SOKO Mord-Netz

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Wanki grinste verschmitzt: „Nö, aber jetzt hab ich noch ‘ne Stunde, bis er wieder nachfragt. Bis dahin bin ich vielleicht durch, wenn ich nicht dauernd gestört werde.“

Clara wandte sich an Tom: „Komm, wir fahren Streife!“

Freddy stichelte: „Nicht zufällig rund um die HafenCity?“

„Was schadet’s? Ihr könntet auf euren Runden auch mal bei den Nichtsesshaften nachfragen, ob sie jemanden vermissen. Das sind wir ihnen schuldig, dass man einen von ihnen nicht einfach so verschwinden lässt und keinen kümmert’s!“

„Wo sie recht hat, hat sie recht!“, stimmte Wankmüller zu.

Freddy drehte sich zu Bernd: „Warum willst du nicht für uns schießen? Dann müssten wir nur noch dich überreden, Michaela, und hätten ein Spitzen-Team!“

„Meld dich doch selbst! Übst jetzt noch drei Wochen, dann profitiere ich auch davon!“, konterte Bernd.

„Hä?“

„Eine Partnerin, auf deren Treffsicherheit ich mich im Notfall verlassen kann! Das sollte eigentlich der Zweck dieser Wettkämpfe sein, den Ehrgeiz etwas zu wecken und euch Jungspunde mehr zum Training zu bringen!“

„Ja, Papa!“ Freddy zog einen Schmollmund.

Michaela mischte sich ein: „Wie wär’s, wenn wir eine Damenmannschaft melden: Clara, Frederike, Silvia und ich?“

Wanki, der über dem Dienstplan brütete, kommentierte: „Dann seid ihr außer Konkurrenz und bekommt automatisch einen ersten Platz, geniale Idee!“

„Und wir heben den Ruf des PK 21“, ergänzte Michaela, „mit vier starken Frauen!“

Freddy bremste: „Ich habe noch nicht zugesagt!“

„Ach komm, Freddy! Ich trainiere euch!“, bot Bernd an.

„Ich überleg’s mir! – Aber nur wegen der Freistellungen!“, schob Frederike nach.

Wenn sie gerade keinen Einsatz fuhr, sah Clara Schütt bis zwei Wochen zurück in die Meldungen der Vermisstenstelle, aber von den vielen Abgängigen in Hamburg kam keiner in Frage, von Heesen Senior zu doubeln, der ein langer, dürrer Hanseat war nach dem Foto, das die Polizistin beim Suchaufruf gesehen hatte. Natürlich konnte die Person in der Residenz auch von überall sein, vielleicht sogar nach dem Aufenthalt wieder in sein Leben zurückgekehrt sein. Vielleicht hatten das Verschwinden des alten Herrn und der Tote in der U-Bahn auch gar nichts miteinander zu tun und eine andere Person, vielleicht ein Illegaler, fand den Tod auf den U-Bahn-Gleisen.

13

Nach der Mittagspause fanden die Kommissare einen Ausdruck vom Labor in ihrer Ablage, der bestätigte, dass es sich bei dem U-Bahn-Toten um einen Verwandten ersten Grades zur Speichelprobe von Gunther von Heesen handelte. Der Vermisstenfall von Heesen war damit jetzt endgültig ihr Kriminalfall, um zu klären, ob es Fremdverschulden war.

Am späten Nachmittag überbrachten die beiden Kriminalbeamten die traurige Nachricht dem Ehepaar von Heesen. Mirja von Heesen sank in sich zusammen: „Das kann doch nicht sein!“ Sie zog ein Papiertaschentuch aus der Packung vor sich auf dem Couchtisch und wischte sich immer wieder über die Augen. Die Ermittler beobachteten beide von Heesens, aber entdeckten keine ungewöhnlichen Reaktionen. Gunther von Heesen war stehen geblieben, aber er sah so geschockt und hilflos aus, dass er ein wirklich guter Schauspieler sein müsste, um diese Mischung so perfekt vorzuspielen.

Es herrschte kurzes Schweigen, dann hörten die Beamten wie im Selbstgespräch halblaut: „Wie ist Vater denn dort hingekommen? Wer war der Mann, der ihn aus der Residenz abgeholt hat? Warum?“

Das waren genau die Fragen, die die Kriminalpolizei klären wollte.

14

Clara und Tom fuhren zum St. Anna-Stift. Die Polizeibeamtin ließ sich nicht leicht von ihren Vorhaben abbringen. Zuerst näherten sich die beiden Beamten der korpulenten älteren Dame am Empfang und wiesen sich aus.

