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NIKI GLATTAUER

Ende der Kreidezeit

Ein bisschen Schule –

und der irre Rest des Lebens

Mit 15 Bildern von

Verena Hochleitner


Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15


In einem Bezirk am südöstlichen Rand der großen Stadt wohnte die Lehrerin Reingard Söllner, 48. Als sie jung war, war sie sehr gern Lehrerin und liebte alle ihre Schüler, sogar die schlimmen und schlechten. Inzwischen war sie hundert Jahre Lehrerin und manchmal liebte sie ihre Schüler immer noch, sogar die schlimmen und schlechten, auch wenn sie diese nun verhaltenskreativ und bildungsfern nennen musste. Diesen buk sie Schokoladekuchen oder adoptierte sie, wenn sie keine Eltern hatten oder Eltern, die nur so hießen.

Aber manchmal hasste sie ihre Schüler, und sie packte sie schon im Treppenhaus der denkmalgeschützten Schule am nordwestlichen Rand der großen Stadt mit ihren vom häufigen Gebrauch der Tafelkreide bleichen, ausgetrockneten Händen an ihren Plastikjackenkrägen, an ihren Armen und Beinen und manchmal auch an ihren tief über den Arsch heruntergezogenen Jogginghosen oder an den Fake-Etiketten ihrer 7-Euro-T-Shirts und schwang sie über ihrem Kopf so lange und so heftig im Kreis, bis sie aufhörten zu quietschen und zu gackern und zu brüllen und zu raufen, und dann schleuderte sie einen nach dem anderen aus den Gangfenstern im ersten Stock der denkmalgeschützten Schule oder aus jenen im zweiten Stock und manchmal sogar aus jenen im dritten, und wenn es Mädchen waren, eine nach der anderen.

Doch während die letzte Schülerin noch zu Boden fiel, mit vor geheuchelter Angst weit geöffneten Augen und im Licht der Morgensonne pink fluoreszierendem Nasenpiercing, standen unten im Schulhof die ersten bereits wieder auf und kamen die Stiegen hochgelaufen und quietschten und gackerten und brüllten und rauften, stießen einander um, trampelten einander nieder, stiegen übereinander hinweg, eilten weiter hoch, Treppe um Treppe, verteilten sich in den Stockwerken, bis sie wieder in Dutzenden Klassen auf Hunderten Sesselchen an Hunderten Tischchen saßen, an deren Unter- und Innenseiten die Reste von Millionen Kaugummis klebten, früher Erdbeergeschmack, früher Zitronengeschmack, früher Wassermelonengeschmack, jetzt versteinert, vermutlich geschmacklos.

—Guten Morgen, Frau Lehrerin!

—Guten Morgen, Jacqueline!

—Guten Morgen, Frau Lehrerin!

—Guten Morgen, Patrick!

—Guten Morgen, Frau Lehrerin!

—Guten Morgen, Ahmet!

—Guten Morgen, Frau Lehrerin!

—Guten Morgen, Milad!

—Guten Morgen, Frau Lehrerin!

—Guten Morgen, Snezana!

—Guten Morgen, Frau Lehrerin!

—Guten Morgen, wer bist denn du?

—Ich bin Ayse.

—Du hast ja plötzlich blonde Haare, Ayse.

—Ja, ich habe meine Haare gefärbt.

—Und dein Kopftuch?

—Ich trage es nicht mehr.

—Warum hast du deine schwarzen Haare blond gefärbt und trägst dein Kopftuch nicht mehr?

—Ich hatte nicht nur ein Kopftuch, Frau Lehrerin, ich hatte siebzehn verschiedene Kopftücher.

—Warum also hast du deine schwarzen Haare blond gefärbt und trägst keines deiner siebzehn verschiedenen Kopftücher mehr?

—Ich muss meinen Weg suchen, wenn ich hier leben will, Frau Lehrerin.

—Wer hat gesagt, dass du deinen Weg suchen musst, wenn du hier leben willst?

—Mein Vater hat das gesagt.

—Hat er auch gesagt, dass du dafür deine schwarzen Haare blond färben und keines deiner siebzehn Kopftücher mehr tragen sollst?

—Nein, Frau Lehrerin, das hat der Mann vom Arbeitsamt gesagt, als ich meinen Vater begleitet habe, damit er den Mann vom Arbeitsamt versteht. Er hat gesagt, man kann nicht früh genug damit beginnen, seinen Weg zu suchen. Er hat gesagt, es gibt steinige und weniger steinige Wege. Er hat gesagt, schwarze Haare und Kopftuch sind ein steiniger Weg, wenn man hier leben will.

