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SONDERKOMMISSION

MORD-NETZ

Kriminalroman

von

Jennifer Wegner

© 2020 Jennifer Wegner

Erstausgabe 2020

published by epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

SOKO Hamburg

1

„Zentrale für Peter 21-2!“

„Peter 21-2 hört!“

„Zwischenfall mit Personenschaden an der Linie U4, Haltestelle HafenCity Universität“, meldete die Stimme des diensthabenden Beamten der Einsatzzentrale.

„Rot-Kreuz ist unterwegs. Ich schick euch die SpuSi und weitere Teams, um die Aussagen vor Ort aufzunehmen!“ Polizeimeister Tom Petrowski und Polizeihauptmeisterin Clara Schütt, die in rund 40 Minuten Feierabend gehabt hätten, wussten, dass das einige Überstunden für sie bedeutete. Tom brach ihre Patrouillenfahrt ab und war in knapp drei Minuten am U-Bahn-Zugang HafenCity, der erst vor knapp zwei Wochen für den täglichen Betrieb seine Tore geöffnet hatte. Der Beamte ließ das Polizeiauto mit laufendem Blaulicht auf dem breiten Bürgersteig zwischen Fahrbahn und U-Bahn-Rolltreppen stehen und spurtete in die Unterwelt der Hamburger Hochbahn.

Eine Gruppe früher U-Bahn-Benutzer stand fast am Ende von Bahnsteig 2 zusammen. Tom sah sich kurz nach seiner Kollegin oder Sanitätern um, aber offensichtlich war er der erste der alarmierten Einsatzkräfte am Unglücksort. Er trat an die Spitze der Zugmaschine, die ganz am Anfang des Bahnsteigs zum Stehen gekommen war, und warf einen Blick auf die Schienen. Im Dunkeln unter der Lok konnte er nichts liegen sehen. Details waren bei dem Licht nicht zu erkennen, worüber Tom auch nicht traurig war.

Hinter sich hörte er Clara, die die Wartenden anwies: „Bitte, bleiben Sie hier! Wir brauchen gleich noch Ihre Aussagen. Haben Sie einen Moment Geduld!“ Seine Kollegin trat zu ihm. „Wie sieht’s aus?“

„Ich glaube, da ist nichts mehr zu machen, aber ich sehe auch nichts Genaues!“

Clara, mit ihren 47 Jahren eine erfahrene Beamtin, hatte aus dem Kofferraum des Dienstwagens eine starke Taschenlampe, Leitkegel und rot-weißes Absperrband mitgebracht. Mit der Lampe leuchtete sie zwischen Bahnsteig und Lok, schwenkte den Strahl aber rasch wieder weg, als im beschienenen Bereich zerrissene Kleidung auftauchte, ein Körper war nicht zu erkennen. „Mach du rasch ein paar Aufnahmen von der Stellung der Bahn zum Bahnsteigende!“

Clara stellte eines der orange-weißen Hütchen genau neben der Zugspitze auf den Bahnsteig, legte den Anfang des Absperrbandes darunter und rollte es dann bis zum Sperrgitter am Bahnsteigbeginn rund 1,40 Meter ab. Aus einem kleinen Lederetui am Gürtel zog sie ein Taschenmesser, das sie neben zig anderen wichtigen kleinen Dingen wie Dietrich, Polizeisiegeln und Gummihandschuhen darin immer mit sich führte. Sie spannte vorsichtig das Absperrband, ohne es unter dem Markierungskegel hervorzuziehen, hielt ihr Ende des Bands an die Mauerkante des Bahnsteigendes und schnitt das Band durch.

„Clara, was treibst du da eigentlich?“, wollte Tom neugierig wissen.

„Ich messe sicherheitshalber, wo die Lok genau stand, als wir eintrafen – falls sie vor Eintreffen der Spurensicherung weggefahren werden muss.“ Sie rollte den abgetrennten Bandabschnitt um ihre Hand gewickelt auf und steckte das abgetrennte Stück gegebenenfalls als Distanznachweis in ihre Hosentasche.

„Coole Idee!“

„Danke! „Vergiss nicht, ein paar Bilder seitlich und von vorne zu machen!“

Clara drückte auf den Knopf der Tür des ersten Wagens, aber nichts geschah.

„Warum ist hier keiner von der U-Bahn?“, wandte sich Clara an ihren 26-jährigen Kollegen.

Tom zuckte mit den Schultern und machte mit seinem Handy ein paar Aufnahmen.

