Wir hatten mal ein Kind

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Das hatte sein Vater noch mit eigenen Augen gesehen, und seitdem war die alte Behn von ihm zum Besprechen des Viehs in den Stall geholt worden.

Die geisterhafte helle Stimme rief und lockte Halloh! Halloh! Er schüttelte alles von sich ab, rief einmal kurz Halloh und machte sich von neuem auf den Weg durch das Unterholz. Mit dem Wasser hier, nicht nur mit der Stimme, war es komisch, wohin er auch lief, er kam auf den Strand. Ihm dämmerte, daß es wohl ein Inselchen sein könnte, er machte kurz kehrt, befreite sich aus dem Gestrüpp und ging, so leise er nur vermochte, das Ufer entlang.

Erst schien er von der Stimme abzukommen, aber dann klang sie rasch näher und näher. Er schlich immer sachter und langsamer, sie rief, rief jetzt in längeren Abständen ihr Halloh. Er war sehr nah an der Stimme, aber es war auch sehr dunkel, da der Wald beschattend bis dicht an den Strand trat. Er glaubte etwas Weißliches, etwas Graues zu sehen, er stand atemlos. Ja, da hob das Graue etwas wie Arme zum Mund, schrie Halloh – mit einem Sprung wollte er darauf zu. Und fühlte sich von hinten geisterhaft gehalten.

Eine Sekunde erstarrte alles in ihm vor panischer Angst, dann spürte er die Schwäche der klammernden Arme, er riß sich herum und los. Mit einem leisen Aufschrei stürzte sich der Schemen wieder auf ihn zu, er kriegte ihn am Arm zu fassen – ach, ein Weib, nur ein Weib!

Er griff fester. Und ein zweiter Schemen stürzte herbei, streifte ihm die Mütze vom Kopf, riß wild an seinen Haaren, daß er unterdrückt aufschrie ... Dann spürte er einen grimmigen Biß in der Hand, die den ersten Schemen noch hielt ...

Mit einer gewaltigen Anstrengung riß er sich los, schlug blindlings um sich und stürzte in das rettende, bergende Kieferngestrüpp. Der Spuk blieb hinten.

Er preßte sich zwanzig, dreißig Schritte weit durch die Stämmchen durch, stand lauschend. Alles war still, nur ein bißchen Nachtwind in den Zweigen, der Spuk verblasen, zerstoben. Ziellos machte er noch drei, vier Schritte – und da war das Licht vor ihm, das rote spärliche Licht, das er von der See gesehen hatte!

Er stand atemlos vor Überraschung, erlöste Freude wollte aufkommen und zerging wieder, alles verzerrte sich ins Unwirkliche, die hallohenden Hexen, die Hand, die vom Biß schmerzte, der nächtliche Kampf mit dem Kieferngestrüpp – und nun dies einsam glühende Licht in einer kleinen Waldöffnung, auf der es totenstill war.

Trotzdem ging er leise näher, nun unterschied er den rechtwinkligen Umriß einer unverglasten Öffnung, hinter der es heller war von dem Licht. Aber sie saß hoch in einer Wand, an die er stieß. Er tastete sich um die Hütte. An einer Stelle griffen seine Hände gegen buckliges Glas, aber es war dunkel dahinter.

Schließlich kam er an eine Tür. Er rüttelte daran, sie ging auf. Es war eine Art Scheune, Tenne, Stall, von allem etwas, es lag Heu hier und gedörrtes Schilf, es stand aber auch eine Kuh hier, die mit leisem Muhen ihm den Kopf entgegen hob.

Er trat einen Schritt zurück, aber trotzdem das Licht des Kienspans über der Feuerstatt so schlecht war, er hatte es doch gesehen: es war eine Kuh, wie er sie nie geschaut. Keine Silberkuh, wie auch sollte ein Frigga heiliges Tier in dies Hexenhaus kommen?, aber eine ungeheure, knochige, schwarzweiße Kuh, mit einem großen staubigen Kopf und festen kurzen schwarzen Hörnern. Etwas wir Frohlocken erfüllte sein Herz, er war auf dem richtigen Wege, der erste Fund war gemacht.

Er umschritt die Kuh. Sie war nicht ganz so groß, wie er in dem unsicher schwelenden Licht zuerst gedacht, aber sie war viel größer als die Kühe daheim. Er streckte eine vorsichtige Hand aus, berührte erst die Haut mit einem, nun mit allen fünf Fingern. Dann zog er die Haut prüfend von den Rippen, sie widerstand, sie war wie festgewachsen daran, es mußte eine uralte Kuh sein. Plötzlich dachte er an den Blick ihrer Augen, mit dem sie ihn angesehen hatte. Er ging wieder nach vorn. Jawohl, diese Augäpfel waren nicht dunkelsamtig wie bei andern Kühen, sie waren hell weißblau, sie ähnelten den Augenkugeln gekochter Fische. Die Kuh war blind.