Gleich anschließend stellte Clara ihre Fragen wie ein Maschinengewehr: „Waren Sie auch hier, als Herr von Heesen gebracht wurde? Können Sie sich erinnern, wer ihn begleitete? Mann oder Frau? Welchen Eindruck machte der Senior? Haben Sie ihn während seines Aufenthalts hier mal vorbeikommen sehen oder gesprochen? Hatten Sie auch Dienst, als …?“

Die Angesprochene unterbrach resolut: „Nu mal langsam! Es geht um den, der hier abgeholt wurde und verschwunden sein soll?“

„Ja, Ludowig von Heesen!“

„Ich kenne ihn nicht. Was meinen Sie, wie viele ältere Menschen allein oder in Begleitung hier ein und aus gehen! Man muss sich ja nicht bei mir anmelden. Ich sitze hier eher pro forma oder um Fragen von Bewohnern oder Besuchern zu beantworten. Woher soll ich wissen, wer der verschwundene Gast war?“

„Sie wissen also nicht, wer hier rein und raus geht?“, wunderte sich die Polizistin. „Wenn nun verwirrte Bewohner die Residenz verlassen wollen, dann spazieren die einfach so raus?“

„Nein! Auf den Stationen sind Türen mit besonderen Griffen und die Schiebetür dort hinten öffnet sich von innen nur, wenn man den täglich neu dort ausgehängten vierstelligen Code eingibt, das überfordert die meisten Dementen, wohingegen die Besucher in der Regel in der Lage sind, damit die Schiebetür zu öffnen.“ Die Dame lächelte und ergänzte: „Ausnahmen bestätigen die Regel!“

„OK. Wenn wir Ihnen ein Bild zeigten, könnten Sie sich dann vielleicht erinnern?“, schaltete sich Tom zum ersten Mal ein.

„Schon möglich.“

„Wäre es Ihnen aufgefallen, wenn Herr von Heesen nicht freiwillig mitgegangen wäre?“, übernahm Clara wieder.

„Nicht unbedingt. Manche von den Demenz- oder Alzheimer-Patienten erkennen ihre Angehörigen nicht wieder und machen Szenen, wenn diese mit ihnen zum Arzt wollen oder sie zu einem Spaziergang abholen.“

Tom meinte genervt: „Aber der alte Mann ist doch erst vor sieben Tagen verschwunden! Fällt Ihnen denn nichts ein?“

„Nein, es gab nichts Auffälliges, das habe ich den anderen Beamten auch schon gesagt. Wir sind doch keine Anstalt, wo Ein- und Ausgänge überwacht werden!“

„Zeichnet die Überwachungskamera Tag und Nacht auf?“, forschte Clara.

„Ja, aber die Daten wurden von der Kriminalpolizei konfisziert.“

„Danke, für Ihre freundlichen Auskünfte“, schloss Clara das Gespräch und verließ die Residenz.

Widerwillig trottete Tom hinter ihr her: „Hey, warum gehst du? Wir müssen das Personal befragen!“

„Tom, wir dürfen da nicht ermitteln. Das ist Sache der Kriminalpolizei, sonst handeln wir uns ‘ne Menge Ärger ein!“

„Und jetzt? Das war’s?“, maulte der Jüngere.

Clara schritt den Bürgersteig entlang, erst nach rechts bis über zwei Querstraßen hinaus, dann zurück und circa 200 Meter nach links. Die Seniorenresidenz befand sich in einem vornehmen Villenviertel, hier waren wenige Leute auf dem Bürgersteig unterwegs. Einmal sprachen sie eine ältere Dame an, die einen Malteser spazieren führte, ob sie vor ungefähr sieben Tagen etwas Ungewöhnliches bemerkt habe, aber die Dame verneinte höflich.

Das ganze Gebiet war eine 30er-Zone. Am Straßenrand parkten nur vereinzelt Autos, da die meisten Grundstücke über eigene Garagen verfügten oder zumindest Stellplätze am Ende der meist mit Gittertoren verschlossenen Zufahrten aufwiesen. Fremde Autos würden hier eigentlich auffallen, aber Clara hatte keine großen Hoffnungen, dass ein Anwohner etwas bemerkt hatte, da die Villen ausnahmslos weit zurückgesetzt von der Straße, oft teilweise durch Hecken oder Bäume verdeckt, in den parkähnlichen Anlagen platziert waren.

Tom stoppte: „Schau mal!“ Clara sah ihn fragend an, folgte dann seinem Blick. Halb verdeckt durch die ausladenden Äste einer Araukarie entdeckte sie eine schwenkbare Überwachungskamera an einem Stützpfosten, der einem der gigantischen Baumarme Halt lieferte.

