Wir hatten mal ein Kind

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Entschuldigen Sie, sagt der Superintendent, wo sind hier die Toiletten?

Über die Treppe, sagt der Hausdiener mürrisch und sieht den Geistlichen böse an.

Der steigt die Treppe hinauf. Plötzlich bleibt er stehen. Plötzlich hört er die Stimmen der Leute in der Gaststube so laut, als säße er zwischen ihnen. Er sucht. Ein matter Lichtschein liegt auf seinem Beinkleid, er bückt sich, da ist eine Lüftungsklappe von der Gaststube nach der Treppe und diese Klappe steht offen. Er hört Stimmengewirr ...

Ziegenbock, sagt einer und ein brüllendes Gelächter platzt los.

Er richtet sich steil auf, nein, er will nicht lauschen, das ist unter seiner Würde, und er steigt rasch die letzten Stufen der Treppe empor.

Oben liegt ein langer Gang vor ihm. Türen, Türen. Zehn oder zwölf. Die Gast- und Privatzimmer des ›Schwedischen Hofs‹. Er geht leise über den grellfarbenen Kokosläufer und blinzelt nach den Türnummern. Hinter einer Tür hört er reden, das ist die Stimme des Wirts, und das ist die weinerliche Stimme der Wirtin. Aber jetzt weint sie wirklich. Reese sagt heftig und böse etwas, und nun ruft die Frau schluchzend: O Gott, ich halte das nicht mehr aus! Was soll denn bloß in aller Welt werden mit mir ...

Der Superintendent geht hastig den Gang zu Ende. Seine Stimmung hat sich in den letzten Minuten wieder ganz verändert, nichts mehr von Kampflust, nur Düsternis, Missmut, ja etwas wie Verzweiflung.

Keine Tür deutet auf das hin, was er sucht. Wieder geht er den Gang zurück. Er geht an der Tür vorüber, dreht um, als käme er eben erst von unten, und ruft laut: Herr Reese, bitte! Herr Reese!

Der Kopf des Wirtes fährt wild aus der Tür – und sein Gesicht glättet sich sofort, als er den Geistlichen sieht: Bitte, Herr Superintendent?

Wo sind denn hier die Toiletten, Herr Reese?

Auf dem Hof, Herr Superintendent, auf dem Hof!

Der Superintendent steht einen Augenblick schweigend. Er versteht den Hausdiener nicht – ist denn alle Welt heute böse? Dann sagt er: Bitte, zeigen Sie mir den Weg.

Aber gewiß doch, Herr Superintendent, sofort. Hier, bitte, ja. So weit wie in der Superintendantur sind wir noch nicht, einfach auf dem Hof, keine Wasserspülung.

Was macht denn eigentlich Ihre Frau?

Oh, danke der Nachfrage, Herr Superintendent. Alles in Ordnung, alles munter.

Wollte sie sich nicht operieren lassen? Ich habe mal so was gehört.

Ach, die kleine Sache – ja, Herr Superintendent, das ist nun so bei uns: im Winter blüht den Gastwirten ihr Weizen, da kann die Frau nicht fort. Aber vielleicht im Sommer, wenn dann noch Geld da ist. Er lacht herzhaft.

Warten Sie nur nicht zu lange, Herr Reese.

Ach, diese kleine Sache! Doktor Westfahl übertreibt ja immer. Nun, das kann man ihm nicht übelnehmen, Trommeln gehört zum Handwerk. Und der dicke Reese lacht. Aber sein Seelsorger ist hartnäckig: Haben die Leute nicht von Krebs geredet, Reese?

Krebs! Wenn ich das nur höre. Wie die Leute so was verantworten mögen. Eine ganz kleine Geschichte. Frauen stellen sich ja auch immer an. Übrigens ... Er stockt.

Aber, fängt der Superintendent an.

Übrigens, sagt Reese böse, wissen Sie ja selbst, Herr Superintendent, wie es ist, Herr Superintendent, Ihnen ist ja auch die Frau gestorben, und Sie haben immer gesagt, es ist nur ein bißchen Husten.

›Auch‹, denkt der Superintendent und hört die jammervolle Stimme oben wieder. Jetzt gehe ich wieder rein, sagt er.

Ja, es ist noch immer frisch, bestätigt der Gastwirt. Noch einen Grog, Herr Superintendent?

Sie können mir, sagt der Superintendent langsam. Sie können mir erst einen großen Kognak geben, und dann einen Grog.

Schön, Herr Superintendent. Ja, es ist frisch. Der Vollmond bringt uns neue Kälte ...