Dies erschreckte ihn nicht, es beruhigte ihn. Das Tier war zwar unzweifelhaft von den Hexen betreut, aber allen irdischen Gebrechen unterworfen und nicht verhext. Seine Unternehmungslust kehrte zurück. Er gedachte des großen weißen Euters mit den vier langen, wohlgebildeten Strichen, während doch die Melkerinnen daheim sich mit kurzen, ewig wegrutschenden Zitzen abquälen mußten, er beugte sich prüfend über das Euter ...

Den beiden erschreckten, zerschlagenen Fräulein Nipperwiese an der Tür sank das Herz immer mehr. Eine Weile hatten sie schon glauben wollen, der nächtliche Eindringling auf ihrer Insel sei wirklich nur ein verfahrener Fischer, dem ein tüchtiger Nachtschrecken das Wiederkommen auf immer verleiden würde. Wer aber sich so mit einer Kuh abgab, wer so das Fell von den Rippen riß, um zu sehen, ob auch Fett dazwischen säße, wer so am Euter herumtastete, den kannten sie! Solche hatten sie oft genug, viel zu viel in des seligen Papas Viehstall gesehen. Sie waren zum Äußersten entschlossen, denn die alte Schwarzbunte war ihre rechte Nährmutter und Erhalterin. Nie sollte sie mit irgendeinem Gerichtsboten davongehen! Das sagte Friedas wie Elfriedes Blick.

Während Frieda im Rücken des Mannes zum Kienspan huschte, schlich seitlich Elfriede zu der Mistforke, die drei Schritt weiter an der Wand lehnte.

Plötzlich erlosch das Licht mit einem Funkenregen, als sei es aus dem Ring gestürzt. Der Bauer fuhr auf, horchte in die raschelnde Stille – da traf ihn der Stich der Forke in die Seite.

Er brüllte auf, stürzte auf die hellere Türöffnung zu, rannte etwas, das leise und schmerzvoll aufseufzte, über den Haufen, gewann das Freie. Er taumelte, halb betäubt von Schmerz, erfüllt von wahnsinniger Angst, eine Art Pfad hinab, sich an Bäumen stoßend, sich an Bäumen haltend. Er war am Strand, kein Licht blinkte, aber etwas Schwarzes lag auf dem dunklen Wasser. Er stolperte darauf zu, er fiel hinein, er griff nach der Ruderstange, stieß das Boot ab ... Die Stange entglitt ihm, er wäre ihr beinahe nachgestürzt, aber das Boot trieb schon. Schwer aufseufzend setzte er sich auf den Boden, legte seinen Kopf gegen die Heckkiste, murmelte: Verfluchte Insel! Verhexte Hexen! Und wußte nichts mehr. –

Der Leuchtturm von Barhöft steht toteneinsam auf dem äußersten Punkt einer Halbinsel nördlich von Stralsund. Auf ihn zielt von Norden der Vierendehlstrom, aber, ehe er an die Küste kommt, teilt er sich, und sein einer Ausläufer verliert sich südöstlich im Mühlentief, das an den Flundergrund stößt.

Hier war an einem frühen Sonntagmorgen ein Mädchen allein mit einer sonderbaren Art Boot unterwegs. Es war geradeheraus gesagt nichts anderes wie eine große Waschbutte, und daß es die wirklich war, bewies der Pflock, der das Loch verschloss, aus dem die Weiber das schmutzige Waschwasser fortlaufen lassen. Nur war jetzt der Pflock nicht von unten, sondern von oben in die Butte getrieben, und da saß er nun recht schön zwischen den beiden Knöcheln des Mädchens. Das Mädchen hatte in seiner Butte oder Balje nichts wie ein kleines Plätscherruder, mit dem es vorsichtig zugleich ruderte und steuerte.