Auch Reingard Söllner dachte manchmal über richtige und falsche Wege nach. Manchmal bestand sie darauf, auf dem richtigen Weg zu sein, meistens dann, wenn sie auf dem falschen Weg war, aber das wusste sie in diesen Momenten nicht. Sie dachte, ich bin auf dem richtigen Weg, und blickte trotzig zu Boden, um die Warnschilder in ihrem Kopf nicht sehen zu müssen: Sackgasse, Einbahn, Fahrverbot, so was. Auch ihren inneren Stimmen verbot sie zu sprechen, wenn sie darauf bestand, sich auf dem richtigen Weg zu befinden. Nicht jetzt, innere Stimme!, herrschte sie dann ihre inneren Stimmen an, immer in Einzahl und Mehrzahl gleichzeitig: Seid jetzt gefälligst still, innere Stimme!

Wenn sich Reingard Söllner auf dem richtigen Weg befand, dachte sie nicht, ich bin auf dem richtigen Weg, da ging sie einfach dahin und dachte gar nichts oder dachte nur: Was koche ich heute? Habe ich die Fernsehzeitung, die ich seit 7 Monaten abbestellen will, schon abbestellt? Wo habe ich bloß die bunte Tafelkreide hingetan?

Am wohlsten fühlte sich Reingard Söllner, wenn sie auf gar keinem Weg war. Dann ruhte sie sich aus. Manchmal tagelang, und ihre beiden Kinder dachten schon, sie sei tot. Wenn sie auf gar keinem Weg war, befand sie sich meistens auf einem Platz, oder sie saß in einem Park oder auf einer Wiese. Oder sie lag auf einer lindgrünen Liege in einem Thermenhotel. Oder auf einem knallgelben Badetuch am Chai-Chet-Beach in Thailand. Wenn sie selbst auf gar keinem Weg war, war sie auch für andere Menschen da, die auf ihren richtigen oder falschen Wegen kamen und gingen.

—Guten Tag, Herr Maier, mein Name ist Söllner. Wie ich sehe, sind Sie seit vielen Jahren unterwegs. Darf ich Ihnen zur Stärkung eine Extrawurstsemmel anbieten?

—Danke, Frau Söllner, gern nehme ich die Extrawurstsemmel, während ich meinen Weg suche, obwohl ich gestern noch Veganer war und mich nur von roten Bio-Apfelkuchenschnitten ohne tierische Fette ernährt habe.

—Guten Tag, kleines Mathematik-Genie, wie ich sehe, machst du dich auf einen weiten Weg. Darf ich dir ein Buch mit den Vollständigkeits- und Unvollständigkeitssätzen nach Kurt Gödel mitgeben, damit du unterwegs rechnen kannst? Aber warum, wenn ich fragen darf, machst du dich auf den Weg, wo doch hier die prächtigste Mathematik gedeiht?

—Meine Eltern sagten, ich solle meinen Weg suchen. Oder sagten sie, ich solle meinen Weg machen? Ich glaube, es war, ich solle erst mal meinen Weg suchen, dann würde ich bestimmt meinen Weg machen. Sie rieten mir, nach Frankfurt am Main zu gehen, wo Goethe geboren wurde, und dann nach Stratford-upon-Avon, wo Shakespeare geboren wurde, und wenn mir dann noch Zeit bliebe, nach Turin, wo der große Alessandro Baricco lebt, der den Literaturnobelpreis bis jetzt nur irrtümlich nicht erhalten habe. Als ich sagte, gut, dann gehe ich mal los und beschäftige mich mit Goethe statt mit Gödel, waren sie sehr stolz auf mich.

—Heißt du Marie, kleines Mathematik-Genie?

—Ja, so heiße ich. Warum?

—Meine Tochter heißt auch Marie. Aber sie ist kein Mathematik-Genie.

—Macht es Sie traurig, dass sie kein Mathematik-Genie ist, vielleicht gar kein Genie?

—Nein, das macht mich fröhlich, denn Genies müssen immer genial sein. Das ist schwer durchzuhalten, siehe Maryam Mirzakhani.

—Wer ist Maryam Mirzakhani?

—Maryam Mirzakhani war ein Mathematik-Genie. Jetzt ist sie tot. Krebs.

—Krebs?

—Ja, Krebs.