„Tom, sperr bitte hier ab! Vielleicht findet die Spurensicherung doch noch einen Anhalt dafür, ob es ein Unfall oder ein Tötungsdelikt war!“ Die Polizistin hielt ihm das lange restliche Absperrband hin.

Der Bahnsteig hatte sich in den wenigen Minuten erheblich mit Menschen gefüllt, die schon vor halb 6 auf dem Weg zur Arbeit waren. Clara registrierte erst jetzt, dass auch auf dem Nachbargleis keine U-Bahn verkehrte. Der Angestellte, der irgendwo in einem Raum saß und U-Bahnen und Bahnsteige überwachte, hatte wohl die Bahnen in beiden Richtungen aufgehalten. „Peter 21-2 für Zentrale! Wanki, wo bleiben die Kollegen und jemand von der Hochbahn?“, fragte sie über Funkgerät nach. Ein Wunder, dass es hier unten im Schacht funktionierte.

„Sind unterwegs, Peter 21-2, müssten jeden Augenblick bei euch sein!“, antwortete Herbert Wankmüller, der 63-jährige Beamte in der Notrufzentrale. Als Clara sich umdrehte, kamen in ihrer roten Schutzkleidung drei Männer mit Alukoffern und Rucksäcken den Bahnsteig entlanggelaufen. Die Rumstehenden machten ihnen Platz.

Clara sah nach oben und suchte nach den Überwachungskameras. Sie gestikulierte zu einer hinauf, dass jemand runterkommen solle. Sie war nicht sicher, ob es auch Mikrofone gab, aber sie verlangte: „Wir brauchen jemanden, der den Zug bedienen kann!“

Die Rettungssanitäter und ein junger Notarzt waren bei der Polizeibeamtin angekommen. „Wissen Sie schon Genaueres?“, erkundigte sich der Arzt.

„Nein! Unter der Lok liegt jemand oder etwas! Von uns war noch keiner unten!“

„Wissen Sie, ob der Strom abgeschaltet ist, sonst ist das Ganze für uns unter Umständen ein Himmelfahrtskommando?!“

„Ich habe keine Ahnung! Eigentlich sollte das zum Notfallplan der Bahn gehören!“ Der ältere der Sanitäter hatte in der Zwischenzeit versucht, etwas im Dunkeln zu erkennen, vergeblich. Als er eine kleine Stablampe seitlich aus dem Rucksack zog, begann der jüngere die vier Stufen in der Bahnsteigwand hinunter zu steigen.

„Bist du verrückt!“, schrie ihn der Kollege an. Jede Warnung vor der hohen Spannung wäre für den jungen Mann vom Bundesfreiwilligendienst zu spät gekommen, wenn der Strom in den Schienen geführt worden wäre, aber auch hier befand sich die Zuleitung des Gleichstroms mit 1200 Volt an der gegenüberliegenden Wand und wurde mit den Schleifschuhen dem Zug zur Verfügung gestellt, wodurch die Gefahr von Stromunfällen stark gemindert wurde.

„Da kann doch heutzutage nichts mehr passieren!“, behauptete der Bufdi zuversichtlich.

„Nichts da, komm hoch! Die Eigensicherung geht vor – vor allem in so einem Fall, wo wir wahrscheinlich da unten eh niemanden mehr retten können.“

Der Sani zog den schweren Rucksack ab, legte ihn auf den Bahnsteig, damit er sich danach selbst aus dem Gleisbett hochstemmen konnte. Da dieser Abschnitt erst vor kurzem eröffnet wurde, könnte es ja eventuell doch noch technische Probleme geben. Er fragte sich, wie bei den wenigen Fahrgästen zu so früher Stunde jemand vom Bahnsteig gefallen sein sollte.

„Wo ist denn der Lokführer?“, erkundigte sich der Notarzt, der sich als erster um jenen Sorgen machte.

„Vielleicht bei den anderen Leuten?“, schlug Clara vor. „Tom, du und die Kollegen, die noch kommen, ihr sucht bitte nach dem Lokführer und nehmt zügig die Personalien und Aussagen der Passagiere auf, bevor welche verschwinden, um vielleicht doch noch pünktlich zur Arbeit zu kommen. Wer zum Unfallzeitpunkt nicht hier war, soll den Bahnsteig sofort verlassen. Oben wird der Zugang gesperrt!“

Der Notarzt wies den jungen Zivi an: „Andi, bis wir sicher sind, dass der Strom abgeschaltet ist, geht keiner da runter! - Und? Hast du was gesehen?“

Clara verstand die Antwort nicht, weil sie hinter sich eine tiefe Stimme hörte: „Lassen Sie mich durch!“

Sie drehte sich um, um zu schauen, wer die Absperrung passieren wollte. Neugierig näherte sich die Polizeibeamtin einem hoch gewachsenen Mann in den Vierzigern.

