SOKO Mord-Netz

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Ein Anruf bei der Vermisstenstelle: „Schickt uns alle eingehenden Vermisstenanzeigen zu Männern seit … sagen wir gestern 18 Uhr! Danke!“

Nach telefonischer Nachfrage, ob der Zugführer vernehmungsfähig sei, machten sich Kühn und Schult auf den Weg zur Altonaer Asklepios Klinik. Am Empfangstresen erkundigten sie sich nach der Zimmernummer von Jens Matthies und klopften wenige Minuten später auf Station 2 kurz an die Tür von Zimmer 217, bevor sie eintraten. „Kriminaloberkommissarin Petra Kühn und Kriminalhauptkommissar Jürgen Schult!“, stellte die Kriminalbeamtin sich und ihren Kollegen vor. Beide hielten für wenige Sekunden ihre Dienstausweise hoch. „Es tut uns leid mit dem Zwischenfall. Fühlen Sie sich in der Lage, uns ein paar Fragen zu beantworten?“

„Es geht … schon besser, ich weiß wieder… wie ich Haltestelle HafenCity eingefahren bin, aber ich … habe nichts vorher bemerkt.“ Der Patient sprach hastig, verhaspelte sich.

„Frau Matthies, können wir Ihren Mann bitte allein sprechen? Es dauert nicht lange.“

Zögernd stand Kirsten Matthies auf und sah ihren im Bett liegenden Mann an: „Ich warte draußen.“ Kaum schloss sie die Tür hinter sich, als die beiden Beamten sich je einen Stuhl rechts und links vom Bett heranzogen und sich darauf niederließen.

Nun ergriff Schütt die Initiative: „Erzählen Sie mal den Ablauf seit Sie im Depot angelangt sind. Was tun Sie, bevor Sie abfahren? Wer weist Ihnen die Bahn zu?“

Während der Schilderung seiner üblichen Routine bei Dienstantritt wurde Matthies’ Stimme fester. Es wurde deutlich, dass alles wie immer ablief - bis zum Stopp HafenCity Universität. „Beim Einfahren in den Bahnsteigbereich habe ich gewohnheitsmäßig auf die Wartenden geschaut, da stand keiner zu dicht am Gleis, das kann ich beschwören.“

„Was veranlasste Sie zur Notbremsung?“

„Ich hörte dumpfe Schläge und ein leichtes Verzögern und Ruckeln, da hab‘ ich ’ne Vollbremsung gemacht, ganz automatisch. Dann erst schoss mir durch den Kopf: Jetzt haste was überfahren! Dann weiß ich nichts mehr, bis die Sanitäter, später eine Schwester an mir rumfummelten.“

„Haben Sie sich irgendwo verletzt?“

Der Mann griff sich mit der linken Hand hinten an den Kopf. „Ich bin wohl zusammengesackt, meint die Ärztin. Den Kopf habe ich mir angeschlagen. Am Hinterkopf ist eine Beule, aber keine blutende Wunde.“ Der Zugführer richtete sich auf zum Sitzen. „War es ein Selbstmörder?“

Schult antwortete: „Das wissen wir noch nicht. Wir ermitteln noch.“

„Was meinen Sie mit „dumpfe Schläge“?“, hakte Kühn nach.

„Es gab zwei oder drei tiefe Geräusche direkt hintereinander, weich, nicht wie wenn Metall, Stein oder Holz an den Zug schlagen.“

„Hatten Sie schon mal einen Personenschaden?“, erkundigte sich Schult.

„Nein, zum Glück noch nie. Manche haben sogar mehrere im Laufe ihres Berufslebens. Ich habe aber gar niemanden vor den Zug fallen oder am Rand stehen sehen. Ich hätte nichts machen können.“ Er knetete seine Hände und schüttelte den Kopf.

„Wie viele Passagiere befanden sich auf Bahnsteig 2?“

„Das weiß ich nicht genau. Acht bis zehn.“

„Hat sich jemand bewegt, als Sie einfuhren?“

„Nicht auffällig, aber es ging alles so schnell.“

„Danke! Sie müssen das Protokoll Ihrer Aussage noch lesen und unterschreiben in den nächsten Tagen. Gute Besserung und nutzen Sie das Angebot eines Psychologen!“ Die Kriminalbeamten standen auf und stellten die Stühle zurück an den Tisch.