Es war noch sehr früh am lieben Sonntagmorgen, kaum fünf, aber die Sonne schien schon lieblich, der Himmel war klar und die See so glatt wie ein sauber aufgelegtes Tischtuch. Das mußte sie aber auch sein und dazu mußte man auch noch so geduldig still sitzen wie dieses Mädchen, ohne auch nur ein einziges Zentimeterchen nach rechts oder links zu rücken, sonst würde die Waschbalje nur ein einziges Mal kippeln, rasch tief aufseufzen und leer sein. Es gehörte schon jahrelange Übung dazu, sich in solchem Ding so weit auf die See hinauszuwagen, und doch hätte es das Mädchen trotz aller jahrelangen Übung nicht getan, wenn es sich nicht endgültig und fürchterlich mit Onkel Walli verzankt hätte.

Onkel Walli nun war der von der verstorbenen Elternschaft eingesetzte Verwalter des Hofes in Solkendorf (unterhalb des Leuchtturms von Barhöft), der Vormundschaft, Ackerbau und Viehzucht verantwortlich auszuüben hatte, bis dermaleinst Justine ihren Justus oder wie er eben heißen würde, heiraten und sich damit aus der einen in die andere Vormundschaft begeben würde.

Nun war Onkel Walli ein Mann aus der Anklamer Gegend, wohl ein herzensguter Mann, aber was soll man von einem Mann aus der Anklamer Gegend erwarten? Er ist und bleibt ein Binnenlandmensch, und das sagt für einen Küstenmenschen, für einen Wassermenschen genug. Die Solkendorfer Kinder wurden gewissermaßen in der See groß, schon, wenn sie erst zwei oder drei Jahre alt waren, fingen sie an, rastlos in die Boote zu klettern, aus den Booten zu fallen und sich mit Rudern, dreimal so lang wie sie selbst, umzubringen. Und sie quälten immer ihre Mütter, ihnen zum Essen selbstgefangene Fische zu braten, von denen der längste so lang war wie ein Mittelfinger, wohlgemerkt wie der Mittelfinger einer Kinderhand.

Justine, Stine hatte von dieser Solkendorfer Tradition keine Ausnahme gemacht, und die Grundlagen zu ihrer heutigen Waschbaljenfahrt hatte sie in einem Alter gelegt, wo man nicht zweiunddreißig, sondern erst zwanzig Zähne im Munde hat. Das ging, wie es ging, solange die Eltern lebten, je mehr Justine sich streckte, um so mehr streckten sich auch die Fische, die sie heimbrachte, sie schienen mit ihr zu wachsen.

Aber Onkel Walli war nicht für Fische. Er hatte den Aberglauben vieler Binnenländer, daß Fische nach Tran riechen und schmecken, und er hatte den Privataberglauben dazu, daß es giftige und ungiftige Fische gäbe, und daß die ungiftigen sehr schwer von den giftigen zu unterscheiden seien, genau wie bei den Pilzen, die er auch nicht aß.

In allen Dingen waren er und sein Mündel besten Einvernehmens, aber in diesem Punkt waren sie so verschiedener Meinung, daß das sonstige gute Einvernehmen darüber in die Brüche zu gehen drohte. Der Krieg wurde von Onkel Wallis Seite unter schamloser Ausnützung der ihm behördlich verliehenen Gewalt geführt: Fischgerät wurde beschlagnahmt und verbrannt, Boote an Ketten gelegt, die Fischer gegen das Mädchen aufgehetzt. Für Justine blieben nichts wie Tränen, Schmollen, Proteste und List.

 

Am Tage zuvor war es Justine nun gelungen, Onkel Walli während seines Nachmittagschlafes die Schlüssel aus der Tasche zu stehlen. Eilig war sie damit entflohen, denn sie hatte eine Woche nicht auf dem Wasser gelegen, sie hatte ihre Angelschnüre zurechtgemacht, war hinausgerudert und hatte die Schnüre auf dem Flunderngrund ausgelegt.

Als sie hereinkam von der See, hatte Onkel Walli sie schon am Strande erwartet, und der gute alte Mann mit den glupschen Augen, mit dem Walrossschnauzbart und dem Hosenboden faltig wie ein Elefantenhintern war zum ersten Male richtig zornig gewesen. Ja, er schwor ihr zu, er würde sie nun binnen heute und sechs Wochen verheiraten, und finde sich kein anderer in dieser Zeit, dann an seinen Neffen, den Kröpelhinnerk, der einen Buckel hatte und ebensolch ein Landmensch wie sein Onkel war.

Vergebens hatte Stine ihn beschworen, sie doch nur noch ein einziges kleines Mal hinauszulassen, die Angelschnüre hingen doch nun einmal draußen und verkamen, wenn man sie nicht holte. Und sicher hingen Aale daran, und das Pfund grüne Aale brachte auf dem Fischmarkt in Stralsund jetzt einen Drittel Taler!

