, das habe der Gendarm ja eben erst gesehen: selbst bei seinem Anblick hätten sie freudig mit dem Schwänze gewedelt. – Wo doch die Hunde bekannterweise Uniformen gar nicht möchten, setzte er bedachtsam hinzu und verschwand mit dem Kopf unter Wasser.

Der Gendarm mußte seinen Zornesausbruch ob solcher Verlogenheit aufschieben, bis der Bauer wieder aufgetaucht war. Da der Bauer aber einen breiten Brustkasten hatte, dauerte es ziemlich lange. – Nicht nur der Bauer, auch der Zorn war danach etwas wäßrig geworden.

Was man da sagen solle, meinte der Gendarm, wo es doch auf der ganzen Insel bekannt sei, daß der Gäntschow über dreißig Hunde habe.

Er müsse sich immer mehr wundern, sagte der Bauer, seine Kopfhaut reibend, wie auch die Obrigkeit auf solch dummes Geklätsch hören möge. Zwei Hunde habe er, der Gendarm möge nur mit dem Gemeindevorsteher sprechen, zweie habe er auch nur versteuert.

Und damit würde jetzt Schluss sein, versicherte der Gendarm zornrot, er selbst nehme es auf seinen Diensteid, daß er über zwanzig Hunde auf dem Warderhofe habe fressen sehen.

Wohl, wohl, dies sei schon möglich, aber so sei er nun mal, er, der Bauer Gäntschow: bei ihm hätten alle Hunde aus ganz Fiddichow freien Tisch. Die Bauern auf dieser gesegneten Insel gäben ja ihren Hunden nie richtig zu fressen, er erbarme sich der Kreatur und zum Dank schöbe man ihm das ganze Hundepack der Halbinsel in die Schuhe.

Jetzt war der Gendarm sprachlos und der Bauer trat gewaltig aus dem Wasserloch. Die Feuchte rann von seinen Lenden, er lockte den löwenartigen Hund und fragte den Gendarmen, ob er wohl glaube, daß dieser Hund sein eigener Vater, ja, er wolle es frei sagen, sein eigener Großvater sei?

Ihm sei nicht nach Späßen zumute, sagte der Gendarm mürrisch, ob die städtische Hose und die städtische Wade bezahlt würden?

Dieser Pux, sagte der Bauer, hat mit seiner Mutter dort, der blonden Sussi, Kinder gezeugt, die seine Brüder sind, von wegen der Mutter. Da er aber der Vater seiner Geschwister ist, ist er auch sein eigener. Hast du's begriffen?

Er solle nun aufhören damit und antworten, aber der Bauer sprach weiter: Mit einer seiner Töchter hat er wiederum Kinder gezeugt und da er der Vater seiner Frau und der Bruder seiner Enkelkinder ist, zugleich der Gatte seiner Mutter und Großmutter ...

Halt! schrie der Gendarm. Und wo sind die Kinder alle, wenn du nur zwei Hunde hast, Malte?!

Keine habe ich, schrie der Bauer, siehe, ich verstoße auch noch die letzten!

Und er stürmte nackt und wild auf die Hunde los, sie wichen blaffend, nackt raste ihnen der Bauer nach, wüste Steine aufhebend und nach ihnen werfend. Ein haariges bloßes Urwaldtier sah ihn der Gendarm durch die Felder hofwärts entschwinden, wilde Flüche auf die Biester ausstoßend, zu jenem Hofe, den zu betreten eben die verstoßenen Hunde unmöglich machten, selbst für den mutigsten Gendarmen. –

Der Hof lag in dem sonst hier flachen Lande auf einer leichten Anhöhe, nicht höher als etwa ein umgekippter Suppenteller. Aber diese geringe Erhöhung genügte doch, um den Blick auf das Wasser nach fast jeder Himmelsrichtung frei zu machen. Im Westen war der Rieker Bodden, nach Süden der Dreeger, im Osten war oft, nicht immer die Lommer Wiek zu sehen, nach Norden freilich nichts. Denn hier hob sich das Land sachte und kaum merklich zur Steilküste, die das Meer verdeckte. Dafür stand dort der Leuchtturm von Sagitta, der Nacht für Nacht, Sekunde für Sekunde seine schmerzend weißen Lichtschwerter nicht nur über die See, sondern auch in alle Fenster stieß, daß die ganze Stube gespenstisch aufleuchtete, wieder in Schwärze fiel ... aufleuchtete ... Schwärze fiel. Und alle Nebelzeiten erfüllte er mit seinem tiefen, urwelthaft traurigen Gebrüll, kommend, anschwellend, übermächtig, und langsam wieder schwächer werdend.