Sie hatten die Tür fast erreicht, als Matthies mit unsicherer Stimme leise fragte: „Werde ich jetzt angeklagt?“

Kühn drehte sich um. „Die Staatsanwaltschaft wird bei jedem Ereignis, bei dem eine Person zu Schaden gekommen oder gar getötet wurde, eingeschaltet, aber im Moment stellt sich der Ablauf uns als unvermeidbar dar, so dass Sie keine Schuld treffen würde. Über das weitere Procedere entscheidet das Gericht, wenn die ersten Ermittlungsergebnisse vorliegen. Erholen Sie sich erst einmal!“

Schult hielt Frau Matthies die Tür galant auf, als sie zu ihrem Mann zurückkehrte, dann fuhren die Kriminalbeamten ins Kommissariat zurück, nicht schlauer als zuvor.

6

Als Clara und Tom zum Nachtdienst erschienen, gab es noch immer keinen Namen zum Toten von der U-Bahn. Keine Hinweise ob Suizid, Unfall oder Mord. Unbefriedigend! Da die Ermittlungen an die Kriminalpolizei übergeben wurden, musste Clara sich unauffällig alle Untersuchungsergebnisse selbst zusammentelefonieren, um an die Berichte der Spurensicherer, Labore und der Pathologin mit zig Detailinformationen zu kommen: Keine verwertbaren Spuren am Bahnsteig. Kein Hinweis auf eine zweite beteiligte Person. Blut und verschiedene Körperteile waren über eine Strecke von 18,37 Metern auf den Schienen und im Gleisbett nachgewiesen sowie über 6,43 Meter am Triebwagenunterboden und Rädern. Bremsspur und -strecke entlasteten den Zugführer als adäquat und prompt. Im Blut des Opfers fanden sich keine Medikamente oder Drogen. Schnitte von Organresten lieferten keinen Hinweis auf Krebsleiden oder andere Erkrankungen. Nach den Distanzmessungen hatte die Kollision rund 11 Meter vor Beginn des Bahnsteigs, also im engen und unbeleuchteten Tunnelbereich, stattgefunden. Was hatte jemand auf dem Gleis zu suchen? Die Gewebeproben hatten nachgewiesen, dass es sich um einen älteren Menschen handelte, sonst hätte man an einen Unfall, z.B. mit einem Sprayer, denken können. War es ein Obdachloser, der dort irgendwo hauste und sich noch nicht an den neuen Fahrplan mit häufigen Bahnen gewöhnt hatte? In den Kleidungsfetzen des Mannes hatten sich keine Anhaltspunkte zur Feststellung der Identität gefunden.

Der Verkehr auf dem Gegengleis war bereits nach zwei Stunden wieder freigegeben worden, wo die Bahnen den Rest des Tages in beide Richtungen in diesem Abschnitt bis zu den Weichen nach der U-Bahnstation verkehrten. Nach der letzten Bahn am Unfalltag waren sechs Polizeibeamte, ein Suchhund und vier Ortskundige der HHA die Gleise und Quergänge abgeschritten. Es fanden sich weder Beweise, dass der Verunfallte sich dort länger aufgehalten hatte, noch Anhaltspunkte, dass dort andere Personen einen Unterschlupf gefunden hatten. Die Auswertungen der Kameras im Bahnsteigbereich zeigten niemanden. Keine aktuelle passende Vermisstenanzeige. Berichte in verschiedensten Medien führten zu 57 Anrufen, denen vergeblich nachgegangen wurde - nichts als Sackgassen! So präsentierte sich der Fall als unklarer Todesfall einer unidentifizierten Leiche, er wäre bald in einer Ablage gelandet und die Leichenteile im Krematorium; als fünf Tage nach dem Unglücksfall ein Anruf der Polizeistation in Blankenese beim zuständigen Polizeikommissariat wieder Bewegung in die Ermittlungen brachte.

„Revierleiter Ebel. Bei uns ging soeben eine Vermisstenanzeige ein: Der Sohn war mit seiner Familie zwei Wochen im Urlaub in Florida bis gestern. Der verwitwete Vater lebt normalerweise mit im Haus, war aber für vierzehn Tage im St. Anna-Stift in Kurzzeitpflege angemeldet. Die Schwiegertochter hat ihn dort vor der Reise hingebracht, aber als sie ihn gestern abholen wollten, war der alte Herr seit Tagen nicht mehr im Heim.“ Herbert Wankmüller ließ sich Namen und Adresse von Sohn und Vater geben und versicherte, dass er sofort ein Team hinschicken werde.