In der Gaststube ist ein neuer Kunde eingetroffen: der Nachtwächter Marsiske steht da in seinem langen, grauen, dutzendfach geflickten Mantel, das Tutehorn an einem Lederband um, das dicke Gesicht mit der knolligen Nase frostgerötet, an einem geknoteten Bindfaden seinen Schäferspitz mit den hellen, klugen Augen. Er hat aufgeregt etwas erzählt, aber er ist schon gewarnt. Im Augenblick, da die Tür geht, schnappt er ab und sagt dann langsam: Ja, an der Post sind's wieder zwei Grad.

Der Roggen wird noch auswintern.

Vor allem der Weizen.

Guten Abend, Marsiske, sagt der Geistliche, geht langsam durch das Gastzimmer und stellt sich an den Ofen. Nun, was haben Sie eben erzählt, als ich hereinkam?

Der Nachtwächter sieht seinen Seelsorger verlegen an: Ich? Gewiß nichts, Herr Super. Wir haben von der Kälte gesprochen.

Bitte, Ihr Kognak, sagt Reese. Der Grog kommt auch gleich.

Und was haben Sie von der Kälte erzählt? beharrt der Geistliche, nachdem er seinen Kognak mit einem Schluck hintergegossen hat. Aber nichts, sagt Marsiske beteuernd, gar nichts! Wir sind eben erst rein. Nicht wahr, Polli?

Der Spitz sieht hoch mit seinen wachen Augen zu dem Mann und wedelt langsam mit der buschigen Rute.

Einen Augenblick ist Stille. Also du reizt, sagt Kaufmann Lindemann zu Kaufmann Stavenhagen.

Du kannst es ihm ja ruhig sagen, meint der schwarze Behn langsam zum Nachtwächter und deutet mit dem Kopf zum Geistlichen. Das ist nämlich wieder mal so weit, sagt er selber langsam und deutlich, Herr Superintendent, daß es wieder spöken soll auf Ihrem Kirchhof.

Der Superintendent trinkt seinen Grog aus, auch den trinkt er auf einen Zug ganz aus. Er ist böse und erleichtert. Reese, noch einen Kognak, sagt er. Wissen Sie, Marsiske, daß Sie noch immer diese alten Albernheiten aufwärmen mögen, vom Kapitän Schlung, der sich aufgehängt hat und keine Ruhe findet. Und daß Sie so was weitertragen mögen, Herr Behn. Daß hier große, erwachsene Männer sitzen und hören sich so etwas an, nun, ich für meine Person finde so etwas einfach kindisch.

Er trinkt schon wieder und macht eine Kopfbewegung zum Gastwirt, der ihm das Glas neu füllt. Der Nachtwächter sieht ziemlich betreten aus. Aber unerschüttert läßt sich Behn mit seiner langsam knarrenden Stimme vernehmen: Es ist diesmal aber nicht Kapitän Schlung, Herr Superintendent, es ist diesmal ...

Alle Gesichter haben sich dem Superintendenten zugewendet und starren ihn erwartungsvoll und schadenfroh an.

Es ist Ihr Bock, Herr Superintendent. Diesmal hat sich Ihr Bock auf dem Kirchhof gezeigt.

Der Geistliche macht eine wütende Bewegung, will etwas sagen, besinnt sich und trinkt aus. Sein Glas wird sofort wieder gefüllt. Und das kann man ja wohl verstehen, knarrt Behn unerträglich langsam weiter, wo das Untier doch das heilige Gotteshaus geschändet hat. Daß es da keine Ruhe findet und umgeht an der Stätte seines Verbrechens, das kann ja auch ein dummer Bauer verstehen, Herr Superintendent, sagt Behn.

Das ist nun schon die reine Ironie, und es ist eine rechte Qual, diesen Heiden Behn, der sicher seit seiner Trauung nie wieder in der Kirche gewesen ist, vom heiligen Gotteshaus reden zu hören. Marder ist ganz kochende Wut, jetzt wird er es ihnen geben, in ihre schadenfroh grinsenden Gesichter hinein, jetzt aber ...!

Zu seiner Überraschung tut er etwas ganz anderes. Er dreht das Gesicht von all den Leuten weg, er ruft zu Reese: Noch einen und zahlen! Er trinkt hastig, fragt ungeduldig: Wieviel? Was, sechs Mark dreißig?! Na ja, schön, gut. Guten Abend, meine Herren. Für Ihre Albernheiten habe ich wenig Sinn.