 

Ein Bauer, der nur seinen Acker sieht, ein Bauer, der Regen und klaren Himmel nur nach seinen Feldern beurteilt, solch Landbauer wird eng, sorgenvoll, sein Blick haftet stets in der Nähe. Die Gäntschow-Bauern sind immer aufgestanden mit dem Blick auf die See, jeder Oststurm hat die rotschnäblige Lachmöwe, die silberköpfige Heringsmöwe in kreischenden Scharen hinter seinen Pflug in die Furche auf die Engerlingsjagd geweht. Die Kähne der Fischer mit ihren düsterbraunen oder lohfarbenen Segeln haben immer irgendwo am Horizont gestanden – das hat gemacht, daß sie von der eigenen Arbeit aufsehen und in die Weite schauen konnten. Ein Bauer, der seinen eigenen Kahn im Wasser hat und der angeln geht, ein Bauer, der abends im Krug mit den Fischern zusammenkommt und nicht nur von Schweinefüttern und Kartoffeligeln, sondern auch von Dorschfang und Heringswaten reden kann, ein Bauer, der nicht nur Bauerstöchter, sondern auch Fischerstöchter, Kapitänstöchter (auf kleine Fahrt) erheiratet – solch Bauer kann ein Herr werden in seinem eingeborenen Königtum, ein wahrer Großbauer mit einer Meute Hunde – und nimmt sich doch nicht zu wichtig.

Der Hof ist seit vielen hundert Jahren im Besitz der Gäntschows, sie haben hier immer gehaust und gepflügt, auf dem Friedhof in Kirchdorf liegen sie Grab an Grab. In den Flurbüchern heißt es oft Gäntschows Ort, Gäntschows Feld, Zu Gäntschows Bake.

Man erzählt, daß früher, in grauen Zeiten, die Fiddichower alle zur See gefahren und Räuber gewesen sind, auf Sagitta liegen noch die grasigen Wälle ihrer Ringburg, in die sie sich mit Weib, Kind, Rind und Pferd vor dem Drängen ihrer Feinde flüchteten. Zum letzten Male bargen sie sich dort vor den Kriegerscharen des Herzogs Wisso, der ihnen die sanfte Lehre des Christentums brachte. Ausgehungert, ihrer Schiffe beraubt, vom Stahle bedroht, beugten sie sich vor dem Kreuz und nahmen die Lehre an. Doch erzählt die Sage, daß schon am Morgen nach der Tauffeier Herzog Wisso seinen weißen Kriegshengst vermißte. Man fand die Reste des herrlichen Tiers auf einem Opferstein bei einem kleinen Teich, der heute noch der Kehlteich heißt. Die neuen Christen hatten des Herzogs Lieblingstier zu ihres alten Gottes Ehren dahingeschlachtet. Ob sie es nun aus unverständigem Aberglauben getan hatten, um sich vor der Rache ihres alten Gottes zu schützen, oder ob sie dem Herzog Wisso nur einen Streich hatten spielen wollen, gleichviel, ihr vornehmster Mann, Gunnar geheißen, verlor damals auf dem gleichen Opferstein am Kehlteich sein Haupt, diesmal als Sühnopfer für den neuen Gott.

Dies sind alte Geschichten, von denen niemand mehr weiß, ob sie wahr oder erlogen sind, doch werden sie noch immer erzählt, besonders von den Gäntschows, die ihren Ursprung von diesem hingeopferten Gunnar herleiten. Sicher ist aber, daß Superintendent Marder und Kantor Bockmann behaupten, diese Geschichte könne schon wahr sein. Denn die Gäntschows seien noch heute die reinen Heiden, mit Saufen, Strandgutstehlen, Wildern und Huren. Und Malte Gäntschow, der Großvater, hat noch entschuldigend von sich gegrient: Wir sind ja man gestern erst Christen geworden, Herre. Das sitzt noch nicht so, Herre, wie bei Ihnen.