Vergebens, nicht einmal das Geld zog, sie könne viel mehr Geld verdienen, wenn sie beim Kartoffelstecken hülfe: Wir sind so hintenran damit, und die Leute lachen schon über uns.

Aber dann war sie doch nicht zum Kartoffelstecken gegangen, noch dazu an einem so schönen Sonntag, sondern hatte in ihrer Wut und Verzweiflung die alte Waschbalje den Abhang zur See hinuntergetrudelt, und nun saß sie darin und hielt auf den Flunderngrund zu. Bisher war ja alles gut gegangen, und Justine saß achtsam, mit zusammengekniffenen Lippen, in der Butte. Sie wußte: das Schlimmste stand ihr noch bevor, wenn sie die Aalhaken hereinnahm, die Aale von den Haken löste und in den Sack steckte. Dann mußte sie sich bewegen, und was das Waschfass zu diesen Bewegungen sagen würde, das wußte sie eigentlich auch.

Nun, aber eine Weile ging doch alles gut. Es war ein schöner Fang, den sie getan hatte, nicht übermäßig groß die Aale, aber gerade so eine schöne Mittelgröße, das Beste fürs Räuchern. Nun aber kam sie an einen Haken, und an diesem Haken saß ja wohl der Ur- und Stammvater aller Aale, ein Biest wie ein Kinderarm und lang wie ein abgebrochener Besenstiel. Paß Achtung, Stine, sagte Stine zu sich und ließ den Aal noch sein Tänzchen im Wasser machen. Dies kann schief gehen. Den Sack hatte sie hübsch zwischen den Beinen zu liegen, es krabbelte und wand sich ja schon einiges darin, und so konnte sie ihn nicht sofort griffbereit legen, aber sie machte ihn doch mit der einen Hand schon so weit auf, daß sie den Aal nur durch die Sackschnauze zu schieben brauchte.

Sie sah sich den Aal im stillen klaren Oberwasser an. Er schlängelte und bäumte sich schrecklich, er kam ihr immer mehr nicht wie ein Aal, sondern wie eine Seeschlange vor, die es auf sie abgesehen hatte.

Ich muß ihn am Haken in die Balje reißen und erst im Sack losmachen, entschloss sie sich. Nun, ich und Justine, wir werden es schon schaffen. Über ihrer Nasenwurzel stand eine scharfe Falte, ihre braunen, ziemlich buschigen Brauen saßen eng beieinander. Unwillkürlich sah sie auf die See hinaus, nicht daß sie etwa nach Hilfe ausgeschaut hätte, den Gefallen tat sie den dummen Bengels nun doch nicht, nur so ...

Aber da war nichts, die Sonne warf eine blendende, silbern glitzernde Bahn über das Wasser bis kurz vor ihre Balje, und in dieser Bahn schien weiterhin etwas Schwarzes zu sein, irgendein Stück Treibholz. Also denn nicht, und nun den Urvater! Sie zog an der Schnur, holte sie ein und der Aal kam halb aus dem Wasser. Was ein Biest, was ein Bengel, was ein Viech, sicher wog er seine neun oder zehn Pfund – beinahe war sie ärgerlich, daß sie ausgerechnet heute bei der Balje solch ein Vieh fangen mußte! Der Aal tanzte unermüdet und tat manchmal einen kräftigen Schlag gegen die Baljenwand. Sie dachte, er müßte eigentlich einmal müde werden, aber es sah nicht so aus.

Also denn! kommandierte sie sich selbst, und mit einem Schwung war der Aal auf ihrem Schoß. Aber da bäumte er sich auch schon auf, über der Baljenwand ahnte er wohl das gute salzige Wasser, Stine zog ihn kräftig zur Sackschnauze, der Aalschwanz tat einen hübschen Schlag in ihr Gesicht, der Aalkopf verschwand schon im Sack – Kippel, Kippel machte die Balje eilig, Uff! seufzte das einströmende Wasser ...

Es war eben doch zu lebhaft geworden, nun saßen sie alle im Wasser. Voran schwamm im Silberstreif die Balje, mit dem Boden nach oben, hinterher paddelte mit einem Arm Justine, in der andern Hand die Aalschnur und an der Schnur saß der Aal. Der Haken jedenfalls hatte festgehalten.