Clara nickte Tom anerkennend zu: „Gut gemacht! Während ich hier frage, ob wir die Aufzeichnungen bekommen, könntest du bei den um die Residenz gelegenen Grundstücken noch mal nach weiteren Kameras Ausschau halten!“

„Aye, aye, Chefin!“

„Dösbaddel!“, konterte Clara, bevor sie an dem Mäuerchen an der Zufahrt auf den Klingelknopf drückte.

Nach kurzer Zeit ertönte eine weibliche, stark näselnde Stimme: „Sie wünschen, bitte?“

„Polizei! Frau Stelling, kann ich Sie kurz sprechen, bitte?“

„Können Sie sich ausweisen?“

Die Polizistin hielt ihren Dienstausweis vor die kleine Kamera oberhalb der Klingel. Das Torschloss surrte und gab Claras Druck nach. Sie schritt die halbmondförmige Auffahrt zu einer strahlend weiß gestrichenen Villa hinauf, vorbei an diversen Gartenstatuen, kleinen Springbrunnen und in Kugelform geschnittenen Büschen.

„Das ist ein Leben!“, dachte die Polizeibeamtin, die für einen Hungerlohn immer wieder ihr Leben riskierte und sich die Gesundheit mit den vielen Nachtdiensten und Wechselschichten ruinierte.

Als sie gerade die fünf Stufen zur Haustür hinter sich hatte und nach einem Türklopfer oder Klingelknopf suchte, öffnete eine kleine Frau, weit in den Siebzigern, selbst die Tür. „Kommen Sie, Frau …?“

„Polizeihauptmeisterin Schütt!“ Clara folgte der Seniorin in ein rundes Foyer mit einem hübschen Bodenmosaik aus Marmor.

Die alte Dame hielt an. „Wie kann ich Ihnen helfen, Frau Polizeihauptmeisterin Schütt?“

Das vornehme Näseln der alteingesessenen Hanseaten regte die Beamtin aus dem Ruhrpott jedes Mal auf, so fiel ihre Bitte etwas schroffer aus als beabsichtigt: „Wir benötigen Ihre Überwachungsdaten von der Kamera, die unzulässigerweise nicht nur Ihr Grundstück sondern auch den öffentlichen Bereich davor erfasst!“

„Aber warum denn?“

„Wir sind auf der Suche nach einem Wagen, der vor rund einer Woche in der Nähe geparkt gewesen sein könnte, um den Fahrer als Zeugen zu befragen.“

 

„Ist irgendwo eingebrochen worden?

„Nein, seien Sie unbesorgt, nichts ist passiert. Können Sie mir die Aufzeichnungen überlassen? Wie lange werden die denn gespeichert?“

„Da fragen Sie mich was! Dafür ist mein Sohn zuständig. Ich bin Witwe, seither wohnt Jochen wieder hier, aber er ist bei der Arbeit. Ich kenne mich damit überhaupt nicht aus. Da müssen Sie wohl nochmals wiederkommen.“

„Wann kommt Ihr Sohn denn heim?“

„Das ist unterschiedlich. Heute ist Dienstag, da kommt er oft so auf die Sieben.“

„Danke sehr, Frau Stelling! Wir melden uns.“ Vorne an der Haustüre verabschiedeten sich die beiden Frauen höflich voneinander. Die Besitzerin blieb vor der Tür stehen, bis das Gitter zur Einfahrt hinter der Besucherin zugefallen war.

Clara winkte ihr kurz zu und dachte: „Wenn man reich ist, lebt man selbst hinter Gittern und Mauern und muss dauernd um Gut und Leben bangen.“

Tom kam auf seine Kollegin zu: „Warst du Kaffeepause machen? Ich warte und warte hier.“

„Und, gibt es noch mehr auf Straße oder Bürgersteig ausgerichtete Spione?“

„Klaro! Wenn man genauer sucht, ist hier alles verwanzt.“

„Dann haben wir ein Problem. Wir können nicht bei allen Anliegern unauffällig die Aufzeichnungen von einem so lange zurückliegenden Zeitraum sichten wollen, das schlägt Wellen bis zum Chef. Wo hättest du deinen Wagen abgestellt, wenn du jemanden entführen willst?“

„Nicht hier, viel zu auffällig! Vielleicht in einer der Querstraßen! Oder ein Komplize wartet im Wagen und sammelt die beiden auf, das geht ruckizucki.“