Verbürgter schon, aber auch noch etwas sagenhaft und von Grauen umwittert ist die Geschichte jenes Urahns Gäntschow, der in seine eigene Tochter verliebt gewesen war und der darüber ein schreckliches Ende fand.

Er hatte es nicht gewußt, daß er sie liebte, bis sie ihm gestorben war. Nun aber war sie tot und es schien ihm, als sei er mit ihr gestorben. Nie mehr würde er in dem dämmrigen Zimmer ihre schlanke schmale Gestalt sehen dürfen. Es war umsonst gewesen, von einem frischen Wind, einem raschen Tanz gesunde Rötung ihrer Bleiche zu erhoffen. Sie blieb nun auf ewig bleich, ihre schwarzen Zöpfe waren vergebens so schwarz gewesen, ihre schlanken Finger hatten sich nicht festhalten können auf dieser Erde. Sie war tot, er war tot, gut, das war das Ende.

Nun recht, so sollte es auch das ganze Ende sein! Der Bauer war immer ein finsterer, rauer Mann gewesen, er sagte seiner Frau, daß sie fortzugehen hätte mit dem Jungen zu irgendwelchen Verwandten, daß er das Haus für sich allein brauchte – und nun blieb er allein.

Er blieb allein in dem Haus, von dessen Fenstern er die See sah. Aber er wollte auch die See nicht mehr sehen, er verdunkelte die Fenster, und nun war immer um ihn Hetes liebste Stunde, die Dämmerung, in der alles verschwimmt und nur ganz ferne das Rauschen der See zu hören ist, das immer anzuschwellen scheint und doch nie lauter wird.

In den ersten Tagen ging er unablässig in seinen Zimmern auf und ab und bereitete sein Herz vor. Er mußte stark sein. Seit er begriffen, daß er sie geliebt hatte, seitdem hatte er sich danach gesehnt, in ihre Stube zu kommen. An dem Duft ihrer Kleider wollte er sich erinnern, die Form ihres Körpers wollte er wiederfinden. Er wollte es nicht glauben von sich, er ging auf und ab in der Dämmernis, es war doch so leicht –! Nur auf den Flur brauchte er zu gehen, die Hand auf die Klinke zu legen – und sie war da, sie war wieder da! Er hob den Leuchter zwischen sich und den Spiegel, und dies verwüstete Gesicht mit seinen eisgrauen Zotteln, den geschwollenen Tränensäcken sagte nur: Mir ist angst. Wovor ist mir angst? Mir ist angst!

Und die Stunden dehnten sich. Und die Tage dehnten sich. Und es war ewig Tag. Und es war ewig Nacht. Es gab nichts mehr wie eine Tote in ihrem Sarg, leicht und bleich, und auch sie gab es nicht mehr.

Er saß in seinen einsamen Stuben und sie war wieder klein. Als sie geboren war, hatte sie eine leise Bewegung gemacht: sie hatte den kleinen Finger ihrer Hand gespreizt, da hatte er gewußt, daß sie ein besonderes Kind war. Später einmal war sie auf seinen Schoß gestiegen, sie hatte ihre Stirn an seine gelehnt, und es hatte ihr gefallen, während sie ihn küßte, Worte in seinen Mund hinein zu sprechen, und das hatte seine Nerven seltsam erregt. Aber das Spreizen des Fingers war umsonst gewesen, ihre Sprechküsse waren umsonst gewesen, sie war tot und so hatte sie nie gelebt. Zürnte er etwa auch ihr?

Nun verging wieder Zeit. Er hörte das Rauschen des Windes und das Brausen der See. Regen bestrich naß sein Haus und vor den düstern Fenstern häufte sich der Schnee. Er hatte sie versäumt, er hatte sie unwiderruflich versäumt. Ohnmächtiger Zorn erfüllte sein Herz. Sie war der Knoten gewesen, den nur er hätte lösen können, aber er hatte es vergessen, er hatte nicht einmal an die Lösung gedacht. Von ihrer Reife bis zu ihrem Tode hätte sie ihm drei Kinder gebären können. Und er sah sie vor sich, diese drei Mädchen, mit ihrem schwarzen Haar und ihrer bleichen Haut. Er war ja noch nicht alt. Auch diese drei hätten ihm aufwachsen können, er hätte ihre Reife noch als Mann erlebt. Wieder sah er neue Töchter. Er sah sich reichen durch den Wandel der Zeiten, er wäre unsterblich gewesen. Aber er hatte seine Unsterblichkeit versäumt –!

