Wir hatten mal ein Kind

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Nun war Malte Gäntschow ein sehr nüchterner Mann, und er glaubte weder an den Klaus Störtebeker, noch an Barren und Edelgestein. Aber er stellte eine kleine Rechnung auf, was sein Schwiegervater wohl in den dreißig Jahren, die er als Steuermann und Kapitän gefahren war, verdient und zurückgelegt haben konnte. Und da Kapitän Düllmann vieles nachzusagen war, aber keine Unmäßigkeit, keine Verschwendungssucht, keine Weibergeschichten – so kam Malte Gäntschow bei dieser Rechnung auf einen hübschen Batzen. Da aber der Schwiegersohn weiter wußte, daß Kapitän Düllmann ein Feind aller neumodischen Einrichtungen war, ob sie nun Sparkassen, Pfandbriefe oder sonst wie hießen, – wo sollte da also das viele schöne Geld sein als in der Kiste?

Und indes die drei Töchter noch eifrig debattierten, welche von ihnen Vadding zu sich nehmen sollte, und die Schwiegersöhne sich im Preise ihrer guten Hauskost und warmen, sonnigen Stuben überboten, spannte Malte Gäntschow einfach seinen Fuchs vor die Kutschkalesche, und als Kapitän Düllmann halbwegs zwischen Dreege und Kirchdorf aus der Tüte kam, da saß er neben seinem Schwiegersohn Gäntschow auf dem Wagenstuhl, die Schienbeine rieben sich an den Eisenbändern der Schiffskiste, und hintenauf waren all die schönen Mettwürste, Buttertöpfe, Schwartenmägen und Rollschinken geladen, die die liebenden Kinder Vadding zum Beweise ihrer guten Kost verehrt hatten.

So war Kapitän Düllmann auf den Gäntschow'schen Hof gekommen, und da er von sich aus so leicht nichts an einem einmal bestehenden Zustande änderte, so blieb er auch erst einmal da.

Es begab sich aber nun im vierten Jahre seines Aufenthaltes auf dem Warderhofe, daß Kapitän Düllmann eine Lungenentzündung bekam. Wo er sie aufgesammelt hatte, der abgehärtete, durchgepustete alte Seebär, das wußte keiner, er auch nicht. Boshafte behaupteten, grade als Düllmann vor einem Gewitterguss ins Haus habe treten wollen, sei eine schwarze Wolke über seine Seele gezogen, und so sei er da stehen geblieben, die Klinke schon in der Hand, im schönsten Pladdern, unter der Traufe des Dachs und unter der Traufe des Gewitters, zehn Minuten, fünfzehn Minuten, zwanzig Minuten, zweiundzwanzig Minuten. Da war die Wolke vorbei, und Kapitän Düllmann drückte auf die Klinke und ging ins Haus, klatschnaß und zitternd vom Kopf bis zu den Zehen.

Natürlich war er auch grade zur ungeschicktesten Zeit krank geworden, zur Zeit, da jede Hand draußen zum Kartoffelstecken gebraucht wird, und da wirklich niemand zur Pflege abkommen konnte, so ließ man aus dem Dorf die alte Brommen holen. Die war zwar von der Gicht so zusammengezogen, daß sie so recht kein Glied mehr rühren konnte, außer der Zunge, die ging noch ganz fleißig. Viel zu tun hatte sie ja aber auch nicht, denn der Kranke lag meistens bewußtlos in hohem Fieber. Es saß eben jemand neben dem Bett, wie es sich schickte.

Gegen Erwarten wurde es mit Großvater Hanning wieder, die Brommen ging ins Dorf zurück, und Kapitän Düllmann saß, noch ein bißchen unsicher mit dem Kopfe wackelnd, auf der Bank vor dem Haus in der schönen Sommersonne. Die schwarzen Wolken aber kamen genau so wie vor der Krankheit, kamen und gingen wieder.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis seine Tochter, die Hedwig, merkte, die Seemannskiste stand nicht mehr in Vaddings Kammer. Da ging nun aber ein Geplärre und Geschrei los, von dem die ganze Halbinsel Fiddichow widerhallte, und Frau Gäntschow saß den lieben langen Tag beim Landgendarmen und verlangte alle Stunde von ihm, er solle ihr den Dieb mit der Kiste herbeischaffen, sonst ...!

In dem ganzen Tumult blieb der einzig Ruhige der Kapitän Düllmann. Als der gehört hatte, seine Kiste sei weg, und begriffen hatte und darüber nachgedacht hatte, da sagte er nur: Die Kiste? Laß sie sausen! Ick heff joa den Slötel! (Schlüssel.)