Einmal merkte die Lehrerin Reingard Söllner, dass sie auf dem falschen Weg war, da ging es um ihren zweiten früheren Ehemann. Die Warnzeichen in ihrem Kopf waren in immer kürzeren Abständen gekommen: Sackgasse. Einbahn. Kreisverkehr. Seid jetzt still, innere Stimme!, hatte sie ihre inneren Stimmen angeherrscht. Aber weil sie doch merkte, dass sie sich auf dem falschen Weg befand, packte sie den Weg und schlug vor Wut so lange auf ihn ein, bis ihre Finger blutig waren. Dem Weg war es egal, er tat gar nichts. Also riss ihn die Lehrerin Reingard Söllner der Länge nach aus dem Boden und schleuderte ihn aus dem Erkerfenster der Villenetage, die ihr erster früherer Mann geerbt und ihr vorübergehend überlassen hatte. Sie spuckte noch dreimal nach. Du dummer, blöder, falscher Weg!, rief sie dem fallenden Weg hinterher, warum führst du mich immer zu den falschen Männern? Ich bekoche sie, beschmuse sie, bemuttere sie, verpflege sie, halte sie bei Laune. 7000 Mal habe ich Kaffeetassen und Biergläser für sie in den Geschirrspüler geräumt, 700 Mal die Unterhosen für sie ausgesucht, 77 Mal die Koffer für sie gepackt, wenn sie auf Dienstreise fahren mussten, 777 Mal ihre abgeschnittenen Fingernägel vom Boden gesammelt und 17.000 Mal ihre frisch gewaschenen Socken aus der Waschtrommel gezupft plus den einen, den ich nach dem Ausräumen das letzte Mal übersehen hatte.

—Mir fehlt schon wieder zu der einen Socke die andere Socke.

—Ich hab sie nicht gegessen, Schatz.

—Sehr witzig.

—Meinst du?

Warum also, blöder, falscher Weg, führst du mich immer zu Männern, die mit den Jahren zu meinen Söhnen werden? Aber der Weg gab keine Antwort. Sie ließ ihn liegen und schaute sich nach einem neuen um. Der, den sie fand, führte sie geradewegs zum nächsten Mann, mit dem es eines Tages wieder so kam wie mit den Männern davor, nur hatte sie diesmal zwei Kinder. „Es tut mir leid, aber mit uns beiden geht es nicht mehr weiter, Schatz“, sagte Reingard Söllner eines Morgens zu ihrem zweiten Mann, nachdem sie eine ganze Nacht darüber nachgedacht hatte, welche Formulierung sie nach es tut mir leid gebrauchen sollte.

—Muss es für dich wirklich aus sein?

—Nein, es muss für mich endlich anfangen.

Die Lehrerin Reingard Söllner packte ihre zwei Kinder, ihre Katze, die Hund hieß, weil sie glaubte, sie sei ein Hund, ihre lindgrüne Zimmerlinde, ihre 37 Kaffee- und Teetassen, ihre 47 Fotoalben, ihre 747 Bücher, ihre 1017 Schallplatten sowie 27 Kisten mit anderen wichtigen Dingen wie den hellblauen Kopfkissenüberzügen, dem Radiowecker mit dem wegschaltbaren Display, dem Schlüssel für das Entlüften der Heizkörper, so was, und zog in den großen Bezirk am südöstlichen Rand der Stadt.

Auf ihrem Schild auf der Gegensprechanlage stand Tür 3, Reingard Söllner. Auf dem Schild über der Gegensprechanlage stand Stiege 8. Auf der Breitseite des achtstöckigen Hauses stand Linsenburgerstraße 38. Aber das war nur der zweite Teil der Wahrheit. Der erste Teil lautete: 34 bis.

Das sorgte anfangs bei allen Beteiligten für ziemliche Verwirrung, zum Beispiel, als Reingard Söllner zum ersten Mal ein Taxi rief, weil ihre beiden Kinder plötzlich hoch zu fiebern begannen und sie kurzerhand beschloss, mit ihnen unverzüglich zum Arzt zu gehen. Sie hing schon 17 Stunden in der Leitung, als sich die Dame vom Funk endlich meldete. „Bitte einen Wagen in die Linsenburgerstraße achtunddreißig“, sagte sie.

—Linsenburgerstraße achtunddreißig, sagten Sie?

—Ja, richtig, Linsenburgerstraße achtunddreißig.

—Tut mir leid. Meine App findet Ihre Adresse nicht.

—Ihre App muss sie auch nicht finden. Hauptsache, der Taxifahrer findet sie.

—Aber ich brauche eine korrekte Adresse, sonst kann ich die Fahrt nicht vergeben.

—Die Linsenburgerstraße achtunddreißig ist eine korrekte Adresse. Ich wohne da nämlich, und zwar mit meinen beiden Kindern, und wir brauchen jetzt ein Taxi, denn meine Kinder haben plötzlich beide hohes und immer höher werdendes Fieber bekommen.

—Ich verstehe. Warten Sie, ich versuch es andersrum.