„Lass uns mal einen Blick in die Seitenstraßen werfen, du rechts, ich links!“

„Jawohl, Chefin!“ Aber Tom zog Clara nur auf, denn im Grunde hatte er sich an ihren Befehlston längst gewöhnt, der anderen Kollegen, wenn sie ausnahmsweise mit Clara als Partnerin arbeiten mussten, gewaltig aufstieß. Andererseits bemutterte Clara Tom auch oft, deckte ihn, wenn er wieder nicht rechtzeitig zum Dienst erschienen war, brachte ihm etwas zu essen für zwischendurch mit, da er ständig über Hunger klagte. Sie waren ein eingespieltes Team mit klaren Strukturen. Ab und zu wünschte Tom sich mit der kecken Frederike oder der hübschen Michaela Streife zu fahren, aber der Revierleiter hatte sicher recht, dass er von Clara sehr viel lernen konnte.

Also suchte Tom gehorsam die nächstgelegene rechte Seitenstraße ab, als er Herberts Stimme hörte: „Peter 21 für Peter 21-2. Kommen!“

Tom zog das immer noch große und unhandliche Funkgerät aus der Brusttasche seiner Uniformjacke: „Peter 21-2 hört!“

„Jost hat schon zweimal nach euch gefragt, ihr solltet euch mal wieder hier sehen lassen!“

„Klar, Wanki, gib uns noch 20 Minuten!“

„20 Minuten, nicht mehr! Peter 21 Ende.“

Tom beschleunigte seine Schritte. Tatsächlich gab es auch hier an mehreren Grundstücken Kameras, aber man müsste mehr Zeit haben, um deren Ausrichtung zu prüfen und ob sie in Frage kamen, Personen, die in einen Wagen stiegen, aufzuzeichnen. Jetzt konnten sie eh nichts mehr ausrichten.

Er joggte zurück zum Dienstwagen, wo Clara bereits wartete. „Dann mal flott, wenn du pünktlich wie angekündigt im PK sein willst!“

Jetzt am späten Vormittag kamen sie ohne Staus durch und saßen ungefähr seit fünf Minuten an ihren Schreibtischen, als der Dienststellenleiter aus seinem Büro kam und sich bei ihnen erkundigte: „Besondere Vorkommnisse?“

Clara versicherte: „Alles ruhig!“ Jost sah prüfend Tom an, der kein so abgebrühtes Pokerface wie die ältere Kollegin hatte, aber auch der sah ihn so treuherzig an, dass er glaubte, mit seinem Verdacht auf eigenmächtige Ermittlungen täte er ihnen Unrecht.

Mit mehr Zeit und der Befugnis, sich diverse private und öffentliche Überwachungsaufnahmen zu holen, müsste man dem Mann, der von Heesen oder Pseudo-von Heesen abgeholt hatte, doch auf die Spur kommen können! Leider hatte Clara nicht nur ausdrücklich keine Erlaubnis zu weiteren Nachforschungen, sondern Tom und sie hatten in ihren Schichten in der Regel keine Gelegenheit, sich für länger als eine Stunde auszuklinken, so dachte die Polizistin zwar noch oft an den U-Bahn-Toten, doch für den Fall zuständig war das Kriminalkommissariat.

15

Das zuständige Ermittler-Duo erstellte die Arbeitshypothese, dass der alte Herr entführt wurde, da die Familie von Heesen über Geld verfügte. Der Coup musste vorbereitet worden sein, denn es war wohl kaum ein Zufall, dass niemandem Fremde aufgefallen waren. Der oder die Entführer kannten sich aus mit dem Türöffner, wussten, wo Überwachungskameras waren und wo sich von Heesens Zimmer befand. Alle persönlichen Sachen waren mitgenommen worden, das hätte man wohl kaum gemacht, wenn man den Senior von vornherein umbringen wollte! Aber was war schiefgelaufen? Hatte der Demenzkranke seine Entführer überfordert? Schließlich ist es nicht einfach für Außenstehende, die Reaktionen eines Dementen einzuordnen. Sie konnten stur wie trotzige Kinder sein, hilflos wie Amnesiepatienten, aber in klaren Momenten völlig vernünftig reagieren. War es dem Opfer gelungen zu flüchten? Hatte man ihn im U-Bahnsystem irgendwo gefangen gehalten?

Erneut wurden die Gänge, Tunnel, Ecken und Räume in einem größeren Umkreis um den Ort des Zusammenstoßes von Polizisten und mehreren Spürhunden abgesucht, aber es fand sich kein Hinweis auf ein Versteck, in dem Ludowig von Heesen eingesperrt gewesen wäre.

