Wir hatten mal ein Kind

Текст
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Und dieser Streit hatte noch eine andere Wirkung: der Vater schwor für viele Jahre das Saufen ab. Da hatte dieser Knirps, dieser Garnichts vor dem Vater gestanden und gesagt, behauptet, angedeutet und behauptet, es würde eines Tages nichts mehr zu erben da sein, der Hof würde verludert werden. Warum hatte der Vater getrunken, dann einmal und zwei Monate später wieder einmal? Weil er allein war, weil sich nichts lohnte, weil die Frau nichts taugte, weil es doch nicht auf ihn ankam. Weil es egal war, wie man seine Felder bestellte, weil wir doch eines Tages alle tot sind und dann all unser Tun zwecklos geworden ist. Nun aber hatte dieser Bengel vor ihm gestanden, ach ja, der Vater hatte ganz gut kapiert, daß es nicht Gehässigkeit und Streitsucht gewesen waren, die dem Sohn die Zunge geführt hatten, sondern heiliger Zorn, Sorge, Erbitterung. Siehe, es kam doch auf ihn an, ein kleines Geschöpf, siebzig Pfund Fleisch und Knochen, nicht der Rede wert Hirn, zürnte mit ihm. Nichts zu erben?

Dir wollen wir's zeigen! Saufen, verludern – was verstehst denn du? Erben, nichts zu erben, jawohl, einen ganzen Bauernhof, hundertachtzig Morgen, alles weizenfähiger Boden, vier Pferde, acht Kühe, Jungvieh, Schweine, voller Beschlag, jawohl, erben! Aber nicht du, du Naseweis! Du sollst sehen! Ein Schreibknecht sollst du werden, ein Federfuchser, wie dein Onkel Gäntschow, dein Vatersbruder, in der steinernen Stadt Berlin, zwischen Mauern und auf einem Büro. Geh du nur zum alten Superintendenten Marder, büffele, lerne, Bücher, Tinte, Staub.

Und Johannes Gäntschow ging zum Superintendenten, jeden Werktag, fünf Jahre lang, fünf Stunden jeden Werktag lang. Es wäre die unerträglichste Geschichte von der Welt für einen an viel Luft, weite Äcker und rauschende See gewöhnten Bauernjungen gewesen, wenn er nicht einen Leidensgefährten gehabt hätte, eine Leidensgefährtin heißt das: die Christiane Freiin von Fidde.

Die Grafen von Fidde saßen ja nun mindestens ebenso lange wie die Gäntschows auf der Halbinsel Fiddichow. Sie leiteten ihren Ursprung von jenem Herzog Wisso her, der in grauen Zeiten einen Heidenmann, Gunnar, am Kehlteich hatte hinrichten lassen, weil ihm sein Lieblingsschimmel geschlachtet worden war. Es wäre übertrieben, wollte man behaupten, die Feindschaft zwischen den Gäntschows und den Grafen Fidde datiere von jenem sagenhaften Doppelopfer her. So weit braucht man nicht zu suchen. Ein Bauer kann nie und niemals Freund eines Grafen über Tausende von Morgen Land sein. Wer selbst hinter seinem Pflug geht, sorgsam Furche um Furche umlegt, muß den verachten, der durch seinen Inspektor zwanzig Pferde- und Ochsengespanne zum Pflügen schickt.

Jedenfalls, hätte Bauer Gäntschow gewußt, daß in Superintendent Marders verräuchertem Amtszimmer sein Sohn der Freiin Fidde gegenüber sitzen würde, er hätte sich den Fall mit der höheren Bildung noch einmal überlegt. So aber sagte Marder nur hastig: Das ist also der Johannes Gäntschow, Christiane, zeig' ihm mal die erste Seite von deiner Syntax. Er weiß noch rein gar nichts. Ich muß mal rasch ...

Und damit fuhr er aus der Stube. Superintendent Marder fuhr immer hastig durch die Weltgeschichte, außer seinen Schülern, einer großen Pfarrei, hatte er auch noch einen Bauernhof zu besorgen, immer war er überall und nirgend.

Der Junge stand unter der Tür und sah nach dem Mädchen auf dem Sofa mit zusammengezogener Stirn hin. Er hatte keine Ahnung, wer sie war. Vielleicht hatte er sie einmal im Kutschwagen vorüberfahren sehen, aber daran dachte er nicht mehr. Das aber sah er jedenfalls, daß sie in ihrem glatten, dunkelblauen Kleid mit dem schweren, dunklen Scheitel und den Schnecken über den Ohren keine Bauerntochter war. Außerdem schien sie ihm, trotzdem sie gleichaltrig mit ihm war, viel älter als er. Und daß sie ihn nun gewissermaßen unterrichten sollte, und daß er rein gar nichts wußte, kränkte ihn sehr.