—- - -

—Ich finde da eine Linsenburgerstraße vierunddreißigbisacht-unddreißig. Nehmen wir die?

—Auch gut.

—Ihr Wagen kommt in sieben Minuten.

—Danke.

—Gern. Und nennen Sie in Zukunft bitte die richtige Adresse.

Als das Taxi endlich kam, war die Lehrerin Reingard Söllner, 48, um Jahre gealtert und der Arzt, den sie besuchen wollte, längst in Rente. Das erste Taxi hatte nämlich bei Nummer 34 vergeblich gewartet und war wieder weggefahren. Also hatte Reingard Söllner noch einmal zum Handy gegriffen. „Haben Sie mir jetzt ein Taxi hinbestellt oder nicht? Ich warte bereits seit siebzehn Minuten“, sprach sie in das Mikro ihres Handys.

—Wohin bestellt?

—Linsenburgerstraße vierunddreißigbisachtunddreißig.

—Linsenburgerstraße vierunddreißigbisachtunddreißig? Das muss die Kollegin gewesen sein.

—Das Taxi ist jedenfalls nicht gekommen.

—Moment, ich frage nach.

—- - -

—Der Fahrer sagt, er hat auf der Vierunddreißig zehn Minuten gewartet. Als zehn Minuten niemand kam, ist er wieder los.

—Ich habe mit meinen Kindern auf Nummer achtunddreißig gewartet.

—Warum nennen Sie uns dann die Vierunddreißig, wenn Sie auf Achtunddreißig warten?

—Weil es die Achtunddreißig angeblich nicht gibt.

—Die gibt es nicht, und Sie wohnen da?

Moment, ich sehe eben, die Achtunddreißig gibt es wirklich nicht.

—Das habe ich Ihrer Kollegin bereits alles erklärt. Es heißt in der App, die Sie verwenden, offenbar vierunddreißigbisachtunddreißig. Aber auf Nummer vierunddreißig wohne ich nicht. Ich wohne auf Nummer achtunddreißig. Da sind gut fünfhundert Meter dazwischen. Kann der Fahrer nicht die Nummer achtunddreißig anfahren?

—Nicht, wenn Sie ihm als Fahrtziel die Vierunddreißig nennen.

—Dann nennen Sie ihm doch die Achtunddreißig. Oder sagen Sie ihm, er soll einfach in seinen Stadtplan schauen. Da steht die Achtunddreißig nämlich ganz fett drin.

—In seinen Stadtplan? Unsere Fahrer haben keine Stadtpläne mehr. Unsere Fahrer haben Navi. Sind Sie Österreicherin?

—Tut das etwas zur Sache?

—Nicht direkt.

—Darf ich Ihnen die Sache noch einmal erklären. Es handelt sich um einen weitläufigen Wohnblock. Auf vierunddreißig steht ein achtstöckiges Haus, auf sechsunddreißig steht ein achtstöckiges Haus, und auf achtunddreißig steht ein achtstöckiges Haus. Jedes Haus hat drei Treppenhäuser, durchnummeriert von eins bis neun. Ich wohne auf Stiege acht, das heißt, im dritten der drei Häuser, das wäre dann das Haus mit der Nummer Linsenburgerstraße achtunddreißig.

—Ich habe einen Vorschlag. Ich schicke nochmals ein Taxi auf die Vierunddreißig und Sie gehen einfach da hin. Sie sagten doch, Sie hätten nur ein paar Meter zu gehen.

—Das sagte ich nicht. Sind Sie Deutsche?

—Wie bitte?

—Nichts. Ja, schicken Sie das Taxi bitte auf die Vierunddreißig.

Das Taxi kam dann also an die 34, der Fahrer grüßte höflich, ließ alle einsteigen, stellte für Sami, 8, einen Kindersitz bereit und fuhr ohne Umschweife an die gewünschte Adresse. Leider gab es dann, wie gesagt, an der Adresse des Arztes den Arzt nicht mehr. Wo früher die Arztpraxis gewesen war, war nun ein Second-Hand-Shop namens Second-Hand(y)-Shop. Ein Mann mit Turban verkaufte Smartphones, iPhones, Navis, metallfarbene Staubsaugroboter, Wasserschöpfroboter in allen Farben, sprechende Kühlschränke, so was. Das hatte auch sein Gutes. Als die Kinder im Schaufenster die Wasserschöpfroboter sahen, waren sie auf der Stelle wieder gesund.

„Seid ihr nicht mehr krank, ihr zwei Kinder?“, fragte Reingard Söllner. „Nein, Mami“, sagte Marie, 14. „Nein, Mami“, sagte Sami, 8.