„Ich bin der zuständige Fahrdienstleiter. Der Nachtdienst hat mich aus dem Bett geklingelt. Schon der dritte Suizid dieses Jahr! Wenn man sich schon umbringt, muss man dann das Leben von anderen zerstören! Was meinen Sie, wie viele Lokführer danach nie wieder fahren können!“, echauffierte sich der Bahn-Mitarbeiter.

„Guten Morgen, Polizeihauptmeisterin Clara Schütt. Und Sie sind?“

„Entschuldigung! Harald Stieg. Wissen Sie schon, wer es ist?“

„Nein, dazu müssten wir erst einmal an das Unfallopfer. Ist der Strom abgeschaltet, damit der Arzt feststellen kann, ob noch was zu machen ist?“

„Der Strom an beiden Gleisen in diesem Abschnitt wird in so einem Fall sofort abgeschaltet. Die Lampen, Rolltreppen etc. hängen natürlich nicht an dem Stromnetz für die Züge. Kann ich den Zugführer sprechen oder ist er schon in der Klinik?“

Clara schüttelte den Kopf. „Wir wissen nicht, wo der Fahrer ist. Kennen Sie ihn?“

„Ja, laut Dienstplan ist Jens Matthies auf dem Zug.“

„Wo könnte er sein? Ich wollte im Führerstand nachsehen, aber die Türen lassen sich nicht öffnen.“ Wortlos schritt Stieg zur Zugmaschine, griff irgendwo hin und öffnete dann die Tür von Hand. Als er eintreten wollte, hielt die Polizistin ihn zurück. „Lassen Sie mich zuerst rein!“ Clara verschwand in der Fahrerkabine. Auf dem Boden lag ein Mann. „Notarzt hierher!“ Clara griff ihr Handy, machte zwei Aufnahmen und trat zurück, um den jungen Mediziner vorbei zu lassen.

 

Er tastete den Carotispuls, nickte zufrieden. „Er ist bewusstlos, der Schock!“ Der ältere Rettungsassistent war mit Koffer und Rucksack auch in den Wagen gestiegen. Zusammen zogen die beiden Männer den Ohnmächtigen aus der engen Kabine durch die Tür heraus. Das Licht der Bahnsteigbeleuchtung war zu fahl für die Ersthelfer, so trugen sie den Lokführer zu dritt auf dem Bahnsteig ein Stück entfernt zu einer Neonlampe bei den Wartebänken. Vorsichtig legten sie den Lokführer auf eine ausgebreitete Bergungsdecke am Boden.

„Hallo! Können Sie mich hören?“ Wie im Fernsehen tätschelte der Arzt dabei die Wangen, während sein Helfer den rechten Ärmel des Patientenhemdes hoch rollte und die Blutdruckmanschette anlegte, die sich dann automatisch aufpumpte.

„100 zu 70, Puls 56!“, meldete der Sanitäter.

„Okay, wir legen einen Zugang. 500 Milliliter Ringer, eine Ampulle Supra.“ Der Arzt steckte den Oxymeter an den Zeigefinger der linken Hand. „Sauerstoffsättigung 98%.“ Der Bewusstlose hatte eine ausreichende Atmung, benötigte keinen Tubus oder Nasensonde.

Die weitere Versorgung des Schockpatienten verpasste Clara, weil sich das Ende des Bahnsteigs mit den Teammitgliedern der Spurensicherung füllte.

„Können wir anfangen?“, erkundigte sich der Leiter des fünfköpfigen Teams.

„Nein, der Arzt muss noch den Tod feststellen oder habt ihr schon einen Gerichtsmediziner dabei?“

„Ja, Frau Doktor Jansen, dort drüben.“ Er wies auf eine schlanke Frau mit kurzen schwarzen Haaren, die sich wie die drei anderen gerade in einen weißen Schutzanzug zwängte.

Der Fahrdienstleiter begrüßte den Teamleiter. „Stieg, ich bin hier der zuständige Schichtleiter. Schienen und Zug sind vom Strom genommen. Wenn Sie was brauchen, wenden Sie sich an mich!“

Clara warf einen Blick auf die Kolleginnen und Kollegen, die mit Notizbüchern oder elektronischen Geräten - je nach Gusto - die Aussagen der verbliebenen U-Bahn-Passagiere aufnahmen. Die Kriminaltechniker nahmen die Arbeit auf. Ein Techniker stellte starke Strahler auf, andere machten Video- und Kameraaufnahmen, zwei maßen Distanzen. Die Rechtsmedizinerin stieg auf das Gleis vor der U-Bahn, gefolgt von zwei Assistenten, die mit hellen Taschenlampen auf den Schotter, dann gebückt unter die Bahn leuchteten.