Dabei ist er sich klar dessen bewußt, daß er das Gegenteil von dem tut, was er vorhatte. Daß er ganz entgegen seinen Plänen in dem Augenblick fortgeht, wo sie über ihn zu reden anfangen. Aber er geht, geht über den Marktplatz und zuckt nur verächtlich mit der Achsel, als er ein schallendes Gelächter aus der Wirtschaft hört.

Es ist der Alkohol bei mir, sagt er sich, aber ich bin noch ganz klar. Ich kann auch noch sehr gut gehen, trotzdem es wieder übergefroren hat.

Er freut sich, daß er das gemerkt hat, daß es übergefroren hat. Er ist also noch ganz in Ordnung. Jetzt gehe ich noch über den Kirchhof, und dann lege ich mich ins Bett. Lächerliche Geschichten. Erstens ist der Bock noch gar nicht geschlachtet und zweitens habe ich ihn um den Finkenhaken herumfahren sehen.

Er geht auf den Kirchhof. Dort ist es im Mondlicht geisterhaft bleich, wie es ja auch gar nicht anders sein kann. Die schön polierten schwarzen und grünen Grabsteine haben weiße Hauben, und auch in die eingemeißelte Schrift hat sich Schnee gesetzt. Der Superintendent ist wieder einem Gedanken für seine nächste Predigt auf der Spur, der diesem Schnee, der Grabschriften verwischt, gerecht würde. Aber er kommt davon ab, als er entdeckt, daß die schöne Fliederhecke an der Kirchhofsmauer noch immer ihre vertrockneten Blütendolden aus dem vergangenen Frühjahr trägt. Dieser Mensch, dieser Wollenzien, hundertmal hat er es ihm gesagt, und nun ist es doch immer noch nicht geschehen! Aber dann kam der Superintendent auch davon wieder ab, er stolperte nämlich, und als er sich wütend umdrehte und nach dem Gegenstand ausschaute, über den er gestolpert war, wurden seine Beine plötzlich ganz weich. Sie fingen an zu zittern – und Superintendent Marder setzte sich sanft auf den Kirchensteig. Ganz sanft. Nein, er hatte sich nichts getan. Da saß er nun und starrte ärgerlich auf seine Beine, die ihn so schmählich und verräterisch im Stich gelassen hatten. In den ersten Minuten übersah er das neue Erlebnis noch nicht in seiner vollen Tragweite. Er saß nicht schlecht, er wollte sich nur einmal besinnen und dann wollte er schleunigst nach Haus gehen und sich ins Bett legen.

Aber ein wenn auch nur leicht übergefrorener Boden ist zu kühl für längeres Sitzen. Marder wollte hoch. Er sah rasch um sich. Es war alles totenstill und einsam. Kein Mensch beobachtete ihn. Er stützte sich auf beide Hände und wollte hoch, etwa wie eine Kuh, die auch mit dem Hinterteil zuerst aufsteht. Es ging nicht. Die Beine versagten ihm, er setzte sich wieder. Es ging und ging nicht. Zornig starrte er auf seine Beine. Er holte langsam mit der Faust aus und traf zielbewußt erst das eine, dann das andere. Es war, wie er befürchtet hatte: er fühlte nichts! Von oben gerechnet, war bis zum Gesäß Leben in ihm, aber von da an war alles tot, abgestorben, wie einfach nicht da.

 

Er starrte diese Beine an, da lagen sie im Mondlicht klar und deutlich vor ihm, in den derben Schuhen, den schwarzen, etwas beutligen Hosen. Über den Schuhrand sah ein Wulst der grau gestrickten Wollstrümpfe. Sie waren da, aber sie waren nicht da. Es war wie verhext! Nein, es war gar nicht verhext. Alles war ganz klar, es war der Alkohol. Plötzlich mußte er an seinen so schrecklich gestorbenen Bruder denken. Er merkte, daß der den ganzen Abend in ihm gewesen war und gespenstert hatte. Wahrhaftig, er hätte doch Bescheid wissen sollen, er hätte doch wissen sollen, daß für die Marders wenigstens Alkohol das reine Gift war! Und er ging hin mit seinen siebenundfünfzig Jahren und soff sich wie der dümmste grüne Bengel einen an, bloß um bei den Bauern etwas zu gelten!

Schreckliche Worte gespensterten in ihm: halbseitige Lähmung, ganzseitige Lähmung, motorische Störungen ... Er malte es sich aus, wie er heute nacht oder gar erst morgen früh am hellen lichten Tage hier gefunden werden würde, wie man ihn ins Haus tragen würde, dem ersten besten Säufer gleich, der zu viel gekippt hatte – und er hatte zu viel gekippt! Wie die Leute sich die Mäuler zerreißen würden. Wie das Konsistorium untersuchen würde!