—Dann fahren wir wieder zurück.

—Dürfen wir jeder einen Wasserschöpfroboter haben, einen orangen und einen türkisfarbenen?

—Nein, Kinder.

—Warum nicht, Mami?

—Weil ihr keinen Wasserschöpfroboter braucht, weder einen orangen noch einen türkisfarbenen. Wir schöpfen das Wasser selber, wenn wir einmal welches in größeren Mengen verschütten.

—Aber dann werden wir vor lauter Enttäuschung gleich wieder hoch zu fiebern beginnen.

—Gut. Dann morgen. Einen orangen für dich, Sami, und einen türkisfarbenen für dich, Marie, und nur, wenn ihr versprecht, nicht gleich wieder hoch zu fiebern.

—Ehrlich, Mami, versprochen?

—Nein, Kinder, gelogen. Und jetzt ab nach Hause, Fieber hin oder her.


Reingard Söllner hatte also zwei Kinder, Marie, 14, und Sami, 8. Außerdem hatte sie, wie gesagt, eine lindgrüne Zimmerlinde, eine Katze, die Hund hieß, 37 Kaffee- und Teetassen, denn sie sammelte Kaffee- und Teetassen, und sie hatte innere Stimmen, mindestens zwei, beide weiblich. Meistens sprachen die inneren Stimmen zu ihr, wenn sie unterwegs war, und da die Lehrerin Reingard Söllner fast ununterbrochen unterwegs war, sprachen die inneren Stimmen fast ununterbrochen zu ihr, ausgenommen in Zeiten, in denen sie entweder zu Hause vor dem Fernsehgerät lag, schlief oder tagsüber in einem denkmalgeschützten Schulhaus in einer der Klassen stand oder saß und mit frisch abgerufener Zuversicht darauf wartete, dass eines der Kinder ein Mal wirklich Interesse für das zeigte, was sie erklärte oder erzählte oder mit Kreide an die Tafel schrieb oder zeichnete oder mit einem Overheadprojektor aus der Zeit der Alten Römer an die Wand projizierte.

—Das Bild ist unscharf, Frau Lehrerin.

—Schärfer geht es nicht.

—Mein Vater sagt, in seinem Büro verwenden alle nur noch Dokumentenkameras. Niemand hat mehr einen Overheadprojektor aus der Römerzeit.

—Wie kommst du auf Römerzeit, Manuel?

—Sie sagen immer, der kommt aus der Römerzeit.

—Stimmt, metaphorisch gesprochen kommt er aus der Römerzeit.

—Was gesprochen?

—Metaphorisch. Das Wort lernt ihr nächstes Jahr in Deutsch.

—Und warum haben wir nicht eine Dokumentenkamera?

—Wahrscheinlich, weil die Alten Römer damals auch noch keine hatten.

Die inneren Stimmen hatten ziemlich oft Stress mit Reingard Söllner. Den größten Stress hatten sie im morgendlichen Fußgänger- und Öffibenutzer-Fließverkehr. Der Bezirk am südöstlichen Rand der großen Stadt war nämlich von dem Bezirk am nordwestlichen Ende der großen Stadt, wo das denkmalgeschützte Schulhaus stand, in dem sie arbeitete, manchmal in drei Stockwerken gleichzeitig, sehr weit entfernt. In Zeit ausgedrückt ungefähr so weit, wie ein Flugzeug von Berlin, Deutschland, nach Krakau, Polen, braucht. In Öffis ausgedrückt: zehn Minuten zu Fuß bis zur nächsten Haltestelle der Straßenbahnlinie 47 oder elf Minuten zu Fuß zum Bus der Linie 7A, dann im Fall Straßenbahn die U7, im Fall Bus die U8, danach in beiden Fällen eine Straßenbahn der Linien 37 oder 37B oder 37C, je nachdem, welche früher kam, und zuletzt gab es noch eine Anhöhe, Gehzeit zehn Minuten, zu bewältigen. Reingard Söllner pflegte jedes Mal, wenn sie auf schnellstem Weg zu ihrem Arbeitsplatz fuhr, 77 Minuten plus/minus 7 weitere unterwegs zu sein, bis sie, sofern über dem Bezirk nicht dichter Bodennebel lag oder sie ihre Brille vergessen hatte, die denkmalgeschützte Schule aus dem Boden auftauchen sah.