Und dabei blieb er.

Bei den Gäntschows aber erschien eines Morgens der Gendarm, Fuß langsam vor Fuß setzend, denn die alte Brommen, gichtiger denn je, war in seiner Begleitung, und er eröffnete dem Ehepaar Gäntschow, der Brommen sei ein Gerücht zu Ohren gekommen, die Seemannskiste des Käpten Düllmann solle gestohlen sein. Es sei aber nicht an dem, sondern die Seemannskiste sei wohl aufgehoben in des Besitzers Händen.

Oh, wie sperrten die beiden Gäntschows Mund, Nase und Ohren auf, es war, als glotzten sie fassungslos aus allen Körperöffnungen.

Ehe sie aber noch vom Beschaulichen zum Handelnden übergingen, tat die Junge der alten Brommen einen Schlag und dann fing sie an zu laufen. Und sie berichtete von dem guten alten Papa und seiner schweren Krankheit und der grausigen Pflege, wo er doch immer gehustet hätte, daß man gemeint hätte, nun fliege ihm die Seele aus dem Leibe, und acht Nächte sei nicht zu schlafen gewesen vor solchem Husten ...

Aber in der neunten Nacht, da hat der liebe alte Käpten die Augen aufgemacht und hat recht lieblich rot ausgesehen und hat mich gut angeschaut und hat mich freundlich gefragt: Olsch, Brommen, bist du das? Und als ich geantwortet habe: Käpten, jawohl, an Bord, und die Witfrau vom Maurer Brommen dazu – da hat er gelächelt und hat gesagt: Keiner hat sich meiner erbarmt, aber du hast dich meiner erbarmt, als ich in den Banden des Todes lag, und also will ich mich auch deiner erbarmen. Rück die Kiste her! – Und Gott hat sich meiner erbarmt und hat mir die Kraft verliehen und ich elender Wurm habe die Kiste vor sein Bett gerückt und er hat gesagt: Schließ die Kiste auf, Olsch, Brommen. Und er hat mir den Schlüssel gegeben und ich habe die Kiste aufgeschlossen und er hat mir alles gezeigt, was er von seinen vielen wilden und weiten Meeresfahrten heimgebracht hat, und dann hat er gesagt: Olsch, Brommen, schließ die Kiste wieder zu.

Und ich habe die Kiste wieder zugeschlossen und er hat sich den Schlüssel wiedergeben lassen und hat zu mir gesagt: Olsch, Brommen, der Mensch ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Und du nippelst gerne einen. Darum wenn ich dir jetzt schon alles schenken würde, würdest du vielleicht nachlassen in deiner huldvollen Pflege, doch die Kiste schenke ich dir. Und wenn ich zu Johanni unter den Lindenbäumen bei meines Schwiegersohns Tür sitze, dann sollst du zu mir kommen, und ich will dir auch den Schlüssel zu der Kiste geben.

Und er ist zurückgefallen in seine Kissen und eingeschlafen und kein Fieber mehr, nur ein gesunder Schweiß. Und Gott ist gnädig gewesen und ich habe die Kiste weggeschafft an einen sicheren Ort, und weil gestern Johanni gewesen ist, und ich habe das Gerede im Dorf gehört vom Gestohlenen, aber es ist nicht so, und das nehme ich auf meinen Eid, rechts wie links, da bin ich mit dem Gendarmen her, und ich habe das feste Zuvertrauen, der Kapitän wird sich meiner erbarmen und mir den Schlüssel geben, wie er mir versprochen hat in der neunten Nacht, wo der gelinde Schweiß kam ... War es aber vorher Geplärr und Geschrei gewesen, so ging es nun los mit Drohungen und Gebrüll. Die alte Brommen rabbelte unverzagt immer dagegen an. Gar nichts half es, daß man den olen Käpten Düllmann dazu holte, der griente nur und sagte wieder seinen Spruch, daß er ja den Schlüssel habe, und wenn ihn der Gendarm auch hart befragte, wie es denn stehe um die Behauptungen der Frau Bromme, ob ja oder nein: er lächelte fernhin und himmelblau – wie ein toter Dorsch, sagte sein Schwiegersohn – und meinte, es werde sich schon alles weisen, alles zu seiner Zeit, den Schlüssel habe er.