Er schauderte, und dann gab er sich mit aller Willenskraft einen Ruck ... nichts, er fällt zurück, willenlos, wie ein Baby, das noch nicht laufen kann, das kriechen muß.

Das Wort kriechen gab ihm einen neuen Gedanken ein. Es war nicht weit zur Superintendantur, keine hundertzwanzig Schritte, durch die blattlose Fliederhecke konnte er die Hausmauer wie ein schwarzes, drohendes Untier sehen. Kriechen, jawohl, man konnte vielleicht hinkriechen. Aber es ging doch nicht. Das tat er nicht. Dagegen wehrte sich alles in ihm. Kriechen, wegen eines lächerlichen Bockes, er hatte zu Haus eine ganze Bibliothek mit über tausend Bänden, Geist der Besten der Nation, und hier kriechen!? Lieber saß er, bis er erfror. Er spürte schon, wie die Eiseskälte vorrückte, ihn zu schütteln anfing – er entwarf eine Todesanzeige, tief betrauert – von wem eigentlich tief betrauert? – ein Opfer seines Berufs, auf dem Weg zu einem Sterbenden ausgeglitten, erfroren.

Lieber Marder, alles Unsinn, hirnverbrannter, unsinniger Unsinn! Wenn er wenigstens bis zu jenem Kreuz käme. Er war überzeugt, er konnte sich an diesem gußeisernen Kreuz hochziehen, und einmal aufrecht, würde es schon gehen. Er mußte bis dahin kriechen. Kriechen? Nein! Nein! Ach, nur diese fünf Schritt, keiner würde es sehen, er selbst würde eine solche Kleinigkeit in ein paar Tagen vergessen haben ... Man mußte es sich überlegen ... Wenn er wenigstens einen Schnaps hier gehabt hätte, ein Schnaps würde ihn schon auf die Beine bringen ... Da, wieder der Versucher, war er noch immer nicht kuriert? Er schlug wütend auf seine Beine.

Es schmerzte, wirklich, es schmerzte. Und langsam und vorsichtig, sich anhaltend, sich stützend auf dem Boden, richtete er sich Zentimeter um Zentimeter auf. Wirklich – er stand! Er sah langsam mit einem törichten Lächeln um sich. Die Welt sah sehr verschieden aus, wenn man saß und wenn man stand. Er hatte noch nie auf seinem Friedhofe gesessen. Dieses gußeiserne Kreuz da, kaum einen Meter hoch – vor drei Minuten hatte er sich danach gesehnt! Er hätte nie gedacht, was ein Mann in seinem Alter noch für Dinge erleben konnte! Dieses gußeiserne Kreuz von dem alten Voßwinkel, richtig das Kreuz von dem alten Voßwinkel! Es imitierte ein Eisernes Kreuz. Voßwinkel hatte bei Mars-la-Tour mitgekämpft. Er wußte alles. Noch war nichts verloren. Es war eine Warnung gewesen.

Und während er dies alles dachte, war er Schritt für Schritt vorwärts gekommen, hatte die kleine eiserne Friedhofspforte aufgestoßen, rostknirschend war sie hinter ihm zugefallen. Nun ging er schon, immer langsam und behutsam, über den Kies des eigenen Gartens, um das dunkle Haus herum, das eben noch so unerreichbar weit weg gewesen war. Er tastete, sich sorgsam an der Wand haltend, die etwas vereisten Stufen zu seiner Haustür empor. Er drückte die Tür auf, die nur angelehnt gewesen war – gottlob, nun stand er in seinem Haus, seiner Halle. Es war noch einmal gnädig abgegangen. Wenn ihm hier etwas geschah, konnte er seine Haushälterin, Frau Witte, rufen, und die Witte sprach nie ein Wort zu viel. Aber besser immerhin, auch sie erfuhr nichts.

Vorsichtig ging er nun im Dunkeln die wohlbekannte, breite Treppe hinauf, hielt sich immer gut am Geländer fest, kam in den ersten Stock, wo sein Schlafzimmer lag. Er ging sachte über den teppichbelegten Flur, flüchtig mußte er an den schreiend bunten Kokosläufer im ›Schwedischen Hof‹ denken und an die verzweifelte Stimme von Frau Reese: O Gott, und was soll aus mir werden? Er drückte auf die Klinke zu seinem Studierzimmer und blieb, wieder ganz schwach in seinen Knien, stehen. Wie vom Donner gerührt! Ein schwaches Meck tönte ihm entgegen. Eine Sekunde stand er entschlusslos im Dunkeln. Dann riß er sich zusammen, er durfte seinen Ohren nicht trauen, er mußte alle Sinne zu Hilfe nehmen, und er drehte das Licht an. Da – es hatte ihn also doch gefaßt! Er hatte Halluzinationen wie sein verstorbener Bruder! Auf seinem Schreibtisch, zwischen Papieren, Tinte, Kalender, lag der Bock Phryne, den er heute morgen um den Finkenhaken hatte fahren sehen. Lag da, blinzelte ihn mit seinen frechen, hellen Augen an und sagte: Meck.