Da saß er einsam und wüst. Um seinetwillen war sie endgültig tot, nun tötete sie alles Leben um ihn. Hatte die Tote etwa gewußt? Hatte sie ihn etwa verachtet? Er dachte an ihr bleiches Gesicht, ihre schmalen Lippen, die so oft waren wie weiß, ihre dunklen Augen hatten nichts verraten – aber hatte sie ihn nicht doch verachtet?

Zur Gewissheit wurde es ihm, daß sie ihn gehaßt, daß sie ihn verachtet hatte. Da hatte sie weiß, mit einem grünen Kranz, im Sarge gelegen und ihr rabenschwarzes Haar war gut anzusehen gewesen, aber in ihrem Kopf hatte diese Verachtung gesessen. Nun wachte er nachts davon auf, daß er sie gesehen hatte, im Traum, wie sie dalag, weiß und still. Er hatte sich über sie gebeugt, er hatte ihre Lippen noch einmal küssen wollen, aber da hatten diese Lippen sich zurückgezogen von den Zähnen, sie hatte ihre fahlen Zähne mit einem Lächeln entblößt. Der Mund hatte sich ganz geöffnet und ihre Zunge hatte sie herausgestreckt, eine häßliche, geschwollene, blauschwarze Zunge, schrecklich anzusehen.

Davon war er erwacht, und nun grübelte er darüber, wie die Tote zu versöhnen, wie das Versäumte nachzuholen sei. Aber darüber war alles Grübeln vergeblich, nichts war mehr nachzuholen.

Jetzt fürchtete er sich auch vor dem Schlaf, denn es war nicht abzusehen, was von einer Toten zu erwarten war, die ihre Zunge so entblößte. Ihm wurde schwindlig, er klammerte sich daran, daß sie doch seine Tochter sei – und alles verging in einem Nebel. Als er wieder wach war, saß er da und lauschte auf das Huschen und Laufen, oben, auf dem Boden. Ratten, sagte er, Ratten. Sie waren eingedrungen in dies verwahrloste Haus, schon lange hatte er ihre Spuren auf den Getreidehaufen oben gemerkt, es mußten sehr viele sein, Scharen. Sicher war es, daß Hete auch sie geschickt hatte. Nicht nur seine Erinnerungen, das Haus mit allem, was darin war, sollte zerstört werden. Er sollte immer nur an sie denken.

In der nächsten Nacht träumte er wieder von Hete. Sie sah nicht böse aus, aber sie lächelte auch nicht, ihr Gesicht trug einen Ausdruck von zärtlicher Betrübtheit. Plötzlich zog es sich angstvoll zusammen, und da sah er eine große, grauschwarze Ratte, die unter ihrem Kleid verschwand. Er wollte das Tier verscheuchen, er griff schon nach ihrem Kleide, aber dann schauderte er davor zurück. Ihr Gesicht war so kummervoll verzogen, sie mußte Schmerzen haben, er rief mit Angst: Aber, Hete, ich kann dir doch nicht helfen! Hete! Hete! – Sie lag schon wieder still da, schweigend und bleich.

Am nächsten Tag ging er nach Kirchdorf und kaufte Gift gegen die Ratten. Es war sein erster Ausgang nach langer Zeit, fast ein Jahr war vergangen, seit Hete gestorben war, und die Felder grünten, die Bäume blühten wieder. Seine von ewiger Dämmerung blöden Augen schmerzten vom Blühen und Licht, er setzte sich, nachdem seine Besorgung erledigt war, in einen Winkel der Schenke und trank und trank. Aber so viel er auch trank, er wurde nicht betrunken, er begriff: er entging ihr nicht.