Du brauchst mir nichts zu zeigen, sagte er brummig von der Tür her. Ich will doch nichts lernen. Ich werde doch Bauer. Und wenn ich nicht Bauer werde, werde ich Schmied.

Christiane hatte zwar keine Mutter, dafür aber einen ältlichen, kränklichen, oft mißgelaunten Vater. Darum war sie der Lage gewachsen und sagte ernsthaft: Ein Schmied ist aber immer schmutzig.

Johannes Gäntschow bedachte es und sagte: Aber er versteht viel von Pferden. Er kann ein Pferd für immer lahm machen, wenn er das Beschlagen nicht ordentlich versteht.

Sie antwortete: Ein Trainer versteht aber noch viel mehr von Pferden, ich würde Trainer werden. Dann brauchst du dich auch nicht schmutzig zu machen.

Was ist ein Trainer? fragte er.

Ach, sagte sie, er sagt, wie die Pferde gefüttert werden sollen, und schimpft immer die Stallburschen, daß sie nicht ordentlich putzen, und er erzählt den Leuten, wie sie reiten müssen. Und reitet immer am schönsten.

Reiten? fragte er. Reitpferde sind Quatsch. Ich brauch' ordentliche Arbeitspferde, die was ziehen können, nicht solche verhungerten Engländer.

Sie sah ihn nachdenklich mit einer kleinen, senkrechten Falte zwischen den Augenbrauen an.

Und vielleicht gehe ich überhaupt zur See wie mein Bruder Alwert, sagte er und brach rotübergossen ab. Sie zogen ihn genug auf mit seinem Bruder Alwert. Was ist eine Syntax? fragte er hastig.

So ein Buch, aus dem man lernt, wie ... begann sie.

Es war ein Wunder. Sie hatte entschieden keine Ahnung, was sein Bruder Alwert getan hatte. Draußen ertönte rasches Räderrollen auf dem Kopfpflaster des kleinen Marktplatzes vor der Superintendantur.

Das sind unsere Pferde, rief sie rasch und lief ans Fenster. Er stellte sich neben sie. Der offene gräfliche Jagdwagen rollte, von zwei Füchsen gezogen, vorüber. Der backenbärtige Kutscher hatte seine kleine Herrin gesehen und grüßte sie ernsthaft, indem er die Peitsche gegen den Zylinder hob.

Er hat mich hergefahren, sagte sie eifrig. Er fährt mich jeden Morgen her, und mittags holt er mich wieder ab. Siehst du den Fuchs mit der Blässe? Sie sollte voriges Frühjahr fohlen, aber der Tierarzt hat alles verkorkst, und das Fohlen ist an der Nabelschnur erstickt. Die Senta wäre beinahe verreckt.

Was habt ihr mit ihr getan? fragte er gespannt.

Papa – sie betonte auf der zweiten Silbe – hat den Tierarzt rausgeworfen und hat ihr einen Liter schwarzen Kaffee mit Kognak gegeben. Sie hatte schon Herzschwäche.

Der Wagen war längst über den Marktplatz fortgerollt, beide aber standen sie noch am Fenster.

Ist das dein Papa? fragte er mit kräftigem Ton auf der ersten Silbe, der auf dem Bock?

Aber nein doch, sagte sie sehr erstaunt, das ist bloß der Kutscher Eli! Und als er noch immer nicht verstand: Ich bin doch die Christiane!

Er hatte keine Ahnung, wer die Christiane war, aber wie sie es sagte, mußte es eine sehr wichtige Person sein, und in ihm dämmerte etwas. Zudem hatte er ihre sehr großen, dunklen Augen ganz dicht vor sich, und er fühlte irgendwas, daß sie nicht nur Christiane hieß, sondern wirklich ›die Christiane‹ war, ganz gleichgültig, was das nun sein mochte.

Dann gehört dir also der Wagen? Und die Pferde? Und der Kutscher?

Nein, meinem Papa.

Und du wohnst auf dem Schloss?

Er hatte das Schloss immer nur wie einen Märchenpalast durch Busch- und Baumlücken aus weiter Ferne gesehen, denn es lag in einem großen, umgitterten Park.

Ja, da wohne ich, sagte sie und fing leise an, über den Bauernjungen zu lächeln.

Da habt ihr wohl so viel Geld, wie ihr wollt? fragte er unerbittlich weiter.