Und sehr rasch: Meckermeckermeck.

Der Superintendent Marder stand eine lange, lange Weile bewegungslos. Er hätte nie sagen können, was er in diesen Sekunden oder Minuten gedacht hatte. Dann aber ging er mit ganz raschen, leisen und leichten Schritten an den Schreibtisch, direkt in die Nähe dieses verruchten Bockes, griff ohne Zögern nach dem großen Tintenfass, aus dem er seine Predigten bestritt, und schleuderte das Faß wie sein großer Vorgänger Martinus Luther aus allernächster Nähe gegen den Kopf des Teufels.

Das Faß zersplitterte, eine blauschwarze Welle ergoß sich über den Kopf und färbte ihn, der Bock stieß ein jammerndes Gemecker aus und jagte aus dem Zimmer, den Gang, die Treppe hinunter. Unten klirrte eine Fensterscheibe, das Gemecker wurde ferner und ferner und verlor sich. Aber auf des Geistlichen Gesicht lag ein stolzes Lächeln. Er sagte: So! und ging, ohne die Verwüstung auch nur mit einem Blick zu beachten, schnurstracks ins Bett.

Und was war mit dem Bock? fragte Christiane.

Johannes Gäntschow hat der Christiane Fidde natürlich nicht ganz die eben berichtete Geschichte erzählt. Er hat sie erzählt, wie er sie von seinem Vater gehört hatte, von einem Pferdeknecht, dem Bauern Behn, und dem feigen Nachtwächter Marsiske, der den Superintendenten als Gespenst auf dem Kirchhof gesehen – nach zehn verschiedenen Quellen hatte er sie erzählt. Sicher wurde seine Fassung dem Superintendenten Marder, der sich doch immerhin als ein unbekümmerter und mutiger Mann gezeigt hatte, nicht ganz gerecht. Sonst hätte Christiane am Ende nicht fragen können: Und was war mit dem Bock?

O Gott, der Bock, sagte Johannes Gäntschow verächtlich, der war den Blücher-Leuten natürlich beim Anlegen auf Camminer Fähre ausgerissen und schön sutje nach Hause gezuckelt. Er hat sich noch vier, fünf Wochen, schrecklich anzusehen, auf der Insel herumgetrieben und alle Frauen in Grauen verjagt. Auf die Superintendantur ist er aber nie wieder gekommen. Das Tintenfass hat ihn zu böse gemacht. Schließlich hat ihn deines Vaters Förster erschossen.

Und so was ist nun Pfarrer, sagte dann Johannes Gäntschow und kam damit auf den Anlass seiner Erzählung zurück. Und ist und bleibt es sein ganzes Leben. Und bekommt einen Haufen Geld dafür –

Sagst du das, fragte Christiane schnell, wegen des Pfarrers oder wegen des Geldes?

Auch wegen des Geldes, sagte er trotzig, gerade wegen des Geldes.

Ich glaube, du weißt gar nicht, was Geld ist, sagte sie nachdenklich.

Weißt du es denn? fragte er rasch dagegen. Ich glaube, du weißt es gar nicht.

Jawohl, wenn sie sich auch nähergekommen waren durch jene Tränen, nahe waren sie einander nicht. Der Christiane schien es immer, als wehre sich Gäntschow gegen sie, als sei er von einem stummen, zornigen Widerstand besessen, endgültig nachzugeben, Freundschaft zu schließen, Vertrauen zu haben. Vielleicht lag es daran, daß sie in einem Schloss wohnte, reine, neue Kleider trug, weil sie ›reich‹ war und er arm. Aber vielleicht lag es auch an etwas ganz anderm. Daß er nämlich überhaupt nicht vertrauen wollte. Keines Freund sein, für sich allein sein. Der Papa hatte gut reden und über die wilden Urzeittiere, die Gäntschows, spotten. So einfach war es nicht. Und sie versuchte es auf viele Weisen.

Es fiel immer weiter Schnee. Dazwischen fror es stark. Es war die herrlichste Schlittenbahn seit vielen Jahren, man fuhr auf Watte durch schweigendes Land. Willst du nicht wieder mal mit im Schlitten fahren?