Carla zückte ihr Funkgerät: „Peter 21-2 für Zentrale!“

„Peter 21 hört!“

„Hallo Piet, ist Wanki schon weg? Die SpuSi fängt gerade an. Die Sanis kümmern sich um den Lokführer, lag bewusstlos in der Führerkabine. Die Kollegen notieren Aussagen. Ich meld mich, wenn ich mehr weiß!“

„Gibt es schon Hinweise auf die Identität?“

„Negativ, aber ich frag mal bei den Kollegen nach, ob jemand was beobachtet hat. Peter 21-2 Ende!“ Carla überlegte, an wen sie sich zuerst wenden sollte: Sanitäter mit dem Lokführer, Spurensicherungsteam mit dem unbekannten Opfer oder Polizisten mit den nur noch wenigen Zeugen? Entschlossen schritt sie zur Absperrung und wandte sich zuerst an Tom: „Habt ihr was Brauchbares?“

„Bei mir nicht. Die meisten waren mit Handy oder Lesen von Zeitung oder Buch beschäftigt und wurden durch die Vollbremsung der Bahn überrascht, wussten keinen Grund. Zwei Zeugen meinen, die Person müsse schon vorher auf den Schienen gelegen haben, weil niemand nahe am Anfang des Bahnsteigs wartete. Es war ja noch nicht viel los und alle warteten in der Nähe der Rolltreppe am Bahnsteig, keiner stand weiter rechts. Nichts Auffälliges! Auch nicht nach dem abrupten Halt. Niemand hat jemanden weglaufen sehen. Drei Passagiere gaben an, die 110 gewählt zu haben. Bis wir nach circa fünf Minuten eintrafen, standen wohl alle nur rum. Wisst ihr inzwischen, wer da liegt?“

„Nein! Wenn du fertig bist, kannst du bitte die Zeugenaussagen von den Kollegen sammeln? Und die Bilder der Überwachungskameras sicherstellen? Die anderen Kollegen außer oben an der Absperrung brauchen wir hier nicht mehr, die können Feierabend machen.“

Clara sah Stieg in der Nähe des Rettungsteams stehen und steuerte ihn an. „Ist das Herr Matthies?“

„Ja!“

„Hat er Familie? Haben Sie Adresse und Telefonnummer?“

„Eine Frau und drei kleine Kinder. Wegen der Daten muss ich nachfragen. Geben Sie der Ehefrau Bescheid oder sollen wir das machen?“

„Kennen Sie Frau Matthies persönlich?“

„Nein!“

„Dann übernehmen wir das, aber nicht telefo…!“

Clara wurde unterbrochen durch die Stimme des Leiters der Spurensicherung: „Wir kommen nicht an das Opfer ran. Auch wenn uns das den Einsatzort verändert, muss der Zug circa eine Wagenlänge zurücksetzen!“

Der Fahrdienstleiter zog ein kleines Funkgerät: „Siggi, schick uns einen Lokführer runter! Sobald ich das OK gebe, schaltest du den Strom für die Unfallbahn ein, aber erst müssen alle vom Gleis! Verstanden?“

„Lokführer schicken, Warten auf Signal, dass Strom ankann. Roger!“

Stieg näherte sich der Spitze des Zuges. „Ist es sicher, dass es eine Person ist? Wir hatten es mehrmals, dass aus Versehen oder durch irgendwelche makabren Witzbolde Kleiderbündel im Gleisbett lagen und zu Fehlalarmen führten.“

Die Pathologin erklomm den Bahnsteig und griff nach ihrem Koffer, den einer der weiß gekleideten Spurensicherer ihr von unten anreichte. „Das Luminol weist eindeutig an verschiedensten Stellen vorne unter der Lok zahlreiche Blutspritzer auf. Mittig unter ihr scheint ein Teil des Torsos zu liegen. Wenn es gefaked ist, dann mit viel Aufwand wie einem in Lumpen gewickelten Stück frischen Fleisches oder eines Beutels mit Blut!“ Clara fand den Spruch nicht sehr feinfühlig, aber Rechtsmediziner waren ja berüchtigt für ihren bizarren Humor.