Das kommt auf die Jahreszeit an, sagte sie. Manchmal sehr wenig, gar nichts. Dann schickt der Rentmeister alle mit ihren Rechnungen weg und Papa ist ewig brummig. Aber nach der Raps- und Weizenernte kann ich mir wünschen, was ich mag.

Er war nicht sehr zufrieden über diese Auskunft. Geldmangel auf einem Schloss störte seine Illusionen. Und wie sagst du zu deinem Papa? Redest du ihn Herr Graf an?

O Gott, nein! lachte sie nun hell heraus. Ich sage zu ihm ›Nuschelpeter‹ oder ›Armer Einsamer‹ oder ›Alter Greiser‹. Er hat furchtbar viele Namen. Meistens sage ich aber einfach Pitt.

Johannes Gäntschow wurde immer unzufriedener. Ihn befriedigten ihre Antworten gar nicht. Er kam auf den Verdacht, daß sie vielleicht doch nicht die richtige Tochter sei.

Darfst du denn mit ihm essen? fragte er vorsichtig.

Natürlich, sagte sie, ich und die Miß und die Mademoiselle essen immer mit Papa.

Wer sind denn das?

Das sind meine Erzieherinnen.

Und warum gehst du dann zum alten Marder, wenn du zwei Erzieherinnen hast? Er war jetzt fest davon überzeugt, daß sie ihn anlog.

Weil ich richtig aufs Gymnasium soll. Weil ich Pitts Einzige bin und das Gut erben soll. Und Pitt sagt immer, ich kriege doch nur einen Flachkopf, wir Fiddes haben kein Glück im Heiraten. Und dann muß ich die Wirtschaft allein führen können.

Johannes starrte sie immer fassungsloser an. Sicher war sie eine schreckliche Lügnerin, wenn sie auch mit ihren Augen gar nicht danach aussah. Er bereitete schon wieder eine neue Frage vor, mit der er sie richtig ins Gedränge bringen wollte, als die Tür aufging und Superintendent Marder hereinwutschte. Er rieb sich die kalten, frostroten Hände und sagte eilig: Na, am Fenster? Jetzt ist Schulstunde. Da ist dein Platz, Hannes, los! Bitte, setze dich, Christiane.

Und sofort begriff Johannes, daß sie doch die Wahrheit gesagt hatte, die ganze Wahrheit, begriff es aus dem verschiedenen Ton, mit dem Marder sie und ihn anredete.

Na, wie ist es mit mensa? fragte der eilig. Los, los, Johannes, mensa, mensae ... jede Stunde kostet deinen Vater Geld, denke immer daran, mensae, mensam, aber was ist das mit dir? O mensa! Na, nichts, – Christiane?

 

Wir haben erst einmal Bekanntschaft geschlossen, Herr Marder.

Schön, schön, aber dieser Junge muß richtig lernen. Er kostet seinen Vater immerzu Geld. Und sein Vater hat nicht viel, Christiane.

Ich muß auch richtig lernen, Herr Marder, sagte Christiane ernsthaft, und ich koste meinen Vater auch jede Stunde Geld. Sieh her, Hannes, hier auf der ersten Seite, das ist eine lateinische Satzlehre, Syntax heißt Satzlehre. Du hast mich vorhin gefragt. Und mensa heißt auf lateinisch der Tisch ...

Na schön, na schön, sagte der Superintendent, macht denn so fort. Ich muß nur mal ... Er rannte hinaus, in die Scheune, wo sie mit dem Flegel Roggen draschen, damit Langstroh zu Ernteseilen da wäre. Es hatte ihm so geklungen, als wenn der Takt stolperte, nicht munter vorwärts ging. So lief er eilig und ärgerlich (er war immer eilig und ärgerlich), er hatte gar keine Zeit mehr dafür, richtig auf den Dreschakt zu achten, sondern er nahm dem nächsten Mann gleich den Flegel weg.

Aber Kinnings, rief er zu den großen Tagelöhnern, zwischen denen er wie eine kleine rötliche Ratte stand, heißt das dreschen? So muß das gehen! Und er schlug los, wobei er den Takt wie eine liturgische Antwort mit einem alten Bauernvers vorsang: Der Walter im Malter, da drischt er das Korn. Ich komm' nicht dahinter, so machst du's von vorn.

Hoppla, Herr Superdent, sagte der alte Behn und traf den Flegel des Geistlichen hart, diesmal haben Sie aber nachgeklappt.

Na also, Kinnings, macht weiter, Schmidt, so muß man dreschen. Ich muß nur mal ...