Tagelang waren Schulte und Kühn fast ausschließlich am von Heesen-Fall, machten die übliche Kleinarbeit, die zur Routine gehörte, aber weder Auswertungen von Telefon- und Handylisten, Computern und Bankauszügen noch unzählige weitere Befragungen brachten irgendeinen Hinweis auf einen Auftragsmord.

Die Familie war nachweislich in den USA während der angegebenen zwei Wochen und verhielt sich völlig unauffällig bei den Vorbereitungen zu Einäscherung und Urnenbeisetzung rund drei Wochen später.

Zu dem Unbekannten im Seniorenheim gab es überhaupt keine Erkenntnisse. Der Vergleich eines Ausdrucks des Besuchers von einem Überwachungsvideo mit allen Bekannten, die der Familie eingefallen waren, hatte keinen Treffer gebracht.

Koffer und Tasche des Opfers samt allem Inhalt blieben verschwunden. Es war nicht zu klären, wie der alte Mann im Tunnelbereich auf die Schienen gelangt war. Für Suizid gab es keinen Anhalt. Doktor Kröger hatte beim zweiten Besuch der Kommissare Selbstmord sogar ausgeschlossen, weil er einem so stark beeinträchtigten Demenzkranken die nötige Planung nicht zutraute.

Die Ermittlungen gegen den Lokomotivführer Jens Matthies wurden eingestellt, da alle Untersuchungsergebnisse auf einen tragischen Unglücksfall hinausliefen.

Die Nachforschungen zu diesem ungeklärten Todesfall steckten in einer Sackgasse und neue Fälle beschäftigten die Kommissare.

SOKO Kitzbühel

1

„Polizeiinspektion Kitzbühel! Inspektor Pichler, was möchten S' melden?“

„Stalder, Kitzbüheler Hof. Ich wollt melden, dass eins der Zimmermädchen mir soeben berichtet hat, dass Gäste von uns seit zwei Tagen abgängig sind.“

„San s abg'reist ohne zu zoin?“

„Nein! Sie haben gezahlt. Sie sind auch nicht abgereist! Ihr Gepäck ist noch da, doch sie waren anscheinend seit vorgestern nicht mehr in den Zimmern.“

„San s volljährig?“

„Ja! Sicher, aber es…“

„D'Leit san in Ferie, leben's aus, des is ka Straftat, ned woahr?!“

„…aber es könnte ihnen doch was passiert sein!“

„Könnt scho, aber mir han do kei Meldung neikriegt!“

„Und jetzt?“

„Jetz woarten S, bis die wiederkimm'n, spoatestens am letzte Toag hole die ihr Sach!“

„Hoffentlich haben Sie recht! Schönen Tag noch!“

„Pfia Gott!“

Hotelchef Daniel Stalder saß noch einen Moment nachdenklich in seinem bequemen Drehstuhl hinter dem massiven Holzschreibtisch, der wie die ganze Inneneinrichtung des gediegenen Traditionshotels aus schwerem Echtholz bestand und mit volkstümlichen Schnitzelementen verziert war. Nach nunmehr 32 Jahren in der Hotelbranche fand er es doch ungewöhnlich, dass vier Gäste gemeinsam seit mehr als einer Nacht nicht mehr aufgetaucht waren.

Entschlossen erhob er sich und ging an einen kleinen Wand-Safe, in dem kein Geld oder andere wertvolle Sachen geschützt wurden, sondern wo sich eine Signalpistole, mehrere Handys aber auch vier Walkie-Talkies für Ausfälle des Kommunikationsnetzes befanden, sowie diverse Zweitschlüssel zu Wagen, seinem Haus und eben einer der zwei einzigen Generalschlüssel, die sämtliche Hoteltüren öffneten, inklusive der beiden Büros des Direktors und des Buchhalters – im Gegensatz zu den „General“-Schlüsseln, die beim Technischen Dienst, Rezeptionisten und wer weiß welchen wichtigen Angestellten sonst noch im Umlauf waren.