Er schüttelte bloß den Kopf, und sein Gesicht bekam jenen verbissenen Ausdruck, der so gut zu den schmalen Lippen, dem starken Kinn und den großen Augen paßte.

Ich laß meinen Einspännerschlitten anspannen, schicke den Eli fort, und wir fahren selbst.

Einen Augenblick leuchteten seine Augen auf, aber das Licht erlosch sofort wieder. Nein, sagte er.

Aber warum denn nicht? Du mußt mir doch wenigstens einen Grund sagen können.

Er überlegte einen Augenblick. Weil ich keinen Schlitten habe, in den ich dich einladen kann, sagte er mürrisch.

Du siehst, Christa, erklärte der Graf, die Welt zugeschnitten nach dem Maße des Gäntschowschen Bauernhofes. Da ist nichts zu machen. Aber bring ihn doch einmal her, deinen Wildfuchs. Oder wo kann man ihn sich beschauen?

Ach, Papa, sagte Christiane nur.

Trotzdem berichtete sie ihm davon. Du kannst mich gerne besuchen. Papa hat es erlaubt. Du wolltest doch immer gern mal unser Haus sehen – sie vermied das Wort Schloss –.

Nein, sagte er.

Und warum nicht?

Weil du mich auch nicht besuchst.

Sie grübelte ziemlich lange über dieser Antwort, und eines Nachmittags, als Miß Price ihre Migräne hatte und Mademoiselle Tubot Briefe schrieb, stiefelte sie los. Mit einem seltsamen Gefühl der Erleichterung hörte sie das eiserne Parktor hinter sich zufallen. Im Grunde hatte sie gar nichts Besonderes vor. Sie ging zu Besuch auf einen jener Bauernhöfe, wie sie zu Dutzenden im Lande verstreut lagen. Die meisten Menschen auf der Insel wohnten in Bauernhöfen. Es konnte also nichts Besonderes sein. Trotzdem ging sie mit einer eifrigen Freude die Chaussee entlang. Sonst ging sie nie außerhalb des Gutes auf die Straße. Sicher, sie sah mit ihrem Vater die Felder an, gewiß, aber dies war etwas anderes, von einem Ort zum andern zu gehen. Von Ort zu Ort fuhr man auf der Insel. Man, also sie, ihr Vater und sie. Gäntschows fuhren sicher nicht.

Und sie fing wieder an zu grübeln, ob das wirklich sein Grund war, oder ob doch der andere galt, daß er einfach niemanden nah an sich heranlassen wollte.

Es war ein Tag zu Ende Februar, mit schönem Sonnenschein und klarem, wolkenlosem Himmel. Die Sonne ging erst gegen halb sechs unter, sie hatte alle Zeit, zu den Gäntschows zu kommen, eine halbe Stunde dort zu bleiben und war noch bei hellem Tage wieder zu Haus. Wenn sie offen war, war sie auch ein bißchen neugierig, auf seine Eltern, seine Geschwister, aber auch auf den Hof, auf das Haus. Sie kannte nur das Schloss und die Leutehäuser von innen, da war der Abstand ungeheuer groß. Sie dachte sich so etwas wie ein Zwischending zwischen diesen beiden Extremen. Aber vielleicht war auch alles ganz anders, wie sie es nie gesehen hatte.

Der Schnee pappte, es ging sich mühsam. Seit gestern hatte sich der Wind zum ersten Male wieder gedreht, er kam nicht mehr aus Osten, er kam nun aus Südwest. Die Luft war frisch und feucht, eine Vorahnung des Frühlings. Als sie durch das Dorf Pattchow kam, merkte sie, daß die Kinder sie groß ansahen. Eine Frau, die ein ausgewaschenes Butterfass vor die Tür stellen wollte, hielt bei ihrem Anblick wie toderschrocken inne, dann machte sie einen tiefen Knicks. Christiane nickte ihr zu, sie freute sich, dann wurde sie bedenklich.

 

Bei den Gäntschows war es gekommen, wie es immer gegen Ausgang des Winters kam, wenn die eigentliche Schlachtezeit vorüber war: Frau Gäntschow hatte plötzlich entdeckt, daß sie viel zu wenig Dauerwurst, Pökelfleisch, Speckseiten für die Leutebeköstigung den Sommer über hatte. Der Bauer hatte geschimpft, noch nicht sechs Wochen war es her, daß er seine Frau gefragt und daß sie nein gesagt hatte, da wäre genug. Nun mußten die beiden fetten Sauen daran, die eigentlich für Hypothekenzinsen hatten verkauft werden sollen.