Und er rannte wieder in das Wohnhaus, denn es war ihm eingefallen, daß er sich ein Brautpaar auf neun Uhr zu einer Pastoralen Vermahnung bestellt hatte, weil die Braut schon zum zweiten Mal schwanger ging und die beiden noch nicht die geringsten Anstalten zum Aufgebot gemacht hatten.

Aber er kam zu spät, denn die beiden waren schon in die Studierstube zu seinen Schülern hineingegangen, und als er da an der Tür stehen blieb und auf das eifrige Reden drinnen lauschte, merkte er, daß auch seine Vermahnung schon überflüssig geworden war, denn er hörte den Johannes Gäntschow, diesen elfjährigen Bengel, wütend sagen: Das weiß doch jeder, und das hast du selber im Kruge erzählt, Adi, daß du die Lisbeth nur an der Nase rumführst, und du hast sogar mit Bohrmanns Erwin gewettet, daß du ihr sechs Kinder andrehen willst und sie doch nicht heiratest.

Du, du, machte der Windmüllersohn Adi wütend, du mit deinem Bruder Alwert ...

Tut! Tut! Grade mit meinem Bruder, sagte er wütend, aber was du für Schweinereien machst –!

Geht runter, Kinder, sagte der Superintendent milde. Es ist Frühstückszeit. Ja, jetzt, sofort. Ich bin sehr böse mit dir, Hans Gäntschow. Denkst du gar nicht an die Freiin Christiane? Geht jetzt ...

Vielleicht hatte Christiane den mageren, geflickten Johannes Gäntschow mit seinen viel zu kurzen Ärmeln, recht flüchtig gewaschen und gar nicht gekämmt, bisher für einen rechten dummen Bauerntöffel gehalten. Aber wie sie nun durch den Pfarrgarten gingen und von den wilden Wasservögeln redeten, die man jetzt im Winter vom Meeresufer her im Schloss Tag und Nacht schreien hörte, war ihr Ton ganz anders. Es war ihr nicht recht klar geworden, was für Schlechtigkeiten der dem Müllersohn eigentlich vorwarf, aber der Ton seiner Empörung war so überzeugend gewesen, daß das alles nicht mit irgendwelchem Schimpfen, wie's der Inspektor daheim auf dem Hof machte, oder mit Zänkerei zu verwechseln war. Wie der große, fünfundzwanzigjährige Flaps rot und verlegen stammelnd vor dem Jungen gestanden hatte, das war gut gewesen – ein Blick in eine andere Welt war's gewesen, eine neue Saite war in ihr erklungen. Und sie beschloss, den Vater nicht, wie sie noch vor einer Woche vorgehabt hatte, zu bitten, die nutzlosen Stunden bei dem eilfertigen Marder aufzugeben, sondern erst einmal dazubleiben und sich diesen Jungen, wie sie keinen bisher auf der Welt getroffen, näher anzusehen.

Eigentlich ist er wohl nichts für uns, sagte der Vater nachdenklich auf ihre Erzählung, und ich glaube auch nicht, daß er zu uns kommen wird. Er ist doch der Erbfeind!

Wieso ist er denn der Erbfeind? fragte sie erstaunt. Was ist denn ein Erbfeind? Ich denke, die Franzosen sind das.

Und genau so ist es mit den Fiddes und den Gäntschows. Der Graf überlegte, ob er ihr die alten Geschichten erzählen sollte, und beschloss, es vorläufig lieber zu lassen. Nach einem Vormittag Bekanntschaft schien ihm seine ruhige Christiane schon hinreichend angetan. Nun, du wirst ja hören, was er weiter sagt.

Christiane sah ihn nachdenklich an. Schön, Papa, sagte sie, und jetzt muß ich mich hinsetzen und büffeln.

Büffeln? fragte der Graf erstaunt. Ich dachte, wir wollten schnell noch einmal vor Dunkelwerden zum Wasser sehen, ob ich nicht ein paar Gänse schießen kann.

Heute nicht, entschied sie. Ich muß wirklich jetzt mehr arbeiten, wo ich einen Mitschüler habe.

Sie verschwieg, daß sie nicht so sehr einen Mitschüler, wie einen Schüler bekommen hatte. Denn von Superintendent Marder waren nicht mehr als abschließende, aber eilige Aufklärungen zu erhalten.

Das ist nicht schlecht, dachte der Vater, das jedenfalls ist nicht schlecht, wenn sie durch den Bengel ehrgeizig wird. Nun, man muß abwarten.