Als er in der Morgendämmerung in sein Haus zurückgekehrt war und sich zu kurzem Schlaf hingelegt hatte, erschien sie ihm wieder. Ihr Gesicht war zornig, sie hielt auf ihrer Brust zwei Ratten, die ihre langen gelben Zähne entblößten und ihre nackten Schwänze entzückt bewegten. Da tat er das Gift fort, vergrub es tief in der Erde, und als sie ihm in der nächsten und übernächsten Nacht nicht mehr erschien, begriff er, daß er das Rechte getroffen und ihren Willen erfüllt hatte.

Dann aber erschien sie wieder, in einem ermüdend gleichmäßigen Zuge erschien sie durch alle seine Nächte, im Sarge liegend, unverändert, mit totem, blassem Gesicht. Was wollte sie noch? Sie erschien so gleichmäßig, als wollte sie ihn nur erinnern, daß sie noch da sei, daß er sie nicht vergessen dürfte, die Versäumte.

Er vergaß sie schon nicht, sie war immer da, aber sie hatte sich so seltsam verwandelt, sie war wie eine Erkrankung seines Blutes geworden, wie eine Veränderung seines Hirns. Manchmal wußte er nicht mehr, ob er es war, der da auf und ab ging, oder sie. Ob sein Herz in ihrer Brust den Todesschlaf hielt oder ihres.

Das kam anfangs nur wie Wolken und zog vorbei, aber schließlich wurde es doch so, daß er die Spiegel zerschlug. Er mußte es tun, er durfte nicht die Verwandlung belauschen, die unmerklich. Tag für Tag, mit ihm vorging. Er durfte nicht wissen, wo sie heute von ihm Besitz ergriffen hatte und wo gestern. Manchmal, kamen seine Hände vor seine Augen, heftete er seine wie klein gewordenen Blicke darauf, zitternd vor Angst und Begierde, er könne die verwunschene Veränderung schauen. Aber er lenkte die Augen beschämt fort: wer war er, daß er schon hätte sehen dürfen? Er hatte nur zu warten. Alles geschah durch die Verstorbene. Sie hatte ihn angenommen.

Wie ermüdend, oh! wie quälend, jede Nacht die gleiche im Sarge zu sehen. Geschah denn nichts mit ihr, da doch so unendlich viel mit ihm geschah? Gar nichts? Er sah angstvoll ihr Gesicht, ihre Hände an, die immer unverändert blieben. Bis er eines Nachts durch einen zufälligen Seitenblick zu entdecken glaubte, daß der Saum ihres Rockes sich ein ganz wenig von ihren Schuhen emporgeschoben hatte. Er wartete die nächste Nacht ab. Ja, langsam und allmählich schob sich Nacht für Nacht der Saum ihres Rockes empor. Nun zitterte er nicht mehr vor einer Entblößung: nein, diese Verwandlung geschah geheimnisvoller und in einer andern Welt.

Ihre Füße lagen im Schatten, aber doch meinte der Spähende zu sehen, daß es nicht mehr ihr schmaler Spangenschuh war, der dort lag, sondern sein breiter fester Stiefel. Zuerst zweifelte er noch, aber Nacht für Nacht stieg seine Gewissheit, daß er dort einzog, von wo sie floh. Er bekam den Tod und sie gewann das Leben, so war es nur recht.

 

Dann war er eines Tages gewiß, daß es nun an der Zeit sei, auch äußerlich die Verwandlung zu bestätigen. Seine Angst war fort, als er die Tür zu ihrem Zimmer öffnete – ging er nicht in ihr Zimmer? Ging sie nicht in ihr Zimmer? Nun war es, als habe er hier immer gewohnt, ohne Zögern öffnete er Schubladen und Schränke, er zog sich zu diesem ersten Tage ein fröhliches Kleid an, er zog ihr ein hochzeitlich weißes Kleid an. Seine Hand zitterte nicht, als er die langen Strümpfe über das Bein streifte, seine Haut war glatt und frisch, seine Wade schwellte sich jung und fest. Als er fertig mit Anziehen war, ging er in das Zimmer ihrer gemeinsamen Träumereien hinüber, er war so froh, er setzte sich hin und sank in einen tiefen Schlaf. Wieder stand er an ihrem Sarg, nun in ihrem Kleid, und die halb schon Verwandelte, nun richtete sie sich zum Sitzen auf, ihre Wangen färbte ein leises glückliches Lebensrot, sie hob ihre Hand und legte sie auf die seine. Sie streichelte die Hand. Ein unnennbares Glück durchrieselte ihn.