Am Morgen eines solchen Schlachttages geht es noch immer. Da werden die Schweine gestochen, gebrüht, damit hat die Frau nicht viel zu tun. Aber am Mittag, wenn der Fleischbeschauer da gewesen ist, und die Tiere sind ausgekühlt, fängt der Strom von Schweinefleisch an, sich in das Haus zu ergießen. Neun Zentner Schwein überschwemmen die Küche und alle Stuben. Aus der Küche dringt ununterbrochen der Wrasen des Fleischkessels, ununterbrochen ächzt der Wolf, der das Fleisch für die Dauerwurst zerkleinert, überall stehen Wannen und Tröge mit Fleischstücken, kopflos rennen die Mädchen umher, stellen hier etwas ab, was jetzt die andere schon wieder fortträgt.

Unerschüttert im Tumult waltet der Hausschlächter, gibt knappe oder gar keine Antwort, ein Junge wird ins Dorf gehetzt, weil das Salz nicht reicht, ein Mädchen wird ihm nachgeschickt, um noch zweieinhalb Meter Därme zu holen, runde, glatte, trockene.

Wo ist das Wurstband? schreit Frau Gäntschow verzweifelt. Die ergrauenden Haare hängen ihr wild ins Gesicht, sie steht an der Wurststopfmaschine und hält mit der einen Hand eine eben gestopfte Wurst zu, aus der sofort die Masse wieder herauskommen wird, wenn sie sie losläßt. Wo ist das Wurstband? Eben lag es noch hier. O Gott, kann denn keiner auf den kleinen Willi aufpassen, er fällt ja in die Fleischbalje!

Ab und an taucht der Bauer schweigend im Gewühle auf, schweigend überschaut er die Sachlage, schweigend langt er sich eine Handvoll fertiges Mettgehacktes aus der Wanne, rollt es zwischen beiden Handflächen zu einer Kugel und vertilgt es. Oder er geht mit seinem Taschenmesser an den Fleischkessel.

Ist ja noch nicht gar, du weißt, ich will das nicht.

Der Bauer verschwindet schweigend, ein Stück heißes Fleisch von der einen in die andere Hand wechselnd, aus dem Haus.

Und überall sind die Kinder. Dieser Geruch von Fleisch und Blut und Gewürzen, von frisch zerhauenen Knochen regt sie auf. Das Getriebe, das Geschrei, das Hin und Her regen sie auf. Der Dampf in der Küche regt sie auf. Auch sie stehlen sich rohes Wurstfleisch, kosten von allem, das Kleinste wird gefunden mit einem Stück Fleisch im Munde, an dem es fast erstickt. Und überallhin dringt das Fett; Tische, Kleider, Hände, jedes Gerät, jeden Türgriff überzieht es mit seiner trägen Masse. Es hinterläßt seine Spur in den flüchtig aufgeblätterten und rasch wieder zugeschlagenen Schulbüchern der Kinder. Es klebt in Fünffingerspuren an den Fenstern. Es bedeckt die Tischplatte mit einer schmierigen Masse.

Und dann die Hunde. Sie sind wie toll. Trotzdem sie sich am Geschlinge dick und duhn fressen können, dringen sie immer wieder in das Haus ein. Für einen hinausgeworfenen kommen drei neue. Sie stehlen, schnuppern, sind plötzlich bösartig, verrückt vom Blutdunst, mit bösen, funkelnden Augen.

Plötzlich jaulen sie alle auf, fangen an zu blaffen, wütend zu bellen und jagen hinaus auf den Hof, um die Scheune herum und sind weg. Man hört ihr Gebell aus der Ferne, hinter der Scheune. Gott sei Dank, atmen alle auf.

Die Hunde bellen sehr lange, bis ein Knecht ins Haus kommt und dort in die Küche ruft: Hannes, deine Gräfin ist da!

Hannes, der Fleisch in Stücke schnitt, mit einer blauen, fettigen Schürze, sieht hoch. Seine Brauen ziehen sich zusammen. Eine senkrechte Falte steht auf seiner Stirn. Wer? fragt er.

Deine Gräfin, sagt der Knecht. Mach schnell, sonst fressen sie die Hunde auf.

O Gott, fängt die Mutter an zu jammern, und gerade heute am Schlachtfest! Verdammter Bengel, kannst du einem so etwas nicht sagen?! Rieke, Erna, sofort in Herrn Gäntschows Zimmer, sauber machen, der Boden muß geschrubbt werden. Frau Schön, seien Sie so gut, putzen Sie ein bißchen die Fenster. Aber warte, Hannes, dir will ich das besorgen. Mitten im Schlachten!