Gerade noch gut gegangen, mahnte dann oft die innere Stimme nicht ohne vorwurfsvollen Unterton, es ist fünfvordreiviertelacht, Mathe in der 2B, danach Geografie in der 4A, nein, in der 3A, dazwischen Gangaufsicht im ersten Stock, du musst alles vorher kopieren, also jetzt gleich kopieren, hoffentlich ist der Kopierer nicht kaputt, jedenfalls hast du jetzt keine Zeit für einen Kaffee, vielleicht später. Schuhe wechseln nicht vergessen. Handys einsammeln nicht vergessen. Die Fernbedienung für den Beamer nicht vergessen, den neuen Code für das Schulverwaltungsprogramm nicht vergessen. Wohin hast du den Zettel mit dem Code noch mal gegeben?, fragte die innere Stimme. – Nirgendwohin, sagte die andere innere Stimme, du hast ihn in dein Notenheft geschrieben. – Nein, du hast dir den Zettel aufgehoben, denk scharf nach! – Herrgott, du hast vergessen, Sami das Sackerl mit den Flötenheften in die Schultasche zu packen! – Hast du nicht vergessen, heute ist Dienstag, Flöte ist Mittwoch. – Hoffentlich hat Marie ihre Jause nicht wieder liegen gelassen.

—Guten Morgen, Frau Lehrerin!

—Guten Morgen, Hosna!

Guten Morgen, Jiahao!

—- - -

—Guten Morgen, Jiahao!

Kannst du nicht zurückgrüßen, wenn du gegrüßt wirst?

—Doch, selbstverständlich kann ich zurückgrüßen, wenn ich gegrüßt werde.

—Warum tust du es dann nicht?

—Ich habe Stress, Frau Lehrerin.

—Ach, und du glaubst, da bist du der Einzige, der Stress hat?

—Nein, Frau Lehrerin, das glaube ich nicht, aber Sie mussten gestern bestimmt nicht den ganzen Abend Englischvokabeln lernen statt Walking Dead zu schauen.

—Nein, Jiahao, das musste ich nicht. Ich bin auf dem Platz des Himmlischen Friedens gesessen und habe Menschen auf den verschiedensten Wegen kommen und gehen sehen und manche habe ich bedauert und manche habe ich beneidet, aber die meisten habe ich bedauert, denn während sie glaubten, gehen zu müssen, saß ich bereits.

—So hätte ich meinen Abend auch gern verbracht.

—Nein, Jiahao, du hättest ihn mit Walking Dead verbracht, das ist nicht dasselbe. Aber es ist ähnlich, das gebe ich zu.

So pflegten die Arbeitstage der Lehrerin Reingard Söllner zu beginnen, oder zumindest so ähnlich, und spätestens jetzt hörten ihre inneren Stimmen auf zu sprechen, denn die nächsten Stunden sprach Reingard Söllner selber, wenn sie nicht gerade einem ihrer Schüler zuhörte oder einer Schülerin oder wenn sie nicht gerade einen von ihnen über ihrem Kopf so lange und so heftig im Kreis schwang, bis er aufhörte zu quietschen und zu gackern und zu brüllen und zu raufen, oder eine, wenn es ein Mädchen war.

In dieser Zeit konnten sich die inneren Stimmen erholen, denn sie waren oft schon frühmorgens nicht mehr gut bei Stimme. Wie gesagt, Berlin–Krakau, nur ohne Bordservice und Flugbegleiter, dafür mit im Schnitt 37 einander im Sekundenrhythmus abwechselnden Sitz- oder Stehnachbarn, 7 Bahnsteigverwechslungen, 7 Betriebsstörungen, 7 Verspätungen und zu all dem 57 Lautsprecherdurchsagen. Die inneren Stimmen taten, was sie konnten, aber manchmal fanden sie trotz aller Mühen kein Gehör. Stimmen von oben und von unten, von links und von rechts.

—Wenn die Streifen rosa sind, dann bist du schwanger.

Das Mädchen links neben ihr mit den Stöpseln in den Ohren starrte Reingard Söllner ausdruckslos an, während sie in ihren Smarttrottel sprach.

—Wenn wir Mannsdorf schlagen, sind wir vor Neusiedl, aber Mannsdorf musst du erst einmal schlagen, die haben jetzt den Kirchmaier gekauft.

Der Mann auf dem Sitzplatz unter ihr sprach geradewegs in den Nacken seiner Vorderfrau. Auf halbem Weg dazwischen befand sich das Mikro, das kaum sichtbar an seinem Kopfhörerkabel hing. Manchmal griff die Frau, in deren Nacken er sprach, ohne sich umzudrehen mit der Hand an ihren Nacken und wischte ein paar der Worte weg, damit die anderen wieder Platz hatten.

—Natürlich ist hellrosa auch rosa.