Justine war viel zu sehr Tochter der See, um nicht zu wissen, daß sie unmöglich die zwei Kilometer bis zum Strande schwimmen konnte. Auch die Waschbütte war wohl aufzurichten, aber hineinzukriechen war da nicht, das hieße nur sofort wieder umkippen. Eigentlich war also Justine zum Tode des Ertrinkens verurteilt, und daß das nicht ganz der angenehme Tod (mit Rückerinnerung an das ganze Leben) sei, wie er in manchem Buch so schön beschrieben steht, das wußte sie von dem und jenem Fischer, den man schon besinnungslos aus den Wellen geholt hatte.

Aber an Ertrinken dachte Justine nun freilich nicht. Zuerst dachte sie an ihre Kledagen, und mit ein paar festen Griffen holte sie sich die Röcke von den Beinen. Darüber ging der Urgroßvater flöten. Beest! sagte sie nur. Das Nächste war die friedlich schaukelnde Waschbalje, und mit zehn Schwimmstößen hatte sie die eingeholt. Sie schob sich das Ding, so bequem es eben ging, unter Brust und Bauch. Es trug sehr hübsch, zu schwimmen hatte sie nun nicht mehr, aber das Wasser blieb trotzdem saukalt, ja es wurde immer noch kälter, so schön die Sonne auch darauf glitzerte.

Bei diesem Glitzern der Sonne fiel Justine das Treibholz ein, und da sie jetzt durch die Butte etwas höher über dem Wasser lag, so sah sie, daß es gar kein Treibholz war, kein von der Deckslast irgendeines Schwedenschoners heruntergerissenes Grubenholz, sondern ein Boot, und ein leeres Boot, schien es, dazu.

Nun, hierauf haben wir ja schon einige Zeit gewartet, und jetzt sind wir recht froh, daß Justine ihren leeren Kahn gesichtet hat, und auf ihn zuschwimmt, und hineinsieht, und dort auf dem Boden besinnungslos in Blut, Dreck und Sickerwasser ihren künftigen Gemahl entdeckt. Da haben wir den Salat, dachte sie verdutzt, und Onkel Walli fiel ihr sofort ein, der gleich sagen würde, daß so etwas nur beim Herumstreunen auf dem Wasser vorkommen könne.

Aber nach dieser anfänglichen Betrachtung hatte sie ja erst einmal für die nächsten paar Stunden zu viel zu tun, um sich weiteren beschaulichen Erwägungen hinzugeben. Manchmal ist es selbst vom Kinderstandpunkt aus ganz gut, wenn Eltern, Pastoren und Vormünder überängstlich mit ihren Schäflein sind. Justine wenigstens fand es für diesmal ganz schön, daß der liebe betrübte, zornige, dicke Onkel Walli am Solkendorfer Strand auf und ab lief, ganz wie eine Glucke, der man Enteneier zum Ausbrüten untergeschoben hat und die nun fassungslos ihre eigene Nachzucht abschwimmen sieht. Als die Flotte einfuhr – die Waschbalje natürlich im Kielwasser –, wollte der Vormünder wohl blitzen und donnern und spucken, aber Justine sagte bloß: Kiek eins, Onkel Walli! – Und da dachte Onkel Walli, als er den besinnungslosen, aber ansehnlichen jungen Menschen liegen sah, vielleicht genau wie Justine vor einer Stunde: Da haben wir den Salat!

Aber auch hier war wieder zu Betrachtungen wenig Zeit, und keine zehn Minuten, da zog auf einer improvisierten Bahre der junge Gäntschow in Justines Hof ein. Onkel Walli aber hatte sogar an einen Rock für das junge Mädchen gedacht, sie hätte es ja wohl rein vergessen, in welchem Aufzug oder Auszug sie da einher ging.

Wenn aber nun Onkel Walli geglaubt hatte, er könnte jetzt den so geheimnisvoll Verletzten dem Doktor Benzin und den alten Tanten des Hofs überlassen, so war er wieder einmal falsch davor gewesen: Justines Platz war an diesem Bett. Sie hatte ihn gefunden. Während sie den Kahn mit ihrem kleinen Tröpfelruder heimwärts trieb, hatte sie den ganzen Weg lang einen recht guten Ausblick auf den jungen Mann gehabt. Da hatte er so gelegen, bleich, mit einem fast strengen Gesicht, das dichte dunkle Haar in der Stirn.

Gesprochen hatte er auch, aber es waren fliegende, flüchtige Worte gewesen, nur den Ton von Angst und Ungeduld hatte sie erfaßt. Nein, er war ihr Heimbringsel, und die alten Tanten mochten vor der Krankenstube tun, was sie wollten, in ihr hatte sie das Wort. Und der Kranke. Sie das leise, er das laute.