Wankmüller war klar, dass Clara den Einsatz gerne gefahren wäre, aber sie kam erst nachmittags zum Dienst, so funkte er Johann und Michaela an: „Peter 21 für Peter 21-1!“

„Wagen 1 hört! Was gibt’s, Wanki?“

„Vermisstenmeldung in Blankenese. Ludowig von Heesen. Familie von Heesen war im Urlaub, der Vater in Kurzzeitpflege im Anna-Stift, wo er anscheinend seit Tagen nicht mehr war, als er gestern nach Hause geholt werden sollte. Informiert ihr die Familie!“

„Peter 21-1, verstanden! Sind unterwegs!“, bestätigte Michaela vom Beifahrersitz aus.

7

Nach 20 min hielt der Polizeiwagen bei der angegebenen Adresse. Als Johann gerade ausstieg und seine Polizeimütze aufsetzte, öffnete sich die Tür der Villa und oben an der Steintreppe erwartete sie ein circa fünfzigjähriger Mann in Anzug mit Krawatte und Weste: „Haben Sie ihn gefunden?“

Johann stieg als Erster die zwölf Stufen hinauf bis zur Plattform vor der imposanten Eingangstür aus geschnitztem Holz. „Guten Tag, Polizeiobermeister Johann Venlo, meine Kollegin Polizeihauptmeisterin Michaela Weber. Wir möchten Sie zu der von Ihnen aufgegebenen Vermisstenanzeige befragen. Können wir reinkommen?“ Michaela grüßte mit einem kurzen Kopfnicken.

Der Hausherr Gunther von Heesen trat zwei Schritte zur Seite: „Natürlich, kommen Sie!“ Er führte die beiden Polizeibeamten durch einen breiten, hellen Flur mit weißem Marmorboden und mehreren großen Spiegeln an den Wänden geradeaus auf einen offenen, rund 60 Quadratmeter messenden Wohn-Essbereich zu. Durch die riesige, von der Decke bis zum Boden reichende Fensterfront hatte man einen grandiosen Ausblick auf einen parkähnlichen Garten mit Teich, Springbrunnen, Statuen und verschlungenen Wegen zwischen Rasen und Beeten.

Beim Betreten des Wohnzimmers erhob sich eine Dame in einem eleganten dunkelgrünen Kleid mit langer Goldkette von der Couch. „Mirja von Heesen! Guten Tag! Haben Sie Neuigkeiten von meinem Schwiegervater?“ Mit einer einladenden Geste bot sie den Beamten an, in der Sitzgruppe Platz zu nehmen. Das Ehepaar setzte sich nebeneinander auf das Sofa und sah die Beamten erwartungsvoll an.

Johann begann: „Schildern Sie uns bitte, wann Sie Herrn von Heesen Senior in die Seniorenresidenz Wellenfrieden gebracht haben und von wann bis wann Sie verreist waren!“ Michaela machte sich Notizen über die Angaben, während ihr Kollege die Fragen stellte. Frau von Heesen hatte ihren Schwiegervater mit einem Koffer voller Kleidung und ein paar persönlichen Sachen für das Einzelzimmer zu der ausgewählten Bleibe gebracht. Das war einen Tag vor dem Abflug des Ehepaars von Heesen samt den beiden jugendlichen Töchtern. Ihr Mann musste an dem Tag noch arbeiten. Von Heesen Senior war dort für zweieinhalb Wochen zur Kurzzeitpflege aufgenommen worden. Die Familie flog in den Urlaub nach Miami, machte zusammen eine zweiwöchige Rundreise und war gestern wie vorgesehen zurückgekommen. Heute gegen 10 Uhr morgens wollte Herr von Heesen seinen Vater in der Residenz abholen, aber der alte Herr war schon vor fünf Tagen von einem Herrn abgeholt worden, der sich für seinen Sohn ausgab und seinen „Vater“ widerstandslos samt allen persönlichen Sachen mitnahm. Die Heimleitung hatte keinen Verdacht geschöpft, da sie Herrn von Heesen Junior nicht kannte.

 

„Wieso sollte Ihr Vater ohne Protest mitgegangen sein?“

„Nun ja, er ist ziemlich dement. Wenn man mit ihm richtig umzugehen weiß, kann man ihn überall mit hinnehmen!“

„Könnte es sich um eine Entführung handeln?“

„Das wäre schon möglich. Mein Vater hat hier ein Speditionsimperium aufgebaut, aber wir haben keine Lösegeldforderung erhalten.“

„Kann sie Sie durch Ihre Abwesenheit nicht erreicht haben?“

„Ich hatte mein Handy außer während der Flüge immer eingeschaltet - nichts! Kein Anruf, keine SMS oder E-Mail. Auch weder in unserer Privatpost noch im Büro unter den Geschäftsbriefen ein Erpresserschreiben! Keine Nachricht!“, erklärte der Sohn mit bebender Stimme.