Er ist aufgewacht, noch klopft sein Herz eilig und noch streichelt ihn ihre Hand. Ja, auch im Wachen dauert das Streicheln fort, Wonneschauer überströmen ihn, er kann sich nicht halten, in das Dunkel fragt er: Bist du da, Hete?

Die Ratte auf seiner Hand macht einen Satz und läuft fort. Er hört sie durch das Zimmer huschen. Es ist alles so einfach, es geschieht nichts klarer, es ist nur eine Ratte gewesen. Sie haben die Vorräte auf den Böden vertilgt, sie ziehen sich in die Stuben hinab, dorthin, wo er seine Essvorräte aufbewahrt. Nichts ist verständlicher. Aber ebenso sicher ist, daß diese Ratte ein Bote von ihr war, ihm zur Belohnung gesandt, daß er auf sich genommen zu tun, was er tat. Er hatte sie recht verstanden, als er die Ratten nicht getötet hatte.

Und die Tage vergehen und die Wochen vergehen und die Monate vergehen. Er weiß nicht mehr, was das ist: Zeit. Die Verwandlung ist fortgeschritten, die Verwandlung ist fast vollendet. Er fühlt: unter seinem Bart trägt er schon ihr Gesicht, nur das eine fehlt, daß sein Bart noch von ihm abfällt. Aber sie ist ungeduldig geworden, sie kann es nicht mehr erwarten, daß sie aus diesem Sarge aufstehen darf, in dem sie schon viel zu lange gelegen. Es fehlt doch nur noch ein Kleines, kann er es denn nicht erraten? Da geht er umher, in ihrer Gestalt, in ihren Kleidern, und immer noch trägt er diesen lächerlichen Bart? Will er etwa nicht verstehen? Ja, da muß sie ihm zeigen, was er zu tun hat.

Sie sitzt in ihrem Sarg, auf ihrer Hand hockt eine Ratte und nun beißt die Ratte zu. Sie reißt einen Fetzen Fleisch von ihrem Finger und läuft davon. Hat er nun verstanden?

Ja, er hat verstanden, aber noch einmal bäumt sich seine Seele auf: das ist zu schwer! Wohl hat er sich schon ganz an die Ratten gewöhnt, bei Tag und bei Nacht laufen sie über ihn hin, sie haben keine Scheu mehr vor dem Einsamen, sie streicheln alle seine Glieder. Er weiß ja, es sind ihre Boten, es sind ihre Hände, die ihn streicheln. Aber dies noch! Nein, dies kann er nicht. Er will es nicht!

Aber da kommt sie nicht mehr, sie bleibt einfach fort, sie läßt den schon fast Verwandelten im Stich, ja, ist es nicht so, als ob sie die Verwandlung wieder rückgängig zu machen beginnt?

Er muß sich entschließen und er weiß ja, daß sein Entschluss vom ersten Tage an, da er mit ihr zusammenlebte, gefaßt war. Er vernichtet den Rest der Esswaren, er legt sich auf sein Lager, er ist bereit, er wartet. Es dauert viele und viele Stunden, ehe die Ratten sich entschließen, ihm näher zu kommen, sich ernsthaft an ihn zu machen. Er hört, wie sie im Haus umherstromen, sie finden wohl noch hie und da ein Stückchen Leder, irgendeinen Abfall. Aber das kann bei so vielen unmöglich lange vorhalten. Dann kommen sie näher und sitzen auf ihm und huschen über ihn. Es ist unendlich schwer, jene Unbeweglichkeit anzunehmen, die sie verführt. Immer wieder verfällt sein Körper in Zittern. Aber schließlich gelingt es.

Und dann brüllt er los, er springt auf, er schlägt um sich: die erste hat ihn gebissen. Ein scharfer Biß, mitleidslos. Er stürzt aus dem Haus, er läuft zum Kirchdorf. Er hält inne, er kehrt um. Der Weiberrock schlug ihm um die Beine, seine tote Tochter erinnerte ihn. Und auf dem Heimweg ist sein Gehirn schon damit beschäftigt, Mittel zu ersinnen, durch die er die Feigheit seines Körpers bändigen kann. Er ersinnt eine Fesselung, die er sich allein anlegen kann, die mit einem Ruck zuzuziehen, aber dann nicht wieder zu öffnen ist.