Der Manager verließ den Raum, dessen Zugang beim Schließen der Tür durch ein Code-Schloss gesichert wurde. Der Kitzbüheler Hof zählte zu den vornehmsten Hotels des beliebten Ortes. Vor allem im Winter wollten auch hochrangige Personen des öffentlichen Lebens ein bisschen Privatleben mit Familie und Freunden genießen, die dem Pressetrubel von St. Moritz, Davos und ähnlichen Urlaubszielen der Haute Volée entgehen wollten, ohne auf den luxuriösen Standard zu verzichten, den die unbekannteren, kleineren Skiorte nicht boten. Diskretion zählte in diesem Haus zum absoluten Muss. Um die Namen der Gäste zu schützen, erhielten viele Pseudonyme. Einsicht in die Reservierungslisten aus organisatorischen Notwendigkeiten wurde nur besonders vertrauenswürdigen Mitarbeitern gewährt. Buchungen bekannter Persönlichkeiten wurden so geheim wie möglich gehandhabt. Es wurde immer wieder versucht, an Namen und Bilder der Gäste zu kommen, um die Informationen zu verkaufen oder einfach nur zu leaken. Früher waren immer mal Journalisten inkognito abgestiegen und hatten mit ihren Veröffentlichungen Direktor Stalder einige bittere Stunden bereitet, wenn er als Verantwortlicher sich bei den Betroffenen vielmals entschuldigte und Brüskierte empört oder nur enttäuscht abreisten. Seither beschäftigte das 1. Haus am Platz neben den Sicherheitsleuten in Uniform noch mehrere männliche und weibliche Angestellte, die zusätzlich zu ihren normalen Aufgaben im Hotel trainiert worden waren, alle und alles zu beobachten. Von diesen „doppelfunktionalen“ Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hatte jede/jeder irgendeine Kampfausbildung, um Störenfriede jeglicher Art: von Betrunkenen über Paparazzi, Groupies, Stalker, Demonstranten oder Aktivisten für oder gegen irgendetwas…schnell und effektiv aus dem Hotel zu entfernen. Bei Bedarf konnte den Gästen – gegen Aufpreis – Sicherheitspersonal zur Verfügung gestellt werden, entweder als Bodyguards, Chauffeure etc. oder zum Teil ergänzend zum selbst mitgebrachten Personenschutz. Mehrere externe Spezialisten organisierten in Fällen besonderer Popularität oder Gefährdung den Aufenthalt von VIP-Gästen.

Als Haupteigentümer des Kitzbüheler Hofs hätte Daniel Stalder gerne die Exklusivität der Hotelanlage wieder etwas runtergefahren, sich damit enorme Kosten und vor allem einen unvorstellbar hohen organisatorischen Aufwand gespart. Seine Nerven litten unter der ständigen Anspannung. Ein aufsehenerregender Zwischenfall mit irgendeinem Prominenten konnte ihn die Existenz kosten! Heutzutage konnte ein Kommentar, ob wahr oder falsch, den über Jahrzehnte erarbeiteten guten Ruf in wenigen Stunden zerstören. Bei besonderen Events mit einer hohen Zahl an wichtigen Persönlichkeiten tat der Manager nächtelang kein Auge zu, weil ihn Albträume mit unterschiedlichsten Horrorszenarien heimsuchten: Anschläge mit Giften, Waffen und noch verheerender mit Bomben oder Feuer …Obwohl Stalder Atheist war, machte er drei Kreuze, wenn besonderes Aufsehen erregende Gäste wohlbehalten abgereist waren. War es in früheren Jahren eher einige Male pro Jahr, dass solche Ausnahmesituationen entstanden, gehörte es in letzter Zeit zum Alltag, dass alle im Hof mit dem ganzen Wirbel um „Sternchen“ oder „hohe Tiere“ umgehen mussten. Die Miteigentümer als reine Investoren erwarteten eine möglichst gute Rendite und hatten mit dem aufregenden Tagesgeschäft nichts zu tun – im Gegensatz zu ihm, der 150 prozentigen Arbeitseinsatz im ehemals eigenen Gasthof brachte, aber nicht mehr allein entscheiden konnte. Investitionen in Neubauten, Sanierungen, Modernisierungen und ständig aktualisierte Technik hatten ein Volumen, das er als Einzelunternehmer nicht mehr stemmen konnte. Allein die heutzutage notwendigen Versicherungen gegen alle erdenklichen Eventualitäten kosteten pro Jahr ein Vermögen.

 

Ihn hatte es auch seine Familie gekostet. Seine Ehefrau Gertraud stammte aus dem Schwarzwald und war ursprünglich nur zu einem Ferienjob vor vielen Jahren in Kitzbühel gelandet. Sie war knapp fünf Jahre jünger als er, eine hübsche Blondine mit langem Haar, aber kein Pupperl, sondern eine Abiturientin, die viel im Kopf und das Herz am rechten Fleck hatte. Sie hatte ihn als Juniorchef über zwei Monate lang hingehalten, immer freundlich, aber distanziert. Was hatte er sich als junger Kerl alles einfallen lassen, um doch noch Dates mit diesem Energiebündel zu bekommen, bevor sie wahrscheinlich mit Beginn ihres Jurastudiums in Freiburg für immer aus seinem Umfeld verschwunden wäre. Nach zwei Jahren brach sie ihr Studium ab, sie heirateten und Traudi und er übernahmen vom schon lange verwitweten Stalder Senior gemeinsam die Leitung des Kitzbüheler Hofs, eines damals biederen, sehr beliebten Familienhotels.