Es gingen aber keine zehn Wochen ins Land, da fuhren beide Parteien nach Bergen aufs Amtsgericht, Kapitän Düllmann mit Tochter Hete und Schwiegersohn Gäntschow, ganz allein aber die Brommen, gichtig, krumm und uralt, aber mit ihrer Zunge. Die Kiste indessen, vom Gendarmen bei der Witfrau in einem verlassenen Schweinekoben unter Stroh aufgestöbert und sichergestellt, war bereits an Gerichtsstelle vorausgereist.

Da stand sie nun, schwärzlich und schmuddelig vor ungeheurem Alter und Weltbefahrenheit, aber die gezackten Eisenbänder sahen noch immer sehr solide aus und das Schlüsselloch war groß, tief und geheimnisvoll.

Dritte Sache: Klage des Kapitäns Düllmann, vertreten durch seinen Schwiegersohn, den Bauern Malte Gäntschow, gegen Frau Josefine Ernestine Gesine Bromme zu Kirchdorf auf Fiddichow, vertreten durch nichts, auf Herausgabe einer Seemannskiste.

Oh, wie sie sich vertrat, wie die Zunge die schmerzvollen Fiebernächte des armen Dulders wieder belebte, und die Kiste spukte ... Der Herr Amtsrichter hatte eine goldgeränderte Brille und einen schönen schwarzen Vollbart. Hören Sie mal, sagte er. Was war denn nun eigentlich in der Kiste drin?

Tjä! Herr Gerichtsdirektor, wenn ich es sagen sollte. Es ging aber alles sehr geschwinde, und den armen Kapitän schüttelte so das Fieber.

Na, irgendwas müssen Sie doch gesehen haben?

Jawohl. Jawohl. Es glänzte und es gleißte – und die Augen flossen einem über.

Gold –? Edelsteine?

Gold, Herr Gerichtsdirektor? Edelgestein? Da waren ja wohl, wie es in der Schrift heißt, alle Schätze Salomos darin, daß einem alten Christenmenschen das Weinen ankam, wenn er das sah. Aber ich hab' immer gesagt, wie der alte Kapitän Düllmann ...

Es wird von Goldbarren geredet, lockte der Amtsrichter. Auch von Armbändern ...

Armbänder, Herr Gerichtsdirektor, sagte die Alte verächtlich. Armbänder! Da müssen ja wohl güldene Ringe um den ganzen Leib sein, wie die nackigen Wilden sie tragen. Und Steine so groß wie Hühnereier, wie Gänseeier ... Sie suchte.

Edelsteine? fragte der Richter.

Edele Steine, ja, das gleißte nur so, das flimmerte ...

Das wissen wir nun, sagte der Richter. Ich möchte aber lieber eine exakte Beschreibung haben, gute Frau, was Ihnen der Herr Kapitän in der Kiste gezeigt hat. Also jedenfalls Ringe, große, goldene Ringe ...

Leibringe, sagte Frau Bromme ergänzend.

 

Schön. Und was noch? Geld zum Beispiel?

Geld? Natürlich ist Geld in der Kiste! sagte die Brommen wieder wegwerfend, entrüstet über so viel Unverstand.

Goldgeld? Silbergeld?

Silbergeld –? So eine Kiste gibt es ja wohl nicht auf der lieben Welt, in die so viel Silbergeld ginge, wie der Kapitän hätte, wenn er was hätte. Alles schieres Gold, Herr Gerichtsdirektor.

So? Schön. War das nun lose oder in Säcken?

In Säcken doch natürlich, daß es nicht einstaubt.

Und waren die Säcke offen oder zugebunden?

Zugebunden doch! Die können doch nicht offen sein.

Und wie haben Sie gesehen, daß in den zugebundenen Säcken Goldgeld war?

Er hat sie doch aufgemacht, Herr Gerichtsdirektor.

Sie haben hier aber ausgesagt, Sie hätten nur einen Moment in die Kiste gesehen.

Aber doch auch in die Säcke, Herr Gerichtsdirektor! Das gibt es wohl nicht, das bringt wohl nicht ein Christenmensch übers Herz, daß er in so eine Kiste schaut und sieht nicht in die Säcke!

Ich will Ihnen sagen, Frau Bromme, Sie phantasieren sich hier was zurecht. Herr Kapitän Düllmann, wollen Sie uns jetzt bitte sagen, was sich in Ihrer Kiste befindet?

Nä, Herr Amtsrichter, sagte Kapitän Düllmann und sah glupsch auf den Richter.

Aber wieso denn nicht? fragte der ganz verblüfft. Das müssen Sie aussagen, wenn Sie Ihre Kiste wiederhaben wollen.