Das Rot-Kreuz-Team hatte den Zugführer auf eine Trage gelegt. Der Bufdi packte ihre Sachen ein. Clara eilte zum Notarzt. „Kann ich mit ihm sprechen?“

„Nein! Als er zu sich kam, wurde er so unruhig, dass wir ihn für den Transport sedieren mussten. Er muss in der Klinik durchgecheckt werden. Er kann sich bei dem Nothalt verletzt oder den Kopf beim Sturz angeschlagen haben.“

„Hat er was gesagt?“, drängte Clara.

„Nein, nichts. Er fing nur an, die Infusionsnadel und die EKG-Kabel zu ziehen, reagierte gar nicht auf unsere Erklärungen, da habe ich ihn ruhiggestellt. In einer halben Stunde müsste er wieder wach sein!“ Damit entfernte sich der Notarzt Richtung Aufzug, während die beiden Rettungssanitäter die Trage anhoben.

„Wohin bringt ihr ihn? Unikliniken Eppendorf, Bundeswehrkrankenhaus, Asklepios …?“ „Asklepios Altona reicht wohl völlig aus! Wir sind dann mal weg! Sagt ihr der Frau Bescheid?“

„Ich fahre mit Tom gleich bei ihr vorbei! Tschau!“

Während das Rettungsteam im Lift verschwand, kam Tom mit einem Paar die Rolltreppe runter. „Die Kollegen von der Kripo!“ Tom grinste seine Kollegin Schulter zuckend an. „Dann können wir ja Feierabend machen.“

Clara schüttelte den Kopf: „Wir fahren jetzt zu Frau Matthies.“

Tom schlurfte hinter ihr her zum Aufgang. „Das können doch auch die Kollegen vom Tagdienst übernehmen“, maulte er lustlos. Clara hatte dem Fahrdienstleiter und dem Notarzt versprochen, die Frau des Zugführers zu informieren, darum wollte sie das auch selbst erledigen. Tom gab die Adresse von einem Zettel, den Stieg Clara überreicht hatte, in das Navi im Dienstwagen ein. „32 Minuten Fahrtzeit. Muss das sein?“, fragte er erneut nach. Clara nickte energisch und beendete ihren kurzen Bericht an die Zentrale.

2

Inzwischen hatten alle Ermittler das Gleis verlassen und formatierten sich entlang der Bahnsteigkante. Einige sahen dem Mann entgegen, der sich ihnen flotten Schrittes näherte. Stieg kommentierte: „Zugführer Janosch Strojny!“

„Moin, moin! Wie weit soll ich den Zug zurücksetzen?“

Stieg sah den Leiter der Kriminaltechnik fragend an, der erläuterte: „Bitte, setzen Sie den Zug um zwei Waggonlängen zurück, aber langsam, um möglichst wenig zu verfälschen!“

Stieg nahm sein Funkgerät hoch: „Siggi?“

„Ich höre.“

„Keine Personen mehr auf dem Gleis. Strom Marsch! Janosch fährt rund 50 Meter rückwärts, danach Strom wieder aus. Gib mir dann Bescheid!“ Als die Maschinen ansprangen, traten die Beamten etwas von der Kante zurück. Im Schritttempo glitt der Zug von seinem Platz. Drei Techniker richteten die Strahler neu auf das freiwerdende Gleisbett aus.

Kriminaloberkommissarin Petra Kühn und Kriminalhauptkommissar Jürgen Schult traten jetzt auch an Bahnsteig 2 und begrüßten die Gerichtsmedizinerin. „Hallo Helga! Was haben wir?“