Er hatte seine Frau und die beiden Kinder wirklich geliebt, aber immer stand das Hotel auf der Prioritätenliste zuoberst. Jahrelang hatten seine Frau und er sich um Kompromisse bemüht, die dann aber keinem von beiden genügten. Als Maxl zehn war und Annerl gerade acht geworden war, eröffnete ihm seine Gattin, dass sie mit den Kindern heimziehen werde. Die Eltern betrieben eine kleine Ferienanlage auf dem nach und nach umgebauten Bauernhof, dessen Nebengebäude zu Ferienhäuschen und -apartments ausgebaut worden waren. Immer häufiger wünschte sich Daniel, er hätte der Versuchung, den Kitzbüheler Hof immer weiter auszubauen, widerstanden. Traudi sah er nur noch ein- bis zweimal im Jahr, wenn sie die Kinder für eine Papa-Woche zu ihm brachte oder abholte. Seine eigenen Kinder waren ihm fremd und jetzt mit 17 bzw. 15 in einem Alter, in dem sie auch nicht mehr mit Pool, Minigolf-Anlage und freier Menü-Wahl zu bestechen waren. Es tat ihm jedes Mal weh, wenn er glückliche Familien mit Kindern, die altersmäßig seinen entsprachen, erlebte. Aktuell beruhigte es ihn, dass andere Teenager ganz offensichtlich auch nicht einfach waren.

Wenn er mit dem gutgehenden mittelgroßen Hotel mit vorwiegend normal gebliebenen Senioren und durchschnittlichen Familien als Urlaubsgästen zufrieden gewesen wäre, hätten sie wahrscheinlich ein richtig gutes Leben zu viert haben können! „Manche Fehler lassen sich nicht ungeschehen machen“, bedauerte der Hotelbesitzer.

Direktor Stalder hielt an der Rezeption. „Wissen Sie was über die beiden Paare aus der 504 und 506?“

„504 und 506?“, wiederholte die Azubi hinter der Theke und tippte rasch auf der Tastatur rum. „Beatrix und Robert Schwarz in der 504. Sarah Schreiber und Joel Maurer in der 506.“

„Haben Sie sie gesehen?“, fragte ihr Chef nach.

Die siebzehnjährige Amrei Winkler schüttelte unsicher den Kopf.

„Danke!“, damit rauschte der Manager weiter. Mit dem Lift im fünften Stock angekommen, klopfte er erst höflich dezent, dann energischer an die Zimmertür von 504. Nichts tat sich. Rund acht Meter weiter wiederholte er das Ganze. Auch hier keine Antwort. Noch zögerte er, denn es bedeutete schon eine Grenzüberschreitung aus seiner Sicht, sich Zugang in die gemieteten Räume zu verschaffen. Eigentlich sollte jetzt ein Revierinspektor hier stehen und die Nachforschungen aufnehmen, warum zwei Paare nicht wieder im Hotel aufgetaucht waren seit dem Tag nach ihrer Anreise am Freitagnachmittag. Den Inspektor am Telefon hatte ihr Verschwinden in keiner Weise beunruhigt. Mit der polizeilichen Meldung hatte er seine Pflicht als Hotelier erfüllt und hätte bei Singles wahrscheinlich noch ein oder zwei Tage zugewartet, bevor er selbst aktiv wurde, aber je länger er über die Schilderung des Zimmermädchens grübelte, desto mehr sorgte er sich.

Frau Weinert war mit über 50 eine erfahrene Kraft. Wenn sie ihm sagte, sie hätte den Eindruck, die vier hätten die beiden Zimmer so verlassen, als wären sie bald wieder zurück, bräuchte er eigentlich gar nicht diese Indiskretion zu begehen, doch er wollte sich mit eigenen Augen ein Bild machen. „Frau Schreiber, Herr Maurer, hier spricht Hoteldirektor Stalder. Bitte öffnen Sie die Tür, sonst komme ich rein, um mich zu vergewissern, dass es Ihnen gut geht!“ Innerlich zählte er bis 10, dann schloss er mit seinem Generalschlüssel die Tür zu 506 auf.