Die will ich gar nicht wiederhaben, Herr Amtsrichter, sagte Kapitän Düllmann ruhevoll. Meine Kinder möchten die jetzt wiederhaben. Aber mir ist das ja nicht so eilig. Und warum nicht? Weil ich den Schlüssel habe. Und nun brauche ich nur zu warten, bis sie stirbt, und dann habe ich eben die Kiste wieder.

Das ist noch gar nicht gesagt, will der Richter eben anfangen.

Aber die Brommen hat die Lage überschaut und rabbelt eilig los: Aber wenn er denkt, ich sterbe vor ihm, dann irrt er sich, Herr Gerichtsdirektor. Und wenn er stirbt, dann erbe ich den Schlüssel. Ich bitte doch ... fängt der Richter wieder an.

Und er hat mir doch seine Schätze gezeigt, sagt die Brommen eilig und nimmt ihren Vorteil wahr. Sie packt alle alten Sagen über die Kiste aus. Und es ist auch ein Zimmetast darin, einen Meter lang ...

Zimmetast?! fragt der Richter.

Ja, Kanehl. Und ein schwarzes Fell von einem ungeborenen Schaf und eine Axt aus Silber und Perlenschnüre und ein Menschenschädel, weswegen der Kapitän manchmal zwanzig Minuten lang düsig ist, weil er den Mann selber erschlagen hat. Und eine ganze Taucherausrüstung, wie er nach dem Gold von Störtebeker getaucht hat, und ein Beutel Erde von Golgatha und zehn Flaschen wirklichen Rum ...

Halt, halt!! schreit der Richter. Sie phantasieren hier ja. Wie soll das alles in die kleine Kiste gehen. Herr Kapitän, schließen Sie jetzt die Kiste auf.

Nä, Herr Amtsrichter, sagt Kapitän Düllmann unerschütterlich und sieht von seinen wütenden Kindern fort.

Aber warum denn nicht? verzweifelt der Richter. Sagen Sie uns wenigstens, stimmt das, oder stimmt das nicht, was die Frau Bromme hier über den Inhalt der Kiste ausgesagt hat?

Das kann stimmen, sagt der Kapitän. Das kann aber auch nicht stimmen. Das wird sich weisen am Tage nach meinem Tode, wenn meine Kinder ihr Erbe antreten.

Herr Gäntschow, bittet der Richter förmlich. Sie haben doch sicher Einfluß auf Ihren Schwiegervater. Reden Sie ihm doch zu. Es liegt ihm doch sicher daran, seine Kiste zurückzubekommen.

Von rechts die Tochter, von links der Schwiegersohn reden auf den alten Mann ein, der Richter wartet geduldig. Aber die alte Brommen hat frische Kraft geschöpft und plärrt: Und eine Krone mit goldenen Zacken ist darin, die soll er bei den Eskimos bekommen haben, und eine Fischblase mit Goldsand ...

Jetzt! sagt Gäntschow.

Und die Hand der Tochter öffnet Vaters Wams schon am Hals und der Schwiegersohn hat's Messer schon bereit – ach, eine schwarze Wolke zieht grade wieder über Opa Hannings Seele. Und sie schneiden ihm den Schlüssel vom Hals, ehe noch der Richter recht verstehen und protestieren kann. Und der Gerichtsdiener nimmt den Schlüssel, und knack knack macht das Schloss einmal und knack knack macht das Schloss zum zweiten Male, und langsam, langsam, der Wichtigkeit der Minute voll bewußt, schlägt der Gerichtsdiener den Deckel zurück.

Alle stehen auf den Zehen, nur über Kapitän Düllmanns Seele schattet eine barmherzige schwarze Wolke ...

Ein Ölanzug, benutzt. Eine Bibel, zerrissen. Ein Frauenrock, neu. Ein Korsett, rosa, benutzt. Ein Kinderkleidchen, unbenutzt.

Leer. Schluss. Ende.

Eine Woche später wohnte Kapitän Düllmann wieder allein in seinem Häuschen an der Dampferlände zu Dreege. Ewig rätselhaft blieb, wo er sein Geld gelassen hatte und noch ließ. Trotzdem der Inhalt der Kiste zu düsteren Vermutungen Anlass gab.

Aber sicher ist, daß er, zweiundsiebzigjährig, kummervoll und beschattet von einer nahenden schwarzen Wolke, zu seinem Schwiegersohn sagte, als der ihn auf der Landstraße zwischen Dreege und Kirchdorf traf: Nun haben sie mich doch rangekriegt. Nun habe ich doch den Strick um die Hörner.

Er sah scheu um sich, er flüsterte geheimnisvoll: Ich soll se ja verführt hebben!