Drei oder vier oder fünf Tage schien auch alles gut zu gehen. Johannes sprach nicht mehr von Schmied werden und Bauer, sondern war bereit, sich mit all den neuen Dingen in den Büchern zu beschäftigen. Er hatte einen wirklich seit vielen Generationen ausgeruhten Kopf, und sein Gedächtnis fraß den Lernstoff in sich herein wie eine Dreschmaschine die Roggengarben. Aber dann kam es so, daß Neuschnee fiel, einen ganzen Vormittag lang. Am Morgen war sie noch im Jagdwagen zur Superintendantur gefahren, als sie aber mittags nach Schulschluss vor die Tür traten, fuhr Eli mit dem Schlitten und zwei fröhlich klingelnden, aufgeregt tänzelnden Rappen vor.

Au fein! sagte sie aufgeregt. Ist die Schlittenbahn gut, Eli? Komm, steig schnell ein, Hannes, fahr ein Stück mit!

Und dieser Schlitten, ein großer weißer hölzerner Schwan, zwischen dessen Flügeln sie sitzen durften, auf roten Polsterbänken, den Eli auf einem kleinen, schwebenden Bänkchen hoch hinter und über sich, mit den aufgeregten, dampfschnaubenden Pferden vor sich – dieser Schlitten war ja ein solches Wunder, daß er sich überrumpeln ließ und neben ihr saß, er wußte nicht, wie es gekommen war.

Schon ging es fort. Nichts mehr von klapperndem Kopfsteinpflaster – in einer schönen Kurve, in die sich die Pferdeleiber richtig einschmiegten, ging es über den Marktplatz in die enge Dorfstraße hinein. Still unter ihren Schneebuckeln saßen die Häuser, und die Leute blieben stehen und starrten und grüßten.

Plötzlich wurde Johannes hellwach. Da war eben der Ernst Menz stehengeblieben und hatte den Schlitten gegrüßt. Als er aber neben Christiane den Johannes Gäntschow entdeckt hatte, war sein ganzes Gesicht in ein breites und, wie es schien, höhnisches Grinsen auseinandergelaufen.

Plötzlich empfand er mit einer peinigenden Klarheit den Gegensatz zwischen den reinlich gebürsteten roten Polsterbänken, dem fleckenlos weißen Schwan, dem klingelnden Geschirr mit dem blitzenden Neusilberbeschlag und seinem alten, schmuddligen, geflickten Anzug, den schon Vater und Alwert getragen hatten und der noch dazu häßlich geflickt war. Und als nun auch noch der Müllersohn Adi Dittmann stehen blieb, breit Front machte, die Mütze zog und irgend etwas rief, das im Schellengeklingel unterging, aber sicher etwas Höhnisches gewesen war, als Christiane auch noch sagte: Ist es nicht schön? und ihn strahlend mit ihren dunklen Augen ansah, da schrie er ihr beinah in das erschreckende Gesicht: Anhalten, sofort anhalten!

Im ersten Augenblick begriff sie nichts von seinen Gefühlen. Sie starrte ihn verständnislos an, aber da war er auch schon aufgesprungen, hatte sich umgedreht und den Kutscher mit weißem, zuckendem Gesicht angeschrien: Anhalten sollen Sie, Eli, anhalten, verstehen Sie wohl!

Eli war nun freilich ein viel zu vornehmer Kutscher, um Befehle von so einem Bauernjungen zu hören, Befehle in solchem Ton noch dazu. Und für alle, außer seiner Herrschaft, war und blieb er zudem ›Herr Wacker‹.

Eli gab dem Sattelpferd einen Schmitz mit der Peitsche, ließ sie einen Augenblick auf dem Rücken des Handpferdes tanzen – und in beschleunigtem Tempo fuhren sie nun aus dem Dorfe heraus, die schöne, glatte Landstraße nach Fidde entlang.

Aber dem Jungen waren Eli und Tempo und Christas Fragen ganz egal. Ihm war, als sei er übertölpelt worden, die grinsenden Gesichter, sein Bruder Alwert, ol Gäntschow, de Supkopp – wie ein gefangenes wildes Tier sah er auf die rasch vorübergleitende Chaussee, hörte kein Wort von dem, was Christa sagte, riß sich los von ihr – und warf sich mit aller Gewalt, die Hände voraus, auf die Fahrbahn, die ihm immer glitzernder und weißer entgegenkam. Er landete trotz der vorgestreckten Hände wie eine Padde auf dem Bauch, rollte sich ein paarmal um, schlug mit dem Kopf gegen einen Stein, ein ganzes Feuerwerk von Rot, Gelb und Schwarz ging in seinem Kopfe los. Wie aus weiter Ferne hörte er das beruhigende Hoho! des Kutschers zu den aufgeregt schnaubenden Pferden, die ängstliche, sehr laut rufende Stimme Christas. Nun wird sie wohl auch noch kommen und ihn aufheben und bedauern! Er sprang hoch, sah um sich: sie waren erst drei-, vierhundert Meter aus dem Dorf, er brauchte nur über den Chausseegraben in die Tannenschonung von Rickmers, da fanden sie ihn nie ...