„Hallo ihr beiden! Ich weiß noch nichts, könnte alles sein!“

Die Spitze der U-Bahn stand nun circa zehn Meter vor dem Beginn des Bahnsteigs entfernt. Das Dröhnen der Kompressoren erlosch. Der Führer kam kurz darauf aus der Tür des Waggons, drückte sich zwischen Bahn und Wand vorbei und erklomm den Bahnsteig. Sofort kam die Meldung, dass der Strom wieder abgeschaltet sei über die Lautsprecher über dem Bahnsteig. Die herumstehenden Mitglieder des Tatort-Teams verfielen in geschäftiges Treiben, sicherten die Eindrücke mit Video- und Digitalkameras. Einige kletterten hinab zu den Schienen. Schon wurden die berühmten Nummern für die Beweisdokumentation an verschiedensten Punkten des Unfallorts aufgestellt. Vom Bahnsteig aus bot sich ein erschreckendes Bild von über circa 30 Meter verteilten zerstückelten Körperteilen und Kleidungsstücken. Bei genauerem Hinsehen konnte man auch Blutspuren und kleine Flecken von geronnenen Blutlachen entdecken. Auf den ersten Blick konnte man nicht sagen, ob es sich um einen toten Mann oder eine Frau handelte. Es vergingen einige Minuten, bis die erste Spurenfeststellung abgeschlossen war und eine weiße Gestalt der Medizinerin zuwinkte. Frau Doktor Jansen griff ihren Alukoffer und suchte die nächstgelegene Steintreppe, die sie hinunterstieg. Wie alle bemühte sie sich, zwischen den Blut- und Gewebeteilen mit ihren Füßen Halt auf dem Schotter zu finden. Von hier unten war der Schaden, den die schwere Bahn an einem Menschen angerichtet hatte, noch viel grausiger anzusehen. Nichts für zarte Gemüter! Nach wenigen Metern stieß die Rechtsmedizinerin auf einen Klumpen aus Textil und Gewebe, aber sie suchte erst mal weiter, entdeckte einen im unteren Drittel abgerissenen Unterarm, bei dem sie niederkniete. Die Hand, es war die linke, war komplett intakt, aber blutverschmiert. Vom Aspekt handelte es sich um die Haut eines älteren Menschen. Selbst eine erfahrene Gerichtsmedizinerin wie Doktor Jansen war erleichtert, dass es kein jugendlicher Selbstmörder, zum Beispiel wegen des ersten großen Liebeskummers, war.

„Habt ihr den Kopf?“, fragte sie.

Verneinende Kopfbewegungen rund herum. Vorsichtig bewegten sich alle mit ihren jeweiligen Aufgaben beschäftigt im Bereich des langgestreckten Unfallortes. Helga Jansen strich etwas verkrustetes Blut in ein Röhrchen mit Flüssigkeit. „Das sagt uns schneller, ob es sich hier um einen Mann oder eine Frau handelt, als die wahrscheinlich vergebliche Suche nach eindeutigen Körpermerkmalen!“ Sie schloss ihr Köfferchen wieder, reichte es der Kriminalbeamtin auf dem Bahnsteig und erklomm die Plattform. „Ich fahre ins Institut. Sobald ich mehr weiß, ruf ich euch an!“ Jansen drehte sich um zum Team der Spurensicherung: „Ihr sammelt alles ein und bringt es dann vorbei, aber bitte auch mit Bildern von der jeweiligen Lage!“ Sie verschwand in Richtung Lift.

Wenig später beschlossen auch die beiden Kriminalbeamten, dass sie hier nichts Sinnvolles tun konnten und machten sich auf den Weg zum Krankenhaus, um die Aussage des Unglücksfahrers aufzunehmen, während die anderen noch stundenlang mit der Sicherung der vielen Spuren und der Bergung der Leichenteile beschäftigt waren.

3

PHM Clara Schütt und PM Tom Petrowski klingelten um 20 nach 7 in Bahrenfeld am Wohnblock, in dem Familie Matthies wohnte.

„Ja?“, erklang eine weibliche Stimme über die Gegensprechanlage.

„Polizei, können wir Sie bitte sprechen!“ Statt einer Antwort ertönte der Summer. Tom drückte die Tür auf und stieg drei Etagen die Stufen der Treppen vor seiner Kollegin zügig hinauf. Er wollte nur möglichst schnell hier fertig sein und in sein Bett.

Frau Matthies, ein Baby im Arm, erwartete sie noch im Morgenmantel an der Wohnungstür. „Hatte mein Mann einen Unfall?“, fragte sie ängstlich.

„Lassen Sie uns reingehen!“, übernahm Clara die Gesprächsleitung. Im Flur trafen sie noch im Pyjama zwei Kinder von ungefähr drei und fünf Jahren.

 

„Geht in euer Zimmer und zieht euch an!“, scheuchte die Mutter die beiden ins Kinderzimmer und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Clara setzte sich zu der Frau auf das Sofa, Tom schloss die Wohnzimmertür und blieb dort stehen.

„Ist er tot?“, kam leise die bange Frage von Frau Matthies.