Mystisch und trauervoll umwittert zog er weiter. Vierzehn Tage darauf heiratete er. Sie war zweiundzwanzig, und die Familie Gäntschow erbte nie nichts.

Außer der Seemannskiste.

Aber das steht auf einem späteren Blatt.

Zweiter Abschnitt
Die Jugendgeschichte des Helden

Solcher Art waren die Vorfahren, solcher Art war die Hofstätte des Johannes Gäntschow, der am zwölften März 1893 geboren wurde. Er war eins von vielen Geschwistern, aber, obgleich er den Hof erbte, war er weder der älteste noch der jüngste Sohn, sondern der dritte oder vierte. So genau kann man das gar nicht sagen, denn im ganzen waren es elf Kinder, die aus der Ehe des Malte Gäntschow mit der Hedwig, geborenen Düllmann, entsprossten, und da manche von den Kindern sehr früh starben, wußten, nachdem eine Reihe von Jahren vergangen war, selbst die Eltern nicht mehr so genau, das wievielte Kind ein jedes war. Nur die Schlusssumme blieb haften: elf – und wenn man bedachte, daß nur fünf Kilometer weiter ein Dorf Baumgarten lag, unterhalb des Leuchtturms von Sagitta, in dem die Leute überhaupt nie Kinder kriegten und in dem Hof auf Hof, von Generation zu Generation, ausstarb und immer wieder an entfernte Verwandte fiel, die dann auch wieder ausstarben, so kann man das Ergebnis auf Warder nicht schlecht nennen.

Und doch war es schlecht, denn als Johannes Gäntschow, achtundzwanzig Jahre alt, den Hof nach seines Vaters Tode übernahm, da war kein einziges von seinen zehn Geschwistern mehr da, das ihm den Besitz streitig gemacht hätte. Sie waren jung und älter gestorben, an Krankheiten oder Unglücksfällen, oder sie waren auch einfach abhanden gekommen, wie sein ältester Bruder Alwert – für das ganze Leben abhanden gekommen, und das war vielleicht die schlimmste Art, einem Bruder im Erbe Platz zu machen. Es war ganz, als sei aller Lebenswille der ganzen Nachkommenschaft von der Zerfahrenheit und Ziellosigkeit der geborenen Düllmann angesteckt worden. Da waren sie da, aber sie mußten nicht da sein, sie waren ganz zufällig da, und so gingen sie wieder durch Zufall ab, bei irgendeiner kleinen lächerlichen Krankheit, oder auch in einem Jauchenloch – es kam schon nicht darauf an.

Dieses letzten Falles, des mit dem Jauchenloch, erinnerte sich Johannes Gäntschow durch sein ganzes Leben sehr genau, denn damit war sein schlimmer Streit mit dem Vater verknüpft, der ihn vom Hof und in die Welt hinaustrieb. Das war in einer jener Zeiten gewesen, da sein Vater wieder einmal – zum wievielten Male! – Freundschaft mit allen seinen Nachbarn, mit denen er sich durch Jahre verstritten hatte, schloss und entweder im Kirchdorfkruge oder auf den umliegenden Höfen oder bei sich wochenlang herumtrank. Malte Gäntschow war ja sonst ein sehr pedantischer, verschlossener, wortkarger Mensch, der am liebsten ganz für sich allein lebte. Aber da war diese Frau, die immer wie ein Huhn war, das in der Küche erwischt wird und sinnlos gegen alle Wände, Töpfe, Fenster anflattert, obgleich die Tür weit offensteht. Da waren diese Kinder, die gerade anfingen, einem zu helfen und Freude zu machen, Händchen in Hand mit dem Vater aufs Feld zu laufen, und schon starben sie oder waren weg. Und da war der zweite Malte in der eigenen Brust, der da fand, es sei wirklich Einsamkeit genug auf diesen ewig umstürmten, ewig nebligen Einzelhöfen, in einem kleinen Bauernhaus, in dem es immer angeschmuddelt und unpünktlich zuging, mit verdorbenen Essvorräten und verdorbenen Dienstmädchen. Und dann brach es aus ihm und er fühlte die Eiseskälte in der Brust, er löste die Zunge, er trank, er saß mit den anderen Bauern, gierig hörte er ihnen zu, er schwelgte mit ihnen. Goldene Welt der Gemeinschaft, aus dem klaren Korn des Schnapsglases. Guter Freund aller guten Freunde, aus dem lockeren, zitternden Schaum der Biergläser.