Laß man, Mutter, sagt Hannes, ich krieg den Schiet schon klar. Und er schiebt sich langsam gegen die Küchentür.

O Gott, nun geht er auch noch mit der blauen Schürze. Lauft ihm doch nach, nehmt ihm wenigstens die Schürze ab, Erna! O Gott, meine Wurst! –

Christiane stand im Winkel hinter der Scheune, im Rücken die Hofmauer, hart bedrängt von der Meute. Aber trotzdem sie keinen Stock in den Händen hatte, wurde sie gut mit dem Gesindel fertig. Besser als jeder Briefträger. Ihre Wangen waren rot, ihre Augen blitzten. Willst du weg da, schrie sie mit ihrer hellen Stimme. Kusch dich!

Sie trat mit dem Absatz nach dem Hund, traf ihn, jaulend verkroch er sich hinter den andern.

Was für Köter, Hannes, sagte sie aufgeregt. Wie die Wölfe! Aber ich werde schon fertig mit ihnen. Willst du fort, du freches Biest. Das glaube ich, schnappen ...

Johannes pfiff gellend, er schrie: Marsch, marsch, weg, wollt ihr! Pux, zurück! Willst du wohl, Sussi!

Er faßte den Hund beim Schwanz und stieß ihn gegen die Mauer. Der Köter jaulte gellend auf, die Meute verzog sich.

Die beiden sahen sich an. Johannes Gäntschow war in Holzpantinen. Um den Leib war ihm eine viel zu große blaue Schürze gewickelt, die ihm fast bis auf die Hacken ging und unglaublich schmierig war.

Wie siehst du denn aus, rief sie unwillkürlich, aber sehr belustigt. Sie trug ein Kostüm aus einem groben Wollstoff, in Grau, Schwarz und Weiß. Auf Kragen und Ärmeln saß ein grauer, sanfter Pelz. An den Füßen hatte sie lange, schwarze Schnürstiefel, die, fast ohne ein Fältchen geschnürt, bis zur halben Wade reichten.

Nicht wie du, sagte er kurz. Was willst du denn?

Oh, sagte sie, und plötzlich schien ihr alles nicht zu stimmen. Ich wollte dich mal besuchen.

So, sagte er wieder. Seine Stimme klang ziemlich unheilvoll. Und wo ist dein Wagen?

Ich bin zu Fuß gekommen.

So. Und nochmals: So. Er pausierte, sagte dann aber doch: Und das Schild hast du nicht gesehen?

Welches Schild? Ach, das Schild?! Gilt das auch für mich?

Er betrachtete sie nachdenklich, unter den mühsam gerunzelten Augenbrauen weg. Sie sah ihn wieder an. Sie kämpfte mit sich, ob sie wütend werden und weggehen sollte oder alles komisch nehmen. Plötzlich brach sie in Lachen aus.

O Gott, Hannes, wenn du dich sehen könntest. Sie wollte es wieder gutmachen. Ich meine jetzt dein Gesicht. So brummig.

Er antwortete noch immer nicht, sah sie immer noch an. Also komm, sagte er plötzlich.

Wieso komm? fragte sie erstaunt.

Na, ich denke, du willst mich besuchen, da mußt du doch ins Haus kommen.

Ja, gerne, sagte sie eifrig, wenn ich nicht störe.

I, gar nicht, sagte er, du wirst schon sehen.

Er ging ihr voran, und während er ihr voranging, erst über den Hof, dann ins Haus, sah er plötzlich, als sähe er mit ihren Augen, all die Vernachlässigung und Verkommenheit, die seine Heimat schändeten: den nicht aufgepackten Dunghaufen, die Egge im Reetdach, dort, wo der Herbstwind ein Loch gerissen hatte, die Stalltüren schief in ihren Angeln, nach Farbe lechzend, einen Kultivator, den man neben dem Geräteschuppen vergessen hatte und der vom Rost zerfressen wurde, die blinden Fenster im Haus, die grünen, schiefen Fensterrahmen, die Schmutzlachen, um die sie achtsam herumging. Und er dachte mit einer hilflosen Erbitterung an den großen, sauberen Rittergutshof, auf den er manchen Blick von der Chaussee aus getan hatte: die schnurgrade aufgefahrene Reihe der Vier-Zöller-Ackerwagen, unter jeder Deichsel eine Stütze, der Dungplatz, eben und fest wie eine Tenne, der säuberlich gefegte Hofraum ohne einen Strohhalm, die Dächer, auf denen kein Schiefer geborsten war.

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