Clara schüttelte beruhigend den Kopf. „Nein! Er ist zwar im Krankenhaus, aber nur zur Untersuchung. Es gab einen Zwischenfall mit Personenschaden. Ihr Mann steht wohl unter Schock, aber der Notarzt vor Ort konnte keine Verletzung feststellen, trotzdem wird das weiter abgeklärt. Sollen wir Sie hinbringen?“

„Was mach ich mit den Kindern?“

„Kann eine Nachbarin sich um die drei kümmern?“ Clara sah, dass Frau Matthies mit ihren Gedanken ganz woanders war, also hakte sie nach: „Welche Nachbarin würde Ihre Kinder denn für zwei, drei Stunden nehmen?“

Bevor sie eine Antwort erhielt, stürmte der größere der beiden Jungen ins Wohnzimmer. „Mama, warum ist die Polizei da?“

Clara zog den Jungen zu sich. „Hör mal, dein Papa ist im Zug ohnmächtig geworden, deswegen wird er in der Klinik untersucht. Wir bringen deine Mama zu ihm. Könnt ihr zu einer Nachbarin oder der Oma?“

Der jüngere Sohn war dazu gestoßen und hatte nur den letzten Satz gehört. „Au ja!“

Clara sah die Mutter fragend an, doch jene war so geistesabwesend, dass die Polizistin fragte:

„Wo seid ihr denn sonst, wenn eure Mutter euch nicht mitnehmen kann?“

Der Ältere antwortete jetzt: „Bei Sabine.“

„Und wo wohnt Sabine?“

„Drüb’n.“

Die Polizistin wandte sich Frau Matthies zu: „Ist es in Ordnung, wenn diese Sabine die Kinder nimmt?“

Die Jungen liefen zur Couch und schmiegten sich jeder von einer Seite an die Mutter. „Wie heißt Sabine denn mit Nachnamen? Während Sie sich umziehen, kann ich zu ihr gehen und fragen, ob sie herkommen kann.“

Clara wartete kurz, aber es kam keine Reaktion. „Tom, lass dir von dem jungen Mann mal zeigen, wo die Sabine wohnt und bring sie, wenn möglich, her!“ Clara nahm der Frau des Zugführers vorsichtig das schlafende Baby aus den Armen und bewegte sich auf die Wohnzimmertür zu.

Frau Matthies erwachte aus ihrer Schockstarre und erhob sich. „Was braucht Jens denn?“

„Vielleicht behalten sie ihn 1-2 Nächte zur Überwachung in der Klinik, also Pyjama, bequeme Kleidung und Kulturbeutel“, schlug Clara vor und reichte den Säugling der Mutter zurück, die ihn sanft ins Bettchen im Elternschlafzimmer legte. Clara sah sich während der Wartezeit um. Ein Mischmasch aus Möbelstilen, wahrscheinlich von verschiedenen Verwandten oder Freunden geerbt oder Second-Hand gekauft, aber praktisch eingerichtet und trotz dreier kleiner Kinder sehr ordentlich. Sie nutzte die Ruhe, um der Zentrale zu melden, dass sie Frau Matthies ins Krankenhaus fahren würden.

„Verstanden, aber dann macht Schluss. Johann und Michaela übernehmen den Lokführer!“

„Ja, ist ja gut! Peter 21-2, Ende!“ Clara ärgerte sich. Mal etwas Ungewöhnliches statt der üblichen Alltagseinsätze und dann sollte sie heimgehen!

Die Jungen kamen in die Wohnung gelaufen. „Sabine kommt gleich!“, berichtete der Größere. „Können wir Papa auch besuchen?“

„Natürlich, aber erst später. Er muss jetzt schlafen, damit er schnell wieder gesund wird“, behauptete die Polizeibeamtin.

„Habt ihr denn schon was gefrühstückt?“, fragte eine fröhliche Stimme, die zu einer molligen Blondine in den Zwanzigern gehörte, die vom Flur ins Zimmer trat. „Tschuldigung. Sabine Bosch, ich wohne im Nachbarblock.“

„Guten Morgen, Frau Bosch! Nett, dass Sie bei den Kindern bleiben. Müssen Sie nachher zur Arbeit oder haben Sie irgendwelche Termine?“

„Nö, kein Problem! Ich warte einfach hier oder hinten auf dem Spielplatz, bis Kirsten zurück ist. Was ist denn passiert?“

„Wir haben Herrn Matthies ohnmächtig aus dem Zug geholt. Er wird noch untersucht.“ Clara warf ihrem jungen Kollegen einen lobenden Blick zu, dass er ausnahmsweise nicht so offenherzig über die Umstände gequatscht hatte. Vielleicht trugen ihre Vorwürfe ja doch Früchte!

Als Kirsten Matthies mit einer kleinen Reisetasche erschien, begann der Dreijährige unvermittelt zu weinen, aber er ließ sich widerstandslos von Sabine Bosch hochnehmen und in die Küche tragen. Rasch verließen die drei anderen Erwachsenen die Wohnung und stiegen die Treppen runter. Das Polizeiauto vor dem Mietblock hatte Neugierige an die Fenster und vor das Haus gelockt. Carla wollte üblen Gerüchten vorbeugen und bot Frau Matthies den Platz vorne an, setzte sich selbst hinter Tom auf die Rückbank. Tom, der sonst immer sehr gesprächig war und Carla oft sogar nervte mit seinen ständigen flotten Sprüchen, war heute Morgen fast stumm. Fast 50 Minuten hatten sie hier verbracht, jetzt noch ins Krankenhaus – Tom wollte endlich nach Hause und warf Carla einen vorwurfsvollen Blick im Rückspiegel zu, bevor er den Wagen startete.