Dann ging er beschwingt heim, er sang, er pfiff, er wirbelte den Handstock – alles war gut. War es kalt draußen, so lief ihm eines der Kinder entgegen und bugsierte den Vater nach Haus, denn es war vorgekommen, daß Malte Gäntschow sich einfach in einen Graben zum Schlafen gelegt hatte und nach vielen Stunden Suchens halb erfroren gefunden worden war. Die Kinder taten das gerne, denn nie war der Vater zutunlicher und fröhlicher, als wenn er so angedudelt heimmarschierte. Anzumerken war ihm sonst äußerlich kaum etwas, nur eben, daß er viel redete. Er ging bolzengerade, so viel er auch getrunken haben mochte. Er war eben immer ein riesenstarker Mann.

An diesem Abend im ersten Drittel Dezember hatten die Kinder stundenlang beisammengesessen und auf den Vater gewartet. Ein paarmal war die Mutter erschienen und hatte heftig und böse mit ihnen gescholten, als seien sie schuld daran: die Sauftour müsse nun endlich ein Ende nehmen, was sich Vater wohl dächte, keinen Pfennig Geld mehr im Hause, bei jedem Kaufmann im Kirchdorf Schulden, daß man sich nicht ein Pfund Zucker zu kaufen getraue, und es würde ja doch nur wieder Feindschaft aus all diesen betrunkenen Anbiedereien. Dann hörten die Kinder sie seufzend, scheltend und weinend den Säugling im Nebenzimmer besorgen, und dann wurde es ganz still, daß man nur den fürchterlichen Ostwind gegen die Fenster stoßen hörte.

In diesem Jahre war der Frost sehr früh und ganz überraschend gekommen – bei abnehmendem Monde. Jetzt bei vollem Monde war es noch kälter, die Fenster standen bis oben hin voll Eis, und man mußte in Vaters Stube lange gegen die Scheibe hauchen, um auf dem Außenthermometer zu sehen, daß es zwölf Grad Kälte waren. Trotzdem man dreimal aufgelegt hatte, war die Stube nicht warm zu kriegen gewesen. Es zog durch die Tür- und Fensterritzen, und so hatten sich alle Kinder, eins nach dem anderen, in die Betten verkrochen, bis auf Alwert, den Ältesten, die große Schwester Frieda und Johannes.

Johannes fror auch sehr und eigentlich war er müde, aber er war heute daran, dem Vater entgegenzulaufen, und das wollte er sich nicht entgehen lassen. Er war nämlich des Vaters Liebling, und er war vielleicht der einzige, der es dem Vater beibringen konnte, daß weder Kartoffel- noch Rübenmieten ordentlich gegen den starken Frost zugedeckt waren und daß der Kühmann angefangen hatte, heimlich Milch beiseite zu bringen. Davon flüsterte der Neunjährige leise mit Frieda, der Elfjährigen. Sie durften keinesfalls den großen Bruder Alwert stören, der in einem Buche las.

Du mußt eben sehen, wie Vater ist, hatte Frieda gesagt. Redet er viel, so wartest du eben, bis er ein bißchen schläfrig wird. Aber die Hauptsache ist doch, daß du ihn bei diesem Wetter nach Haus kriegst, Hannes.

Ja, ja, sagte Johannes gedankenvoll, und dachte böse an die drei hölzernen Eggen, die angefroren auf dem Felde liegengeblieben waren und die nun verkamen. Er hatte versucht, sie allein in den Schuppen zu schaffen, aber dafür war er noch zu schwach. Der Pferdeknecht hatte ihn spöttisch gefragt, ob er jetzt der Großbauer geworden sei, daß er schon Anordnungen gäbe, und Alwert hatte natürlich wieder mal keine Zeit gehabt.

Johannes saß da mit dem langen, schmalen, mageren Gesicht, über dem Nasensattel selbst jetzt Sommersprossen, mit sehr hellen Augen. Die Zähne hatte er fest aufeinander gebissen, er brummte sein Jaja nur, er mußte immer an alles denken, was jetzt auf dem Hof verkam und gestohlen wurde. Er war sehr böse, auf die Schule, die ihn nicht zur Hofarbeit kommen ließ, auf Alwert, den Gleichgültigen, auf Schwester Frieda, die nicht einsehen wollte, daß Hofarbeit wichtiger war als Hausarbeit, auf die Mutter, die ewig Kinder kriegte und darüber zu nichts kam, nur nicht auf den Vater, der eben so war, wie er war. Daran war nichts zu ändern, wie eben auch an dem Frost draußen nicht. Aber er sprach von alldem nicht. Er biß die Zähne zusammen und dachte darüber nach, wie er es dem Vater beibringen könnte, ohne daß der zornig würde. Als sie nun so alle drei dasaßen, alle drei Kinder derselben Mutter, in derselben Stube und jedes sehr allein für sich, als da der Wind gegen die Scheiben fauchte, die Eisränder immer höher krochen, die Nacht fast von Minute zu Minute mondheller und strahlender wurde, hörten sie heranklingelndes Schlittengeläute, dann das rasende, zornige Gebell der Hundemeute, das Knallen der Fahrpeitsche, Winseln getroffener Hunde und das beruhigende Hoho! des Kutschers zu den Pferden.