Seine Frau griff seine linke Hand und drückte sie. „Vater kann quasi überall sein! Er kann sich zwar an viele Dinge nicht erinnern, aber er könnte durchaus allein in einen Bus oder einen Zug steigen!“, ergänzte sie.

„Haben Sie ein aktuelles Foto für uns? Und können Sie ihn beschreiben?“

Der Sohn sah hilflos zur Gattin, die den Kopf in den Nacken legte, sich konzentrierte und dann abspulte: „Etwa 1,85 Meter, stattliche Figur, weißes, volles Haar, keinen Bart.“

„Wir bräuchten eine Aufstellung der Kleidung, die Ihr Schwiegervater an und mit hatte.“

Keiner der Beamten deutete an, dass der Blankeneser eventuell im Bereich HafenCity unter eine U-Bahn geraten war. Während die Schwiegertochter auf einem Zettel die mitgenommenen Kleidungsstücke des alten Herrn notierte, hatten die Kommissare weitere Fragen: „Wie war das Verhältnis zu Ihrem Vater?“

„Gut, meine Mutter ist früh gestorben, dann hat mein Vater noch sechs Jahre allein gelebt, aber als die Demenz ausbrach, konnte man ihn nicht mehr allein lassen, so haben wir ihn zu uns genommen.“

„Wann war das?“

„Mirja, wann ist Vater zu uns gezogen?“

Die Angesprochene sah auf: „17.8.2010.“

„Also lebte Ihr Schwiegervater jetzt drei Jahre hier. Wer kümmerte sich um ihn? Kam eine Betreuung?“

„Nein, das wollten wir nicht“, mischte sich von Heesen Junior wieder ins Gespräch. „Mirja war Disponentin bei uns. Sie arbeitete anfangs noch zum Teil von zu Hause aus, aber schließlich stellten wir jemanden ein, der vor Ort in der Spedition arbeitete, das ist einfach praktischer, wenn Nachfragen sind.“

Michaela wandte sich wieder an Frau von Heesen: „Frau Heesen, pardon, von Heesen, Sie haben ihn also allein betreut. Wie war das? Musste er rund um die Uhr unter Aufsicht sein? Brauchte er viel Hilfe im Alltag?“

„Anfangs konnte Vater sich allein umziehen, waschen, essen, beschäftigen, man musste nur den Tagesablauf strukturieren, damit er morgens aufstand, aß und abends ins Bett ging. Über die Jahre wurde er immer vergesslicher, brauchte zunehmend Hilfe bei Hygiene und Mahlzeiten. Bis letztes Jahr ist er noch mit uns in die Ferien gefahren, aber inzwischen muss man rund um die Uhr aufpassen, dass er nichts anstellt. Er schläft wenig und läuft dann durch das Haus oder auch weg, bevor wir überall die Türen mit Codes gesichert haben. Dieses Jahr haben wir mit ihm einen Pflegeplatz für die Zeit unseres Urlaubs ausgesucht.“

„Kam jemand vom Pflegedienst zu Ihnen, um Sie zu entlasten?“

Wieder intervenierte der Gatte: „Nein, das macht Mirja alles. Er ist ja nicht bettlägerig, er braucht nur Hilfe bei manchen Tätigkeiten, aber er kann mit ihr ja noch spazieren gehen oder ihr von früher erzählen. Manchmal passen Anna-Pia oder Mia-Marie auf ihn auf, wenn wir eingeladen sind.“

„Das sind Ihre Töchter? Wie alt sind die?“

Die Mutter reagierte schneller: „Anna-Pia ist 16, Mia-Marie wird in zwei Wochen 14.“

„Hüten die beiden gerne ihren Großvater?“

„Er ist ihr Großvater, da kann man das schon mal von Zeit zu Zeit verlangen!“, erklärte der Vater energisch.

Die Mutter wiegelte ab: „Es kommt ja nicht so oft vor, dass ich mit zu Geschäftsessen gehe oder Arzttermine habe.“

Johann meldete sich auch mal wieder zu Wort: „Kann ich bitte einen Blick in sein Zimmer werfen?“

„Natürlich!“ Gunther von Heesen stand auf und führte den Polizisten zum Gästezimmer, das sich wie die anderen Schlafzimmer im ersten Stock befand.