Ja, hier gab es noch wuchtige Zimmerschlüssel, die in der Regel auch beim Verlassen des Hotels unten abgegeben werden sollten. Man hatte in Studien herausgefunden, dass die Key Cards zwar praktisch und handlicher waren, aber es kam ab und zu vor, dass eine Schlüsselkarte auch woanders passte oder viel häufiger zu lästigen Problemen beim Öffnen der eigenen Hotelzimmertür als mit einem altmodischen Schlüssel führten. Das Sicherheitsgefühl war bei den meisten Menschen bei real abgeschlossenen Türen viel größer. Viele Gäste steckten nachts den Schlüssel von innen ins Schloss, weil sie dann beruhigter schlafen konnten. Für die Angestellten war es mit den Schlüsselhaken in dem Büro hinter dem Empfangsbereich auch zeitsparend, weil man auf einen Blick sah, wie viele Besucher außer Haus waren.

Beim Personal wies der Kitzbüheler Hof eine sehr geringe Fluktuation auf. Im Gegensatz zu den meisten Hotelbetrieben fanden hier fast ausschließlich Einheimische eine Stelle, die bis auf wenige Ausnahmen schon seit zig Jahren im Hof ihr gutes Einkommen hatten. Bei manchen Angestellten arbeiteten mehrere Mitglieder einer Familie im Gastgewerbe, am liebsten in den Premium-Unterkünften, wo das Trinkgeld lockerer saß als in den einfacheren Gasthöfen. So einen Job riskierte man nicht leichtfertig trotz der enormen Arbeitsbelastung in nahezu allen Sparten.

Direktor Stalder kannte seine Angestellten alle mit Namen, so rief er „Frau Zittwitz, einen Moment, bitte!“, und winkte eine kleine Zimmerfrau, die ungefähr sieben Türen weiter mit einem Arm voller abgezogener Bettwäsche auf den Flur trat, zu sich. „Ich brauche Sie mal kurz als Zeugin!“

Der Chef betrat das Zimmer erst jetzt. Er sah sich kurz um. Einige persönliche Sachen lagen auf dem Schreibtisch und den Nachttischen, sonst war alles in tadelloser Ordnung. Daniel Stalder öffnete beide Schranktüren, warf einen kurzen Blick auf die ordentlich aufgehängten und in die Fächer sortierten Kleidungsstücke. Auf dem Schrankboden standen ein dunkelblauer Rucksack und eine große, schwarze Reisetasche. Er hob beide versuchsweise an, sie waren wohl leer. Frau Zittwitz stand an der Tür und sah ihrem obersten Vorgesetzten neugierig zu, wie er nun rasch das Bad inspizierte. Auf dem Bord über dem Waschbecken befanden sich zwei offensichtlich gefüllte Kulturbeutel. Auch die in einem Glas stehenden Zahnbürsten warteten auf die Rückkehr ihrer Besitzer. „Haben Sie die Bewohner mal gesehen?“

Zögern. „Nein!“

„Gut, kommen Sie mit rüber, bitte!“ Der Direktor schloss die Zimmertür von 506 ab und die von 504 auf. Auch hier waren Betten und Handtücher makellos in Ordnung, aber ansonsten herrschte ein Tohuwabohu an überall verteilten persönlichen Dingen: Hosen und Pullis auf Stuhl und Sessel – inklusive der Sitzflächen. Ein Tablet lag auf dem Schreibtisch und hing mit dem Ladekabel in der Wandsteckdose. Auf dem rechten Nachtkänsterle hing ein Handyladekabel aus der Steckdose hinter der niedrigen, rustikalen Nachttischlampe. Davor lagen eine Medikamentenpackung, ein eBook-Reader und ein Etui. Zig Sachen wie Reiseführer von Österreich, Schreibblock des Hotels und hiesige Werbeprospekte lagen auffällig schön aufgestapelt auf dem kleinen Tischchen in der Sitzecke, so wie es sich vor einem Neubezug gehörte. Das Zimmermädchen hatte wahrscheinlich die drei Paar Schuhe so ordentlich am Fußende des Queensize-Holzbettes aufgereiht und die Strümpfe gefaltet über die Einschlupflöcher gelegt, ansonsten sollten die Angestellten Eigentum der Gäste so wenig wie möglich anfassen oder umräumen. Im Bad nur die üblichen Hygiene-Utensilien, hier allerdings großzügig über sämtliche Ablagen, auch auf dem Badewannenrand, verteilt. Es wirkte definitiv so, als ob die Eigentümer all dieser individuellen Dinge mit ihrer baldigen Heimkehr in ihr Zimmer gerechnet hätten.

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