 

Johannes war der erste draußen. Nachbar Schlicht rief ihm zu, daß der Vater nicht habe mitfahren wollen, aber schon kurz vor ihm aufgebrochen sei aus dem Krug. Der Schlitten klingelte wieder los. Hannes schlüpfte in seine kaninchenfellgefütterte Joppe, setzte eine Pelzmütze auf und lief in Holzpantoffeln los, ohne auf das zu achten, was ihm Frieda nachrief. Kaum war er von der Hofstatt, sprang ihn der eisige Ostwind an, daß das Atmen in Nase und Lunge schmerzte. Aber er lief scharf weiter. Auf der Chaussee schlitterte er lange, lange Strecken im Mondlicht auf dem spiegelglatt gefahrenen Schnee. Es war bis auf das Windrauschen und das Brummen der Telegraphendrähte totenstill. Kein menschlicher Laut, kein Hundebellen, alles hatte sich in die Häuser verkrochen.

Der Junge lief immer weiter. Er sah schon in der Ferne über dem flachen Land die weiß beschneiten Dächer des Kirchdorfes, er überlegte, in welchem der Häuser der Vater vielleicht klebengeblieben sein könnte. Dann sah er ihn in der Auffahrt zum Windmühlenhügel sitzen, mit offener Joppe im Winde auf einem Stein. Auf einem andern Stein stand in Reichweite eine Selterbuddel.

Macht kalt, Vater, sagte der Junge und blieb vor dem Alten stehen. Der Alte sagte nichts. Er saß stillschweigend da. Sein Gesicht sah grauweiß aus im Mondlicht, die Augen waren schwarze, grundlose Höhlen, der Mund mit dem Bart ein schwarz hingewischter dicker Strich. Kommst du nicht heim, Vater? fragte der Junge. Ist doch kalt auf dem Stein.

Der Vater machte eine abwehrende Handbewegung. Er murmelte was wie: Laß, hat doch keinen Zweck. Damit faßte er nach der Flasche.

Der junge Johannes begriff, daß Vaters Sauftour wieder einmal am Ende war, daß der Vater aber an diesem Abend so viel getrunken hatte, daß er jetzt ganz verzweifelt war und sich selbst vor ihm, seinem Sohne, schämte. Er begriff, daß es jetzt nicht mehr um schlecht zugedeckte Kartoffelmieten und gestohlene Milch ging, sondern nur darum, den Vater heimzukriegen. Daß der aber gar nicht mehr heim wollte, sondern hier sitzenbleiben, voller Wut auf die Welt und voller Scham über sich selbst, sitzenbleiben, bis er steifgefroren war.

Der Junge begriff das alles in den zwei oder drei Sekunden, die der Vater nach der Schnapsflasche grabbelte, und gerade als der Vater sie an den Mund setzen wollte, sagte er: Mich friert mächtig, Vater, laß mich auch einen trinken.

Der Vater behielt die Flasche weiter an den Lippen, aber er hob das Gesicht etwas gegen den Sohn. Er trank noch nicht, er fragte: Trinkst du jetzt Schnaps, Hannes?

Wenn mich so friert, sagte der Sohn trotzig.

Der Vater hatte die Schnapsflasche halb sinken lassen, der Sohn sah genau an seinem Gesicht, wie er sich mühte, nachzudenken. Er wartete darauf, daß der Vater zornig werden würde, denn dann war alles gut. Darum sagte er noch: Schnaps wärmt schön, Vater. Wieder das bemühte Nachdenken. Der Vater bewegte die Lippen, atemlos wartete der Sohn – da lachte der Vater plötzlich schallend los, hielt dem Jungen die Schnapsflasche hin und sagte: Na, nimm einen, Hannes.