Der Beamte machte erst mehrere Handyfotos und öffnete dann nacheinander Schrank, Nachttisch und eine Kommode. Inzwischen war seine Kollegin oben eingetroffen und sie durchsuchten die Möbel einschließlich des Bettzeugs genauer, aber außer den zu erwartenden Sachen entdeckten sie nichts Interessantes. Trotzdem versah Johann die Tür sicherheitshalber mit einem Polizeisiegel. „Eventuell müssen wir das Zimmer Ihres Vaters zu einem späteren Zeitpunkt genauer durchsuchen. Brauchen Sie etwas aus diesem Raum?“, erklärte er.

Von Heesen Junior wirkte verstört: „Nein, aber warum sollen wir da nicht mehr rein?“

„Vielleicht müssen wir nach Anhaltspunkten suchen, was Ihr Vater vorhatte!“

„Was meinen Sie – „vorhatte“?“

„Ob er Reisepläne hatte oder vielleicht an Selbstmord dachte…“ Jetzt war das Thema angeschnitten. Beide Beamten beobachteten ihr Gegenüber genau, aber der Sohn wirkte ehrlich verwirrt, zögerte.

Man sah wie die Rädchen im Kopf arbeiteten. „Warum sollte mein Vater allein verreisen wollen oder an Selbstmord denken? Es geht ihm gut bei uns. Wir kümmern uns. Er kann doch allein nicht wegfahren!“ Von Heesen schüttelte den Kopf, als erschienen ihm die angedeuteten Möglichkeiten absurd. „Er wird sich verlaufen haben …“

„Und der Mann, der Ihren Vater samt allen Sachen abgeholt hat?“

„Haben Sie eine Idee, wer das sein könnte?“, ergänzte POM Venlo. „Vielleicht ein Verwandter, zu dem Ihr Vater Kontakt aufgenommen hat, weil er nicht im Seniorenheim bleiben wollte?“

Vehementes Kopfschütteln. „Nein, mein Vater war ein Einzelkind und ich bin sein einziger Sohn!“

„Vielleicht aus der Familie Ihrer Frau?“

„Wir haben schon jeden angerufen, der uns einfiel. Keiner hat ihn gesehen oder weiß, wo Vater hin ist.“

„Was ist mit ehemaligen Nachbarn? Freunden?“

„Er hat keine Kontakte mehr zu Menschen außerhalb unserer Familie.“

„Können Sie uns trotzdem Namen und Adressen nennen von Bekannten und ehemaligen Kollegen?“

„Das weiß Mirja besser, aber warum hat sich niemand bei uns gemeldet?“ Kurze Pause, dann schien er froh über eine Idee: „Wir müssen uns an die Medien wenden! Irgendjemand wird wissen, wo Vater ist!“

„Das können Sie immer noch tun, aber lassen Sie uns mal erst unsere Kanäle nutzen, jetzt, da wir eine Beschreibung haben!“, wiegelte PHM Weber ab.

Johann hakte ein: „Wir bräuchten noch Namen und Praxisadresse des betreuenden Arztes.“

„Da muss ich meine Frau fragen. Können wir wieder zu ihr runter gehen?“

Michaela nickte: „Ja, im Moment sind wir hier fertig.“

Nach weiteren zehn Minuten hatte Frau von Heesen ihnen außer dem Steckbrief und der Kleidungsliste auch zig Namen von noch lebenden Personen aus dem früheren Leben ihres Schwiegervaters sowie die Adresse eines Hausarztes zwei Straßen weiter aufgeschrieben. Die Polizeibeamten verabschiedeten sich und versprachen, sich zu melden, sobald sie Neuigkeiten hätten. Von Heesen Junior geleitete sie bis vor die Haustür und sah ihnen nach, als sie die Treppe zum Dienstwagen hinunterstiegen.

Kaum war Johann angefahren, fragte ihn seine Kollegin: „Was hältst du von ihnen?“

„Sie machen sich Sorgen, ist doch verständlich.“

„Ich fand es seltsam, dass der Sohn so wenig vom Vater weiß und alles an der Schwiegertochter hängen bleibt. Sie wirkte so beherrscht, hatte alles im Griff, aber echte Sorge habe ich nicht gespürt.“

„Eine Dame lässt sich nicht vor uns gehen, das kann im stillen Kämmerchen ganz anders aussehen.“

„Glaub ich nicht!“

Als das Duo im Polizeikommissariat eintraf, berichtete Michaela dem Vorgesetzten Jost Kleves von der Befragung des Ehepaars von Heesen. Die für den U-Bahn-Toten zuständigen Kriminalbeamten Petra Kühn und Jürgen Schult wurden vom Revierleiter des Polizeikommissariats 21 danach umgehend telefonisch in Kenntnis gesetzt, dass es sich bei der U-Bahn-Leiche möglicherweise um den 82-jährigen Herrn von Heesen Senior handelte. Er gab ihnen die genauen Personenstandsdaten samt Adresse durch.