Je weiter die Nacht vorrückte, um so mehr, um so heftiger sprach er. Er mußte es bei geschlossenen Augen in den Gründen des Fiebers fühlen, daß er nicht mehr in einem von den Wellen gewiegten Kahn saß, sondern in einem Bette lag.

Ja? fragte sie wohl, über ihn geneigt, wenn er gar zu ungeduldig sprach. Wohin willst du?

Nichts, unkenntliche Wortfetzen. Die Hände laufen über die Bettdecke, Justine hat es, erst bei ihrem Vater, dann bei ihrer Mutter gesehen, daß die Hände so unruhig werden, die Sterbenden graben sich ihr Grab, sagt man. Sie nahm die beiden festen, gebräunten, verarbeiteten Hände zwischen die ihren. Erst suchten sie zu entwischen, dann beruhigten sie sich, das wilde Reden wurde seltener, er schlief wohl ein. Auch sie schlief ein.

Sie erwachte von seinem Blick. Er saß halb aufrecht im Bett und starrte sie verwundert an. Seine Stirn war zusammengezogen, als denke er fast schmerzhaft nach.

Bist du wach geworden? fragte sie.

Hast du die Silberkühe? fragte er.

Die Silberkühe?

Ja doch, die Silberkühe, sagte er ungeduldig. Über sein Gesicht ging wieder jener Ausdruck von Qual und Ungeduld, der sie schon im Boot erschreckt hatte.

Lege dich nur hin, sagte sie tröstend. Es kommt alles zurecht.

Er setzte sich mit einem Ruck ganz grade. Wenn auch du nicht die Silberkühe hast, muß ich weiter. Und wie zu sich: Sie sieht aus, als müßte sie sie haben. Aber sie hat sie auch nicht. – Er sah nach der Tür.

Leg dich doch bloß hin, bat sie nochmal. Das muß dir doch weh tun, das Sitzen.

Ja, es tut weh, sagte er. Wieso tut es eigentlich weh?

Jemand hat dich wohl mit einer Forke gestochen? fragte sie.

Mit einer Forke gestochen –? Dann erinnerte er sich. Ja, ich weiß wieder. In der Nacht. Es waren Hexen, sie wollten mich umbringen, weil ich die schwarzweiße Kuh gesehen habe, eine Herenkuh. Aber die silberne hatten sie auch nicht.

Das Mädchen machte einen großen Fehler. Es sagte: Wir haben auch schwarzbunte Kühe.

Schwarzbunte? Herenkühe? So sieht sie nicht aus. Und Silberkühe habt ihr nicht?

Nein, sagte Justine etwas ungeduldig. Und nun leg dich wieder hin, sonst wirst du noch kränker.

Aber statt sich hinzulegen, nahm er die Beine über den Bettrand. Sein Gesicht glühte von Fieber, seine Augen blickten flackrig. Plötzlich begriff sie, daß er weit fort in tiefem Fieber war, daß er kaum noch etwas sah von seiner Umwelt. Angst faßte sie, sie lief zur Tür, sie rief ins Treppenhaus: Onkel Walli! Tante Bertha! Ernstine! Erna!

Niemand rührte sich, es war die tiefste Schlafensstunde, die Uhr ging auf drei.

Als sie sich umwandte, war der Kranke schon auf den Beinen und in den Hosen. Er schien sie nicht zu sehen, er murmelte vor sich hin, aber sie verstand nicht. Sie verstand wohl, in welch schlimmer Lage sie mit ihm war, daß er wirklich fort wollte und daß sie ihn nicht halten konnte. Da verfiel sie in ihrer Besorgnis auf eine List, und sie befragte ihn: Was für Silberkühe sind denn das, zu denen du mußt?

Er drehte ihr langsam den Kopf mit den tiefliegenden, fieberglühenden Augen zu, er hörte auf, sich weiter anzuziehen, er fragte: Ja?

Sie wiederholte ihre Frage.

Friggas Kühe, sagte er. Die heiligen Kühe im Silberhaar, mit dem Silberhuf, mit dem Silberhorn. Er setzte hinzu: Sie geben zwanzig Liter jeden Tag.

Ja, sagte sie. Und wo sollen die sein?

Sein Gesicht bekam einen hilflosen Ausdruck. Ich suche, sagte er dann.

Komm, sagte sie. Leg dich wieder hin. Wenn du erst wieder gesund bist, suchen wir gemeinsam. Und sie legte den Arm um ihn, damit er wieder zum Bett ging.