Er warf sich in den Graben, alle Glieder schmerzten, der Kopf brummte und summte, er zog sich an einem Tannenzweig hoch, kroch mühsam durch das enge Gestrüpp. Der Schlitten, der gewendet haben mochte, klingelte wieder näher. Hier kriegen sie mich nie. Und nach all dem Zorn erfüllte ein seltsames Gefühl von Befreiung, ein seliges Unabhängigsein die Brust. Mochten sie doch alle ... mochten sie doch alle ... ach geht ... Ich, Johannes Gäntschow ...

Ein echter Gäntschow, sagte auch der Papa, ganz wie die Gäntschows sind: unbeherrscht, jähzornig, eigensüchtig.

Christiane hatte dem Vater gar nichts sagen wollen, sie hatte sofort nach ihrer Heimkunft den alten Doktor Westfahl, den einzigen Arzt der Halbinsel, angerufen und gehört, daß kein Johannes Gäntschow tot, mit einem Schädel- oder Beinbruch in seine Behandlung gekommen war. Die haben Pferdsknochen, kleine Baroness!

Aber der untadelige Kutscher Eli hatte dem Grafen Meldung von diesem Zwischenfall gemacht. Eine Giftkröte, wenn ich so sagen darf, Herr Graf, hat mich angeschrieen, Herr Graf schreien nicht so. Ich bin aber schuldlos, wenn ihm was passiert ist ... Mit tiefer Verachtung: Solche Leute sind ja nie in einer Unfallversicherung ...

Ein echter Gäntschow, sagte der Graf zu seiner Tochter. Weißt du, dein Großvater hat mal einen Gäntschow, es muß der Großvater von diesem Jungen gewesen sein, direkt beim Wildern auf unserer Flur getroffen und hat ihn ganz höflich deswegen zur Rede gestellt. Dein Großvater war immer sehr höflich. Und da ist doch dieser Gäntschow, warte einmal, Malte, ja richtig, Malte hieß er, derart wütend geworden, wohl aus Beschämung, daß er dem Großpapa, als sei der der Wilderer, Flinte, Jagdtasche und Patronen beschlagnahmt hat. Der Graf lachte. Papa war ja so ratlos! Was mache ich nur mit dem Menschen? fragte er immer wieder. Wildert und behandelt mich als Wilderer!

Aber ich habe ihn doch nicht beschämt, Papa, sagte Christiane verständnislos.

Nein, du nicht, du sicher nicht, sagte der Papa sanft. Aber da ist noch diese uralte Geschichte vom Kehlteich. Er erzählte sie ihr jetzt doch und schloss: Und wie der Junge da nun in unserem Schlitten gesessen hat und irgendein Bauerntöffel hat ihn sicher angegrinst, da ist ihm wohl erst eingefallen, bei wem er da eigentlich zu Gaste fuhr – nein, die Gäntschows sind unberechenbar, im Grunde sind sie zehnmal stolzer als die Grafen Fidde.

Aber Johannes ist bestimmt nicht so, sagte Christiane. Bitte, Papa, laß noch mal anspannen, und ich fahre zu ihm und erkundige mich.

Ich würde es nicht tun, Christa, sagte der Vater. Christa, ich würde es nicht tun. Gerade nicht bei einem Gäntschow. Erkundigen können wir uns auch ohne das. Ich werde einmal den Doktor Westfahl anrufen ...

Da mußte Christiane denn gestehen, daß sie das schon getan hatte. Graf Fidde sah seine Tochter lange an. Er entdeckte plötzlich ganz neue Seiten an ihr. Ich will und werde dir über deinen Umgang nie Vorschriften machen, Christa, sagte er, aber ich rate zur Vorsicht. Zu äußerster Vorsicht und Zurückhaltung.