8

Daraufhin befragte das Ermittler-Duo KHK Schulte und KOK Kühn Pförtner die Heimleiterin und diverse Betreuer, aber keiner lieferte neue Informationen. Von Heesen Senior war mittelgradig dement, war in seinem Zimmer geblieben, nahm dort auch seine Mahlzeiten ein, war nachts meist wach, aber niemand hatte ihn außerhalb des Zimmers gesehen. Die Beschreibungen des „Sohnes“, der den alten Mann vorzeitig geholt hatte, deckten sich mit ihren Notizen von der Anzeige – abgesehen von den üblichen Varianten von Zeugenbeobachtungen: Mann um die 50, normal groß, kurze braune Haare, glatt rasiert, weißes Hemd, grauer Anzug, höflich, freundlich, kein Ausländer, kein Dialekt. Einfach nichts, wo man einhaken konnte. Er hatte den Koffer und eine Tasche getragen, von Heesen war ganz selbstverständlich hinter ihm her getrottet. Jeder hatte sie für Sohn und Vater gehalten. Keiner hatte gesehen, ob sie mit einem Taxi oder einem geparkten Auto oder vielleicht sogar mit einem Bus von der Haltestelle circa 100 Meter die Straße runter weggefahren waren. Das Zimmer war gereinigt und schon wieder vergeben.

„Kurzzeitpflegeplätze sind begehrt!“ Es gab keine medizinischen Auffälligkeiten. Bei den Mahlzeiten, bei denen der Senior gefüttert werden musste, erhielt der Patient einen in diesen praktischen Döschen vorbereiteten Medikamentenmix, angeblich einen Beta-Blocker, Vitaminpillen und abends ein leichtes Schlafmittel, alles von zu Hause mitgebracht wie bei kurzen stationären Aufenthalten üblich. Der Mann wirkte ausgeglichen, ruhig, gab höflich auf jede Frage eine Antwort, wenn auch oft nicht sinnvoll, aber sonst wäre er ja auch nicht dort gelandet. Petra Kühn ließ sich von jedem beschreiben, welche Kleidung der Vermisste am Tag des Verschwindens trug. Das führte zu viermaligem „weiß ich nicht mehr“ oder „ich habe ihn an dem Morgen gar nicht gesehen“ und zu drei unterschiedlichen Angaben. Keine Hilfe für einen Medienaufruf mit so wenigen Informationen, aber eventuell passte die Kleidung in der Rechtsmedizin zu einer der vorliegenden Beschreibungen.

Schon 17 Uhr 52. Der Pförtner der Pathologie erklärte auf Kühns telefonische Anfrage, dass Frau Doktor Jansen das Institut vor circa einer Viertelstunde verlassen habe, also Feierabend für die Kriminalisten.

9

Am nächsten Morgen suchten Kühn und Schulte die Gerichtsmedizinerin kurz nach 9 Uhr auf und ließen sich die sichergestellten Kleidungsstücke, die noch an Körperteilen gehangen hatten, zeigen. Eine endgültige Aussage konnte keiner zu den blutverschmierten, zerrissenen Textilien treffen. Es konnte sich um Reste eines ehemals weißen Hemdes und eines blauen Anzugs treffen, nicht sehr spezifisch.

„Besorgt mir eine Vergleichsprobe vom vermeintlichen Sohn, dann sag ich euch, ob die Leiche mit ihm verwandt ist“, beauftragte sie Doktor Helga Jansen.

Kriminalhauptkommissar Schult erkundigte sich über Handy, ob von Heesen Junior zu Hause anzutreffen war. „Bleiben Sie bitte noch in der Villa, wir kommen in circa 20 Minuten zu Ihnen.“

10

Der Hausherr erwartete sie oben auf der Empfangsterrasse und erkundigte sich noch vor der Haustür, sofort nach der Begrüßung, ob es etwas Neues gäbe. Sie schritten auf den Wohnbereich zu. Kommissarin Kühn hielt ihn hin: „Leider noch nichts, wir ermitteln noch. Würden Sie uns freiwillig eine Speichelprobe geben, damit wir Ihre DNS von eventuellen Spuren Ihres Vaters unterscheiden können?“ Verdutzt hielt von Heesen an und musterte die Beamten, die schon bohrende Fragen fürchteten, aber dann schien es ihm zum Standardverfahren wie in jedem TV-Krimi zu gehören, denn er nickte zustimmend. Petra nahm mit dem Stäbchen aus einem sterilen Plastikröhrchen eine Probe von der Mundschleimhaut von Heesens, indem sie mit dem weichen Ende sanft einige Male drehend darüberstrich, bevor sie das Stäbchen zurück ins Röhrchen steckte und fest zudrehte. Sie hatte es bereits im Auto beschriftet.