4

An der Asklepios Klinik Altona angelangt, geleiteten sie Frau Matthies zur Notaufnahme, wo Tom die Ehefrau des Lokführers der Oberschwester Thea vorstellte.

Die Polizistin klopfte inzwischen am Arztzimmer. „Hey, Susanne, wie geht es Herrn Matthies. Kann ich ihn kurz sprechen?“

„Er ist wieder ansprechbar. Im Röntgenbild vom Schädel sah man nichts, auch sonst scheint er keine Verletzungen zu haben, vielleicht eine Commotio. Wir behalten ihn 24 Stunden hier.“

„Kann er sich an den Zusammenstoß erinnern?“

„Das frag ihn besser selbst. Ich habe nur überprüft, dass er zu Person, Raum und Zeit orientiert ist, dann hatte ich einen anderen Notfall.“

„Danke, Suse! Wo liegt er?“

„In der 3!“

Als Clara die Tür zum Untersuchungsraum 3 öffnete, fand sie die Notfallliege leer vor. War er geflüchtet? „Wo ist Herr Matthies?“, erkundigte sie sich bei einer Ambulanzschwester.

„Auf Station 2.“

Im Gang stieß sie auf Tom, der sie ungeduldig fragte: „Können wir endlich? Du kannst ja von mir aus bis zu unserer Nachtschicht durchmachen, ich brauche meinen Schönheitsschlaf!“

„Ist ja gut! - Wo ist Frau Matthies?“

„Bei ihrem Mann!“

„Ich wollte ihn ja nur fragen, ob er was gesehen hat.“

„Er kann sich eh an nichts erinnern. Völliger Blackout vom Verlassen des Depots bis er hier wieder aufwachte.“

Überrascht sah Clara ihren Partner an. „Das hat er dir erzählt?“

„Nee, aber Thea! Du weißt doch: Thea sieht alles, hört alles, weiß alles!“

Clara knuffte Tom freundlich. „Nur kein Neid!“

10 vor 9 stellte Tom den blau-weißen VW-Kombi vor dem Polizeikommissariat ab und griff nach den leeren Kaffeebechern, um sich erneuten Ärger mit der Tagschicht wegen seines laxen Umgangs mit Müll zu ersparen. Er übergab den Wagenschlüssel seiner Partnerin und verschwand direkt in den Umkleideraum, während Clara sich am Pult des Einsatzleiters zurückmeldete.

„Was Neues aus der Klinik?“, fragte der Beamte.

„Der Lokführer scheint unverletzt, eventuell eine Gehirnerschütterung. Er hat laut Tom nichts gesehen, aber hakt da nochmals nach!“

„Schönen Feierabend! Schlaf schneller!“, verabschiedete der Einsatzleiter Clara grinsend.

Während Tom schon fesch angezogen zum Ausgang ging und ihr kurz zuwinkte, trat Clara zu Johann und Michaela. „Habt ihr schon was über das U-Bahn-Opfer?“

„Frau Doktor Jansen meldet sich, wenn sie mehr weiß. Die gesammelten Zeugenaussagen und Aufzeichnungen der Überwachungskameras hat die Kripo. Wir sind da eigentlich raus!“

„Ruhigen Dienst!“, verabschiedete sich Clara enttäuscht.

5

Die beiden Kriminalbeamten, Kriminaloberkommissarin Petra Kühn und Kriminalhauptkommissar Jürgen Schult, die morgens vor Ort gewesen waren, lasen die Protokolle, aber niemand schien eine Person an der Bahnsteigkante oder gar auf den Gleisen bemerkt zu haben. Auch auf den verschiedenen Kameras entdeckten sie keinen Menschen, der sich in den circa 10 Minuten vor dem Not-Stopp dem Unglücksort genähert hatte.

Die erste Information kam telefonisch aus dem Labor der Pathologie: „XY! Es handelt sich bei eurem Bahn-Opfer um einen Mann, der zum Unfallzeitpunkt noch gelebt hat. Die weitere chemische Analyse dauert noch. Wir geben Bescheid!“

Wie oder wo war der Mann auf die Gleise gelangt?

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