 

Er drückte den Arm fort, als sei er ein dünner Zweig. Ich muß suchen, sagte er, und sein Gesicht sah böse aus. Sie redete auf ihn ein, er antwortete gar nicht mehr. Sie fragte noch einmal nach den Silberkühen, er antwortete gar nicht mehr. Noch einmal rief sie ins Treppenhaus: die schliefen.

Sie war so hilflos, sie konnte nichts gegen sein Fortgehen tun, ach, sie mußte ihn sogar noch dabei unterstützen. Als sie sah, wie sich seine fieberischen Hände mit den Hosenträgern abmühten, daß er die warme Strickweste anzuziehen vergaß, da half sie ihm. Und als er oben auf dem dunklen Gang nicht zurechtfand, da half sie ihm wieder mit der Lampe. Und sie half ihm weiter, auf der Treppe, auf dem Hof, an dem bläffenden Tyras vorbei.

Während sie das alles aber tat, dachte sie ununterbrochen darüber nach, wie sie ihm doch helfen könnte. Er hatte vor ihr hilflos wie ein Kind im Boote gelegen und sie hatte ihn an Land gebracht. Sie hatte ihn in Haus und Bett gepackt, er war ihre Sorge, ihre Verantwortung. Schon war sie fest entschlossen, ihn nicht allein gehen zu lassen, so wie sie war, würde sie mit ihm gehen. Irgendwann würde er ja doch umfallen, weit kam er so nicht, und dann würde sie ihn wieder in ein Haus bringen und diesmal würde sie ihn fester halten.

Er ging langsam und taumelnd die Dorfstraße voraus, vor sich hin murmelnd. Ganz von selbst hatte er die Richtung zur See eingeschlagen, als röche er sie. Sie zottelte hinterher.

Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Zuerst verwarf sie ihn als ganz unmöglich, aber er kehrte hartnäckig immer wieder. Sie lief hinter dem Kranken her, der Gedanke nistete sich fester ein, schon erschien er ihr nicht mehr so unmöglich. Sie lief vor, berührte seinen Arm und sagte: Du!

Er blieb stehen, trotz des Dunkels konnte sie fühlen, daß er sie gespannt ansah.

Ich will dir die Silberkuh zeigen, sagte sie.

Sie hörte einen Laut von ihm. Sie hatte solchen Laut noch nie im Leben gehört, sie hatte nie gedacht, daß man so großes Glück empfinden und so rein in einem Laut äußern könnte – manchmal jauchzten Kinder ähnlich, aber dies war es denn doch nicht.

Mach rasch, zeig, sagte er atemlos und faßte sie so fest am Arm, daß sie leise aufschrie. Komm doch!

Sie gingen hastig zurück. Nun taumelte er nicht mehr, er ging rasch, mit langen Schritten, wie ein strahlend frischer junger Mann. Er fragte nichts mehr, er sagte nichts mehr, aber sie fühlte, wie er ganz Spannung war.

Doch ihr Herz zitterte und bebte, es wollte, daß sie sagte: Ich habe dich belogen. Und sie ging weiter. Sie hoffte: vielleicht gelingt es. Und sie verzweifelte: das Fieber macht ihn nur hellsichtiger.

Es waren die schlimmsten dreihundert Schritte, die jetzt zum Hof, die die junge Justine je in ihrem Leben gegangen war, und sie wünschte während des ganzen Weges, sie wären ihr erspart geblieben.

Dann kamen sie wieder auf den Hof, der Tyras schlug an und winselte dann zur Begrüßung. Sie hatte die Stalllaterne anzuzünden, und das ging nur schwer und langsam mit ihren zitternden Händen. Dann hatten sie in die kleine Box neben dem Pferdestall zu gehen. Er hatte bei alledem ruhig und unendlich geduldig gestanden, aber sie fühlte wohl seine unerträgliche Spannung. Sie hatte keine Furcht davor, daß er sie etwa schlagen würde, wenn er den Betrug entdeckte, aber sie hatte Angst darum, was dann wohl aus ihm werden würde. Denn dann würde er nicht einmal mehr erlauben, daß sie ihm weiter nachging. So stieß sie zitternd die Lattentür zu der Boxe auf, blieb stehen, hielt die Lampe möglichst zurück und sagte: Das ist die Silberkuh.

Er trat rasch in die Boxe.