 

Nach zwei oder drei nichtssagenden Sätzen verließen die Kommissare die Villa, ohne der Gattin begegnet zu sein. Von Heesen Junior schien sich nicht zu wundern, dass man von ihr kein Vergleichsmaterial benötigte, dabei war sie doch mit dem verschwundenen Herrn im Heimzimmer gewesen.

11

Auf dem Weg zum Kommissariat lieferten sie das Plastikröhrchen mit dem Abstrich selbst im Labor ab. Nach etwas Schreibarbeit und einer gemeinsamen Mahlzeit in der Kantine machten Kühn und Schult sich an die Telefonate mit den Personen von der Kontaktliste, die ihnen von PHM Weber gemailt worden war, aber die meisten hatten von Heesen Senior in den letzten 2-3 Jahren nicht mehr gesprochen, geschweige denn gesehen.

Am nächsten Tag klapperten sie die jetzigen Nachbarn ab, aber auch hier erhielten die Kriminalbeamten nur abschlägige Antworten von den angetroffenen Befragten. Ludowig von Heesen hatte schon rund ein Jahr niemand mehr draußen gesehen.

KOK Petra Kühn war misstrauisch: „Das gibt es doch immer wieder, dass Familienangehörige eines Toten noch dessen Bezüge kassieren oder den Erbfall verzögern, lass uns da mal nachgraben!“

Knapp zwei Stunden später kannten sie das Testament von Ludowig von Heesen, der alles schon zu Lebzeiten dem Sohn vermacht hatte, nicht mal eine Leibrente oder die Betreuung wurden darin erwähnt. Dort fand sich kein Motiv, aber vielleicht irgendwelche Rentenzahlungen?

Die Befragung des Hausarztes brachte auch nichts Neues. Doktor Kröger, der Hausarzt, las im PC nach, dass er vor gut fünf Wochen den halbjährigen Gesundheitscheck bei dem Zweiundachtzigjährigen gemacht hatte: „Körperlich hat er gegenüber dem Frühjahr etwas abgebaut, fünf Kilogramm Gewicht verloren, auch Muskelmasse, aber vor allem geistig handelte es sich um einen rasch progredienten Verfall der kognitiven Leistungen. Auch die einfachsten Alltagstätigkeiten und -entscheidungen überforderten ihn. Im Gespräch kamen leere Worthülsen, oft ohne Bezug zum Thema. Auf die gleiche Frage kam fast jedes Mal eine andere Antwort, die oberflächlich richtig wirken können auf Außenstehende, aber die Sätze kommen aus einem Speicher – ähnlich wie bei einem Papagei, sie werden nicht mehr situativ gebildet. Mit einer so fortgeschrittenen Demenz brauchte der Patient rund um die Uhr Betreuung, da hatte Frau von Heesen einen Fulltimejob und Urlaub dringend nötig! Sie leistet Übermenschliches, indem sie ohne Hilfe rund um die Uhr dem Schwiegervater hilft und ihn überwacht, damit er nichts anstellt. Sie glauben gar nicht, wie gefährlich ein dementer Mensch für sich und die Umgebung ist! Viel schlimmer als jedes Kleinkind, das viele Dinge noch nicht kennt oder kann, aber rasch dazu lernt. Bei Patienten mit Hirnleistungsstörungen klappt motorisch vieles wie zum Beispiel das Entzünden einer Kerze oder das Starten eines Autos, aber sie erkennen die Gefahren nicht mehr, können keine Konsequenzen bedenken, weil das vorausschauende Denken, das Abwägen von Taten und ethischen Werten, das Kurzzeitgedächtnis und vieles mehr nicht mehr funktionieren…“

KHK Jürgen Schulte unterbrach den Redefluss des dozierenden Arztes: „Kann Herr von Heesen allein mit dem Bus oder einer U-Bahn fahren?“

„Wenn er diese öffentlichen Verkehrsmittel früher benutzt hat, dann könnte er auf alte Verhaltensmuster zurückgreifen, aber sicher nicht um gezielt irgendwo hinzufahren.“

„Danke für Ihre Zeit. Auf Wiedersehen!“, verabschiedeten sich die Beamten nahezu zeitgleich und kehrten ins Kommissariat zurück.