… FÄHRT AUFGRUND EINER BETRIEBSSTÖRUNG AUSNAHMSWEISE VON BAHNSTEIG 1 AB. ACHTUNG, EINE DURCHSAGE. DER NÄCHSTE ZUG RICH…

—Der Kirchmaier war beim FC Würmla doch nur deswegen Ersatz, weil er letzte Saison gegen Reckelshausen völlig versagt hat.

Die Vorderfrau griff an ihren Nacken, putzte Kirchmaier weg, in einem Aufwischen auch Reckelshausen. Versagt durfte noch bleiben.

—Wie rosa jetzt? Rosaner als vorher oder immer noch weiß?

Das kannst du nicht sagen? Dann geh halt in die Sonne.

Ja, ans Tageslicht!

Klar jetzt sofort. Willst du warten, bis die Streifen grün werden?

… DURCHSAGE. DER NÄCHSTE ZUG RICHTUNG MARTINSPLATZ FÄHRT …

—Nein, Annsophie-Wolke, lass die Zeitung jetzt liegen, die ist bäh.

—Nein, nicht beige. Sie müssen rosa sein, mindestens mannerschnittenrosa, aber wenn es misspiggyrosa ist, ist es eindeutig. Schick mir doch einfach ein Foto!

—Annsophie-Wolke, was hat Mami gesagt, du sollst die Zeitung liegen lassen. Wir heben keine Zeitung vom Boden auf.

—Der Kirchmaier ist vor allem bei den hohen Bällen echt stark, aber gut, gegen Mannsdorf musst du den Ball sowieso niedrig halten.

—Bäh, bäh, bäh! Wer das schon aller in der Hand gehabt haben kann! Pfui!

… MARTINSPLATZ FÄHRT AUFGRUND EINER BETRIEBSSTÖRUNG VON BAHNSTEIG 1 AB. ACHT…

Das Mädchen mit dem Schwangerschaftstest auf ihrem Display hatte es plötzlich eilig auszusteigen. Reingard Söllner stand schon 7 Minuten im Zug, ohne dass er sich in Bewegung gesetzt hätte. Du wirst zu spät kommen, du musst anrufen, sagte die innere Stimme. – Nein, musst du noch nicht, die U-Bahn wird jeden Moment losfahren, sagte die andere innere Stimme. – Wenn du nicht anrufst, ist aber um acht Uhr niemand in der Klasse.

—Gut, ganz wie du willst, dann fass die Bäh-Zeitung eben an, aber wenn du später krank wirst, bist du selber schuld, von mir bekommst du kein Pflaster. Ich hab dir jetzt fünf Mal gesagt, dass du die Bäh-Zeitungen, die auf dem Boden liegen, nicht angreifen sollst.

Allmählich wurde das Gedränge unerträglich. Achte doch mal auf die Durchsage!, sagte die innere Stimme. – Was sagt ihr, innere Stimme? Ich kann euch kaum hören, dachte Reingard Söllner.

… KOMMT ES AUF DER LINIE U7 RICHTUNG HUBMANNPLATZ ZU LÄNGEREN WARTEZEITEN … ACHTUNG EINE DURCHSAGE. DER NÄCHSTE ZUG RICHTUNG MARTINSPLATZ FÄHRT AUFGRUND EINER BETRIEBSSTÖRUNG AUSNAHMSWEISE VON BAHNSTEIG 1 AB.

Bahnsteigwechsel! Ihr Zug ging vom anderen Gleis ab, sie musste sofort hinaus! Das geschah nicht zum ersten Mal, doch immer wieder wurde Reingard Söllner davon überrascht. Manchmal gab es in solchen Fällen kein Hinauskommen mehr. Dann musste sie sich ihren Weg freischießen. Gehen Sie bitte aus dem Weg oder ich schieße, sprach sie die Menschen, die ringsum, dicht an dicht, an ihren Handys nuckelten, direkt an, die Männer mit den Stöpseln in den Ohren und die Frauen mit den Stöpseln in den Ohren und den Bettler mit der Mütze in der Hand und den Radfahrer mit dem Mountainbike 26 Zoll Shark 2.0, Hillside, in Schwarz auf dem Kinderwagenplatz und sogar das Kleinkind in seinem Quinny Moodd Kleinkinderwagen mit automatischer Aufklappfunktion, Ruheposition in beide Fahrtrichtungen, modernes Design, grau, mit dem Gameboy auf den Pampers Premium Protection New Baby Windeln, Gr. 1 Newborn (2–5 kg).