Es gelingt. Er liegt bewegungslos auf seinem Lager. Er flüstert: Bist du nun gut, Hete?

Aber Hete kommt nicht mehr. Die erste Ratte beißt ihn und er brüllt wieder. Aber diesmal fliehen sie nur für einen Augenblick, sie begreifen rasch die Hilflosigkeit ihres Opfers, in Scharen sitzen sie auf ihm und benagen ihn. Er brüllt. Wie er brüllt! Er tobt gegen seine Fesseln. Er schreit nach den Menschen und Gott: Hilfe! Hilfe!! Aber unablässig nagen die kleinen scharfen Nagezähne an ihm. Sie fressen ihn auf, Stück für Stück.

Und schließlich, irgend einmal, wird er dann ja wohl still.

Das Haus, in dem sich dies zugetragen haben soll, ist ein gewöhnliches Bauernhaus, roter Backsteinbau, zwei Fenster rechts, zwei Fenster links, in der Mitte die grüne Tür, zu der breite Sandsteinstufen emporführen. Die von dem Öffnen der grünen Haustür in Gang gesetzte Klingel bimmelt endlos. Der Flur, in den man tritt, ist fast dunkel, nur durch eine über der Haustür angebrachte Scheibe fällt mageres trübes Licht, so daß man zur Not einen ungeheuren dunklen Schrank erkennen kann.

Gradezu die immer dunkle, verräucherte Küche mit dem Steinherd und offenem ungeheurem Rauchfang, vor dem Fenster feste Eisengitterstäbe, ganz wie in einem Gefängnis. Die gleichen Stäbe sind auch vorm Fenster der Kammer nebenan angebracht, wo Knechte und Mägde essen, und vor der Mägdeschlafstube im Giebel. Die Bauern haben nie so recht ihren Diensten getraut, besser, sie waren unter Verschluss. Wer keinen Boden zu eigen hat, den hält und bindet nichts. Ein Eisengitter hält fester, bindet sicherer als der kleine Katechismus.

Noch drei Stuben unten: ein kleines Schlafzimmer, ein Zimmer, in dem gegessen und gesessen wird, und die gute Stube rechts, mit Gewehrschrank, Schreibtisch und Rehgehörn. Meistens ist sie verschlossen.

Das Dachgeschoß unter dem schwarzen Schieferdach ist nicht ausgebaut, an Regentagen trocknet hier Wäsche, Gerümpel liegt herum und versinkt Jahr für Jahr unter einer tieferen Staubschicht. Es hat freilich auch mal einen Gäntschow gegeben, der nichts verkommen lassen wollte, der ein Geizkragen war, ein seltener Fall unter diesen Inselleuten, die so rasch lernen, daß sich nichts halten läßt. Ob es ein Sohn oder ein Enkel von jenem so grausam durch Ratten aus dem Leben gekommenen Gäntschow war, weiß man nicht mehr – genug, der Korn-Gäntschow, wie er genannt wurde, konnte sich von nichts trennen, vor allem nicht von seinem Getreide.

Nicht allein, daß er nie auch nur einen Zentner verkaufte, er ließ sein eigen Vieh lieber halb verhungern, ehe er ihm genug Futterkorn gönnte. Er neidete sich, seinen Kindern, seiner Frau, seinen Leuten das Mehl zum Brote, denn er hätte ja schon wieder einen Zentner Roggen zur Mühle fahren müssen.

Unterdessen aber häufte sich auf Stall- und Futterböden das Getreide. Auf den Weizen vom vorigen Jahre wurde die neue Ernte geschüttet, die Haufen stiegen bis zum Dachfirst, rannen die Treppe hinunter, füllten Futterkammer und Banse. Unter dem neuen verkam, verdarb, verschimmelte das alte Korn, fing an zu faulen, stank bis hinunter zur Suhler Landstraße. Was er sich eigentlich dachte, wußte niemand, denn er sprach mit niemandem darüber, und wurde er angesprochen darauf, so sagte er wohl, das Frühjahr sei dies Jahr besonders spät, oder: Was is nich Wachs, und Bienenschiet ist Honig.

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