 

In den nächsten Tagen mußte Superintendent Marder leider die Beobachtung machen, daß der so angenehm begonnene Selbstunterricht der beiden Kinder schon wieder zu Ende war. Johannes Gäntschow saß blaß, mit langen, schmalen Lippen, übrigens auch mit einer kräftigen Beule auf der Stirn, an seinem Platz und beschäftigte sich ganz entschieden überhaupt nicht mit seinen Büchern. Christiane aber, auf dem schwarzen Wachstuchsofa, las wohl, schrieb auch was, gab aber womöglich noch verdrehtere Antworten als der Junge. Er hätte sich entschließen müssen, sich stundenlang zu seinen Schülern zu setzen, dazu aber hatte er jetzt am Wochenende, wo die Predigt gemacht werden mußte, gar keine Zeit.

Was habt ihr nur, Kinder, fragte er, habt ihr euch gezankt?

Ich zanke mich nie, Herr Marder, sagte Christiane sehr von oben herab.

Die Kühe haben sicher noch kein Futter, Herr Superdent, sagte Johannes, die brüllen schon mindestens seit 'ner Stunde.

O Gott, ja! Also, Kinder, nicht wahr, ich bitte euch, einen Augenblick, ich muß mal schnell ...

Er huschte hinaus, und die beiden saßen wieder allein. Christiane nahm ihr Buch vor, Johannes sah sie von der Seite an, etwas scheu, und stand dann rasch auf, als er merkte, sie war entschlossen, ihn wieder anzusehen. Er betrachtete ein Bild an der Wand: ›Heimkehr des verlorenen Sohnes‹, die Hände in den Taschen.

Johannes, sagte eine Stimme hinter ihm.

Er bohrte die Hände tiefer ein.

Hannes, klang es dringlicher.

Er zog die Schultern hoch und fing an zu pfeifen.

Hannes!! Das war schon beinahe ein Befehl.

Er drehte sich um, sah sie kühl an und pfiff melodisch weiter (was sehr schwer war). Dann wandte er sich einem zweiten Bild zu: ›Gott gibt Moses die Gesetzestafeln.‹

Du hättest ganz gut in unserm Schlitten mitfahren können.

Keine Antwort.

Warum bist du denn rausgesprungen?

Keine Antwort.

Wegen der alten Geschichte vom Pferdeschlachten? Papa hat mir das erzählt. Ich finde es einfach dumm.

So.

Oder weil mein Großvater deinen Großvater beim Wildern erwischt hat?

Schiet!

Wie?!

Schiet! Dein Großvater hat gewildert!

Mein Großpapa? Sie lachte so überlegen, daß er am Platzen war.

Warum hat er denn sein Gewehr hergegeben, die Bangbüx? Ich hätte mein Gewehr nie hergegeben.

Sie wurde auch etwas rot, aber sie bezwang sich. Das konnte sie, wie gesagt, ihr Papa war sehr oft krank und dann launisch.

Du würdest eben nie wildern gehen, sagte diese Evastochter.

Er sah sie wutfunkelnd an. Natürlich würde ich wildern gehn!! Gerade würde ich das.

Nein, nie würdest du etwas Schlechtes tun, sagte sie.

Immer! Immer gerade das Schlechte, schrie er wütend. Heute nachmittag noch gehe ich bei euch wildern. Und wehe, wenn mir einer von euch in den Weg kommt –!

Er machte eine drohende Gebärde. Er sah lächerlich und schrecklich zugleich aus. Sie sah ihn ein bißchen amüsiert an, wie man ein kleines Tier betrachtet, das sich abstrampelt. Also schön, sagte sie. Ich werde Papa sagen, daß ich dir die Erlaubnis zum Jagen auf unserer Flur gegeben habe – kannst du überhaupt schießen?

Die letzte Frage war rein rhetorisch. Sie setzte sich in ihrer Sofaecke zurecht und nahm endgültig ein Buch vor. Er war so erschlagen, daß er mindestens zwanzig Sekunden nichts sagen oder tun konnte. Er starrte sie nur an. Aber sie sah ihn nicht wieder an. Sie las geruhig, nur ihre Backen waren ein wenig gerötet.

Zum Donnerwetter! schrie er plötzlich und rannte zum Fenster. Gerade kam der Superintendent über den Hof ins Haus. Herr Superdent, schrie er aus dem Fenster, ich mach' Schluss, ich mach' Feierabend, ich geh' nach Haus.

Der alte Marder sah erstaunt zu dem Fenster hinauf und machte eine abwehrende Handbewegung. Dann faßte er sich an die Stirn, als habe er nun alles begriffen, und schoß in das Haus. Der Junge aber, der wußte, er mußte ihm auf der Treppe begegnen, war mit einem Schwung über die Fensterwand und kletterte wie eine Katze am Spalier hinunter. Er sah nicht zu ihr hinauf, die zu ihm herunterrief. Es war seine zweite Flucht vor ihr binnen einer Woche, und er wußte das ganz gut. Er rannte wie ein Amokläufer über den Hof und verschwand durch die kleine Pforte, die zu Kirche und Friedhof führte.