„Ich sag doch, die haben den Vater nicht mehr ausgehalten!“

„Und wie sollen sie das getan haben? Sie waren in Florida“, wandte Jürgen ein.

„Die haben Geld genug, dann bezahlen sie halt jemanden“, entgegnete die Kollegin. „Ich habe da einfach ein ganz dummes Gefühl!“

Schulte lachte: „Ich habe auch Hunger!“

12

Für das Polizeikommissariat 21 war der Fall mit dem unbekannten U-Bahn-Toten nach der Weitergabe an die Kriminalpolizei eigentlich abgeschlossen, aber Clara ließ der brutale Tod des alten Mannes nach dieser seltsamen „Entführung“ keine Ruhe.

„Irgendjemand müsste den angeblichen Sohn doch beschreiben können oder beobachtet haben, wo er mit dem alten Herrn hingegangen ist“, äußerte sie sich bei einer Team-Besprechung über die Alltagsfälle.

Sofort wurde der Revierleiter hellhörig. „Haltet euch da raus, das ist jetzt Aufgabe des K2. Wir haben unsere Schuldigkeit getan!“

Aber Clara bekam unerwartete Schützenhilfe von Frederike Melters, einer jungen, sehr engagierten Kollegin. „Würde von Heesen Senior mit jedem Unbekannten mitgehen? Ich dachte demente Menschen hassen Veränderung und fremde Leute. Spricht das nicht eher für einen Verwandten oder Bekannten, der ihn abgeholt hat?“

Tom mischte sich ein: „Wer sagt denn, dass das von Heesen Senior war? Das kennt man doch: Der Vater oder die Mutter sind tot, aber die Familie kassiert fleißig weiter Bezüge und bei einer Kontrolle sucht man sich einen Obdachlosen oder Schauspieler, der pleite ist, der die Rolle des Verstorbenen mimt. Das im Altersheim war gar nicht der Vater von Gunther von Heesen, der ist schon lange irgendwo verscharrt, aber so konnte man ihn jetzt offiziell verschwinden lassen!“ Beifall heischend schaute Tom in die Runde. Ein paar Kollegen nickten, die meisten schüttelten den Kopf über diese haarsträubende Hypothese.

Bernd Holzer, Polizeihauptkommissar, fragte: „Und wer ist dann der Tote?“

„Irgendein armes Schwein, das sich einen Hunderter und ein paar Tage in einem warmen Quartier verdienen wollte! Vielleicht wollte er plötzlich mehr oder wusste zu viel und musste verschwinden!“ Tom sah sich triumphierend um.

„Dann müsste es ja eine Vermisstenanzeige geben!“

„Nicht bei einem, der auf der Straße lebt und umherzieht.“

„Schluss jetzt! Darüber kann sich die Kripo den Kopf zerbrechen, wir haben anderes zu tun! In drei Wochen ist das Vergleichsschießen der Hamburger Polizei, da brauche ich noch zwei Freiwillige, die sich für das Mannschaftsschießen melden. Hannes und Clara sind schon auf der Liste. Bernd, wie wär's mit dir?“

„Nee, lass mal! Soll jetzt mal der Nachwuchs an den Start gehen!“

„Ihr werdet auch zwei Stunden pro Woche für zusätzliches Schießtraining freigestellt.“

„Dann meld ich mich, wenn sonst keiner den Mumm hat, gegen die anderen Reviere anzutreten!“, meldete sich Tom forsch zu Wort.

Clara zog ein Gesicht: „Eigentlich wollten wir nicht den letzten Platz machen!“

„Das war nicht nett von dir!“, beschwerte sich ihr junger Kollege. Die anderen lachten.

Der Chef ergriff wieder das Wort: „Überlegt es euch! So, schönen Feierabend für die Nachtschicht, der Rest an die Arbeit! Wanki, wo ist der Dienstplanentwurf für den nächsten Monat?“ Herbert Wankmüller verließ rasch den Raum, während die Kollegen sich nach Hause oder an die Schreibtische begaben. Als Revierleiter Jost Kleves an der Empfangstheke vorbeikam und erneut nachhaken wollte, führte Herbert ein hitziges Scheingespräch am Telefon, bis der Vorgesetzte mit einem missbilligenden Gesicht in sein Büro verschwand.

Freddy, wie man Frederike im PK 21 meist nannte, lachte Herbert zu: „Du glaubst doch nicht, dass Jost dir das Telefonat gerade abgenommen hat!“

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