Wenn alle rechtzeitig den Weg frei machten, war alles in Ordnung, aber wenn sie es nicht taten, drückte Reingard Söllner ab. Sie war im Besitz einer Pistole der Marke Glock, Kaliber 40 S&W; Mod. 35 Gen. 4, 5“ (12,7 cm) Lauflänge, 15 Schuss, sehr guter Zustand, Stahl-Polymer-Griffstück, verstellbare Visierung, Safeaction Abzugssystem, und sie trug diese Pistole in ihrer Handtasche immer bei sich. Sie hatte eigens dafür den Waffenführerschein gemacht, psychologischer Test, Schulung über den Gebrauch der Schusswaffe, Gesetzeskunde, Waffenrechtsrichtlinien, Waffenrechtsnovellen 1 bis 2431a, das ganze Programm. Ihr Lieblingsparagraf war Paragraf 25, WaffG: Im Verfahren zur Ausstellung einer waffenrechtlichen Urkunde hat sich die Behörde davon zu überzeugen, ob der Antragsteller voraussichtlich mit Schusswaffen sachgemäß umgehen wird. Wie es ausgeht, wenn man davon überzeugt ist, dass eine Sache voraussichtlich eintreten wird, zeigt die Scheidungsstatistik.

In der großen Stadt war es wie in den meisten anderen großen Städten der zivilisierten Welt den Bürgern natürlich verboten, eine geladene Waffe bei sich zu tragen, ebenso den Bürgerinnen, wenn es sich um Frauen handelte, das wusste Reingard Söllner, immerhin hatte sie die Einschulung mit „Bestanden“ bestanden, selbst am südöstlichsten Rand der großen Stadt war es verboten, eine geladene Waffe bei sich zu tragen. Reingard Söllner rechtfertigte vor sich das unbefugte Mitführen ihrer Glock jedoch damit, dass der Gesetzgeber die verschiedenen Unpässlichkeiten im morgendlichen Fußgänger- und Öffibenutzer-Fließverkehr nicht ausreichend berücksichtigt habe. Solche Unpässlichkeiten konnten aus normalen Menschen im Handumdrehen ganz unnormale Menschen machen, derer man sich mitunter nur durch Schusswaffengebrauch erwehren konnte. Manchmal türmten sich also links und rechts die Leichen, wenn Reingard Söllner einen U-Bahn-Waggon oder einen Bus oder eine Straßenbahn verließ, um umständehalber rasch auf den gegenüberliegenden Bahnsteig zu gelangen.

An jenem Morgen aber, an dem der Schüler Jiahao, 13, um 07:40 Uhr vor einem denkmalgeschützten Schultor nicht grüßte, weil er am Vorabend mit dem Lernen von Englischvokabeln Stress gehabt hatte, war es ohne Schusswaffengebrauch gegangen. Entschuldigung, dürfte ich bitte …, Verzeihung, ich müsste schnell … Und die Menschen stoben links und rechts auseinander. Nur die Mutter eines ungefähr vier Jahre alten Mädchens riskierte sowohl ihr eigenes Leben als auch das ihrer Tochter.

—So passen Sie doch auf, da sitzt ein kleines Kind auf dem Boden!

—Dann nehmen Sie den Balg eben auf.

—Haben Sie mein Kind eben Balg genannt?

—Habe ich. Und wenn Sie noch ein Wort sagen, schieße ich.

Diese Worte wurden natürlich nicht gewechselt, sie wurden nur geblickt. Aber da war Reingard Söllner schon über das rosa gekleidete Kind auf dem Boden hinweggestiegen und zur Tür hinaus. Nicht ein Schuss musste fallen.

Als sie zehn Minuten später beruhigt im fahrenden Zug saß, fiel ihr eine Formulierung ein, die sie zuvor mit angehört hatte: den Ball niedrig halten. Das erinnerte Reingard Söllner an einen Vorfall in ihrer Jugend. Da war sie bei einem Fußballspiel gewesen, da war sie noch nicht Lehrerin geworden, da wollte sie es noch nicht einmal werden, da wollte sie noch Fotomodell werden, so hatte man Supermodels damals genannt, Fotomodell, und ein DJ war noch ein Diskjockey gewesen. Sie hatte Michi zu einem Fußballspiel begleitet. Der Fußballer Lothar Ulsaß hatte sich für einen Freistoß aus zirka 30 Metern Entfernung zum Tor den Ball aufgelegt. Plötzlich brüllte das Stadion wie aus einer Kehle: Ulsaß hoch! Ulsaß hoch! „Verehren sie ihn, weil er aus Deutschland kommt?“, hatte sie Michi gefragt.

—Sie verehren ihn nicht.

—Warum schreien sie dann Ulsaß hoch?

—Sie fordern ihn auf, hoch zu schießen. Er schießt immer flach, wenn er Freistöße schießt, immer direkt in die Mauer.

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172 стр. 21 иллюстрация
ISBN:
9783710602566
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