Der erste Versuch war mißglückt. Aber schon hatte Hannes einen zweiten Plan gefaßt: er mußte dem Vater möglichst viel Schnaps wegtrinken. Der Junge wußte vom Geruch, von ein oder zwei Versuchen mit Gläserneigen her, daß Schnaps bitter und scharf, also schlecht schmeckte. Es gab darum nur ein Mittel für ihn, dem Vater möglichst viel wegzutrinken, er mußte den Schnaps, so rasch es ging, in sich hineingießen.

Er legte also den Kopf zurück, setzte den Flaschenhals an die Lippen und goss den Schnaps hinter. Er war nur ein neunjähriger Junge, und es war ein richtiger achtunddreißigprozentiger Kornschnaps. Er brannte im Hals wie Feuer und fraß die Luft weg. Ein oder zweimal verschluckte sich der Junge, Ekel und Übelkeit stiegen in ihm hoch, aber er kämpfte sie nieder, er mußte doch den Vater, auf den er unverwandt während des Trinkens sah, von seinem Stein hochkriegen. Ihm kam es vor, als schluckte er schon stundenlang an diesem widerlichen Gift, ehe der Vater den Kopf hob und mühsam sagte: Laß mir auch was drin, Hannes.

Der Junge setzte die Flasche ab, er wollte sprechen, er wollte sagen – das hatte er sich überlegt –, daß ihn immer noch fröre und daß er darum weitertrinken wollte, aber er brachte nichts heraus wie einen heiser krächzenden Laut, seine Stimmbänder waren gelähmt.

Der Vater sah aufmerksamer hoch, der Sohn machte einen Schritt zurück, er setzte wieder die Flasche an und trank wieder. Nun war sein ganzer Schlund schon eine brennende Spur den Leib herunter. Der Magen war eine dumpfe, aufwärts stoßende Masse, in der ein schmerzhaftes Feuer brannte. Aber er sperrte einfach den Rachen auf und goss weiter Schnaps in sich.

Laß das! sagte der Vater scharf, es war beinahe der alte Stimmklang, wenn er böse war.

Hannes machte nur eine abwehrende Bewegung mit den Händen und trank weiter. Er glaubte, er könne es nicht mehr ertragen. Jetzt wurde sein Kopf schwindlig, er kämpfte mit einer schrecklichen Übelkeit, aber er trank doch.

Gib die Flasche her, rief der Vater böse und griff nach ihr. Hannes machte wieder einen Schritt zurück, um der Hand auszuweichen, der Vater stand auf, da rutschte Hannes aus und fiel, die Flasche loslassend, rücklings hin.

Er lag auf der Erde, er hatte sich weder erschreckt noch wehgetan, aber da lag er und war sehr zufrieden, denn er hörte neben sich im Schnee die Flasche auskluckern.

Plötzlich verdunkelte sich der Himmel über ihm, es war sein Vater, der sich über ihn beugte und drohend fragte: Willst du gar nicht wieder aufstehen?

Doch, sagte er gehorsam und sprang so rasch auf, daß er gleich wieder hinfiel. Dies belustigte ihn so, daß er in ein lautes Lachen ausbrach, und trotz allen Drohens des Vaters wollte sein Lachen nicht enden. Dann wurde ihm wieder übel und sein Kopf drehte wie eine Mühle.

Sein Vater mußte ihn hochgehoben und auf die Füße gestellt, mußte ihn eine Weile geführt haben, denn plötzlich sah er sich und ihn auf der Chaussee nach dem Hof. Er hörte sich laut reden. Er erzählte von allem, was er im letzten Jahre verstanden hatte und was ihm das Herz schwer gemacht hatte: von der verludernden Wirtschaft, der Mutter, die alles falsch machte, dem fremdtuenden Alwert, und wie die dreizehnjährigen Schuljungen mit den Schulmädchen richtig Mann und Frau im Stroh spielten. Zwischendurch hörte er den Vater mit einem Ton fast ingrimmig schreienden Schmerzes rufen: Hör damit auf! Laß das, Hannes, hör auf!

Zugleich merkte ein zweiter, scharfer Beobachter in ihm, daß sie nicht etwa gerade auf der Chaussee gingen, sondern bald auf der rechten, bald auf der linken Seite. Auch, daß sie oft beinahe in die Gräben gerieten, daß sie also genau so torkelten, wie der alte Säufer Timmermann im Kirchdorf, dem die Schuljungen so gern nachäfften. Der Gedanke, daß sein Vater und er wie der olle Timmermann hier auf offener Straße herumtorkelten, belustigte ihn derart, daß er zwischen seinen Schmähreden immer wieder in ein brüllendes Gelächter ausbrach. Er forderte seinen Vater auf, stehen zu bleiben, damit er ihm im Schnee die Torkelspur beweisen könnte.

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