Mit dem Tier aber, das in dieser Boxe stand, hatte es eine ganz einfache Bewandtnis. Auf dem Hof zog länger schon, als Justine lebte, ein Schimmel, ein großes knochiges Tier, Pflug, Egge und Wagen. Je älter er wurde – und er mußte längst Mitte der zwanziger Jahre sein, was für Arbeitspferde ein Methusalemalter ist –, um so schlohweißer und knochiger wurde er. Er hatte sich immer bemüht, fleißig seine Arbeit zu tun, aber bei der letzten Herbstbestellung konnte er einfach nicht mehr: drei- oder viermal fiel er um vor dem Pflug und kam nur noch mit Mühe heim in den Stall. Da erbettelte es sich Justine von Onkel Walli, daß der alte Schimmel nicht dem Pferdeschlächter oder Schinder anheimfiel, sondern in der dunklen Box hinter dem Pferdestall seinen Gnadenhafer fressen durfte. Auf diesen alten Schimmel war sie nun verfallen, als ihr gar kein anderes Mittel einfiel, den kranken Mann zu halten, und sie hoffte, im Dunkel des nächtlichen Stalls werde ihr die Unterschiebung glücken.

Der Mann stand zuerst bewegungslos in der Stalltür und starrte auf den großen, bleich schimmernden Fleck. Silberweiß, sagte er selig. Er drehte sich zu Justine um und sagte geheimnisvoll freundlich: Es hat alles seine Richtigkeit. Silberweiß ist sie. Sie schämte sich sehr.

Er trat über das Stroh näher, er streckte die Hand aus, ihr Herz erzitterte, er nickte und murmelte. Der Schimmel hatte seinen müde hängenden Kopf gegen das Licht gedreht und sah trübe hinein. Der Mann faßte nach den Ohren des Schimmels, der fühlte es wohl kaum mehr, er war nicht mehr von dieser Welt, er lebte nur noch auf den Fohlenweiden seiner Jugend. Der Mann sagte kopfnickend: Silberhörner, fest und gerade. Wieder richtig.

Er strich über die Brust. Er lobte: Tief gebaut und breit.

Er befühlte den armen durchhängenden, vom Geschirr mit wunden Druckstellen entstellten Rücken. Gerade wie ein Eschenstamm, sagte er.

Einen Augenblick stand er mit hängenden Armen vor dem Tier. Sicher war es seine Silberkuh, das Tier, um das er ausgezogen, nach dem er sich gesehnt, von dem er geträumt hatte. Dann richtete er sich stramm auf. Er sagte strenge zu dem Mädchen: Hol einen Melkschemel und Eimer. Ich will die Silberkuh melken.

Das arme Mädchen erschrak schlimm, dann besann es sich. Silberkuh steht trocken, flüsterte es. Silberkuh bekommt ein Kalb.

Der Mann stand da. Er sah Justine voll an. Und bekomme ich das Kalb von Silberkuh? fragte er.

Wenn du jetzt mitgehst und dich gleich hinlegst, sollst du das Kalb von Silberkuh haben.

Du versprichst es mir, daß du mich gleich weckst, wenn es so weit ist mit dem Kalben? Ich will mein Kalb selber holen, keiner soll es anfassen. – Keiner soll es anfassen! schrie er noch einmal.

Du erschreckst ja Silberkuh, sagte sie. Komm jetzt, sie muß ihre Ruhe haben.

Er kam mit, folgsam wie ein Kind.

An des Schlafenden, Fiebernden Bett saß sie und weinte bitterlich. Es wollte ihr noch nicht eingehen, daß es gut sei, mit solchen Lügen anzufangen.

Aber es brauchte dann ja nicht mit Lügen weiter zu gehen. Es lag keine Notwendigkeit mehr dazu vor, als der junge Bauer nach vielen Tagen wieder erwachte. Warum er auf diese Fahrt gegangen, was ihm auf ihr geschehen, das war vergangen, wie das Fieber vergangen war. Nicht vergangen war die Erinnerung an eine helle mutige Stimme, die bei ihm geblieben war in der Nacht höchster Qual.

Und als sie nachher auf Fiddichow jene gewaltige Hochzeit feierten, bei der keine Kehle auf der ganzen Halbinsel trocken blieb, bei der in allen Straßengräben tags wie nachts heimkehrende Gäste vorübergehendes Quartier nahmen, bei der sie vier Zimmerwände aus dem Haus schlugen, weil kein Raum groß genug war für die Tanzenden – als sie also diese Hochzeit feierten und die Großbauern den jungen Malte ein wenig hecheln wollten und nach seiner Silberkuh fragten, da sagte er lachend und ganz unbeschwert: seine Schwarzbunten seien auch ganz schön und jedenfalls besser als die braunen Ziegen, die er bisher gehabt. Und im übrigen habe er ja seine Silberkuh ...

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