Er hatte dreiundeinhalb Stunden vor sich, bis der Unterricht offiziell zu Ende war, und es war ein bitterkalter Wintertag. Er dachte einen Augenblick nach, rannte dann hinter dem Dorf herum und schlug den Weg nach Dreege ein. Ihm war eingefallen, daß er im Hafen mal nachsehen könnte, ob da ein Dampfer lag. Am Hafen würde sich die Zeit am besten vertreiben lassen, und er blieb warm. Er war sich gar nicht klar darüber, wie die Sache nun weitergehen sollte, er würde mit seinem Vater, mit dem Superintendenten, mit allen Leuten Krach kriegen, er würde wieder auf die Dorfschule müssen, Doofschule hatte er noch gestern zu Nachbar Lindemanns Jürgen gesagt. Aber vorläufig mußten erst einmal diese dreieinhalb Stunden untergebracht werden. Er war sich vollkommen klar darüber, daß er in seiner Wut einen schönen Unsinn gemacht hatte. Weil man den einen Tag aus dem Schlitten gesprungen war, brauchte man nicht den andern Tag aus einem Fenster zu klettern. Weil Windmüllers Adi dämlich gegrinst hatte, brauchte man nicht mit Christiane Streit anzufangen. Aber so war er – und nun mach mal was dabei!

Als er an Müllers Adi gedacht hatte, hatte er unwillkürlich Schnee zu einem Schneeball aufgesammelt. Er knetete ihn voll Wut so lange, bis es ein richtiger Eisball geworden war, und wäre jetzt Adolf Dittmann in Wurfweite gewesen, hätte er eine Beule zu besehen gehabt.

Aber kein Adi Dittmann kam. Dafür aber hörte er hinter sich den Hufschlag eines Pferdes. Erst schielte er argwöhnisch, vielleicht waren ihm ›die Feinde schon auf der Spur‹. Dann aber sah er, daß es ein gewöhnlicher Einspänner war. Als er den Fahrer erkannte, war es der Fleischer Frehle aus Dreege, der vor ein paar Wochen die Blanka bekommen hatte. Der Fleischer war schon halb an dem Jungen vorbei, als er einen Blick zur Seite tat. Er parierte das Pferd. Bist du nicht einer von den Gäntschows Jungen? Willst du nach Dreege? Spring auf. Es ist heute frisch.

Der Junge kletterte auf den Karren.

Da, nimm den Pferde-Woilach um. Es pustet heute tüchtig. Der Bodden ist schon ganz zugefroren.

Liegen Dampfer unten?

Nein, keiner, nur der Blücher.

Der Blücher ist doch auch ein Dampfer, ein Raddampfer sogar, widersprach Johannes.

Der Blücher ist doch kein Dampfer, sagte der Fleischer. Der Blücher ist doch ein Malheur.

Und nun lachten sie beide, denn der Blücher war so alt und betagt, daß er für eine Fahrt nach Stralsund, die ein anderer Dampfer in drei Stunden fuhr, neun brauchte. Wenn er überhaupt hinkam.

Bist du nicht der Gäntschow, der beim alten Marder jetzt Unterricht hat? fragte der Fleischer.

Ja, sagte Hannes unwillig, denn jetzt mußte ja unbedingt die Frage kommen, warum er denn nicht im Unterricht, sondern auf der Landstraße sei.

Vielleicht aber interessierte sich der Fleischer nicht so sehr für die Zeiteinteilung des jungen Gäntschow. Ist das wahr, fragte er, daß du mit der Gräfin zusammen Schule hast?

Das ist doch keine Gräfin, äffte ihm Johannes nach, das ist doch eine Freiin.

Wieso, sagte der Fleischer, aus allen Himmeln gefallen, ließ die Peitsche sinken und starrte den Jungen groß an. Wenn's die Tochter von einem Grafen ist, ist es 'ne Gräfin, und wenn's die Tochter von 'nem Freiherrn ist, ist's 'ne Freiin.

Sie hat mir aber selbst gesagt, daß sie 'ne Freiin ist.

I du Donner, dann ist er vielleicht gar nicht Graf? Dann ist er bloß Freiherr?! Er überlegte. Oder ist Freiherr mehr als Graf?

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»