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Der Freiherr trieb mit Feuer die Anlage seiner Fabrik. Er suchte wenigstens einen Teil der Ziegel selbst zu brennen, er bezeichnete die Stämme des Waldes, welche im Winter zu Bauholz geschlagen werden sollten. Ein Baumeister wurde durch Ehrenthal empfohlen und ein Techniker von dem Freiherrn selbst angeworben. Er erkundigte sich sorgfältig nach der Vergangenheit des Mannes, dem er Einrichtung und Betrieb seiner Fabrik übergeben wollte, und wünschte sich Glück, als er nach langem Suchen einen redlichen Mann fand, der eine ungewöhnliche theoretische Bildung besaß. Vielleicht war gerade diese letztere Eigenschaft vom Standpunkte des Barons nicht ohne Bedenken, denn dem Erwählten wurde von zähen Praktikern nachgesagt, daß er nie eine Fabrik in ruhigem Betriebe lassen könne, sondern durch hastige Einführung neuer Erfindungen die tägliche Arbeit zu oft störe. Daher galt er für kostspielig und unsicher. Dem Freiherrn war die Intelligenz und Redlichkeit des Mannes natürlich die Hauptsache, mehr noch als jedem andern, weil er im stillen die Empfindung hatte, daß diese Eigenschaften des Technikers die Mängel seiner eigenen Leitung ausgleichen müßten.
So froh aber diese Aussichten waren, ein Übelstand war doch dabei. Ordnung und Behagen waren auf dem Gut nicht mehr zu finden, sie waren mitten im Sommer fortgeflogen wie die Störche, welche seit vielen Jahren hinter der großen Scheuer genistet hatten. Alle Welt wurde durch die neue Anlage belästigt. Die Baronin verlor eine Ecke des Parkes, sie erlebte das Herzeleid, daß ihr ein Dutzend mächtiger alter Bäume niedergeschlagen wurde. Ein Haufe fremder Arbeiter zog mit Hacke, Schaufel und Karren wie ein Heuschreckenschwarm über das Gut. Sie zertraten die Grasplätze des Parks, sie lagerten in ihren Eßstunden in der Nähe des Schlosses und belästigten die Frauen oft durch ihren Mangel an Rücksicht. Der Gärtner rang die Hände über die zahlreichen Diebstähle an Obst und Gemüse. Der Amtmann war in lauter Verzweiflung über die Unordnung, welche in seiner Wirtschaft einriß. Die neuen Leute, welche er angenommen hatte, erschwerten ihm die Aufsicht über das Gesinde. Die neuen Zugtiere, in der Eile gekauft, reichten nicht aus. Die Ackerpferde wurden ihm zu Fuhren verwandt, wenn er sie am notwendigsten im Felde brauchte, seine guten Zugochsen waren für ihn gar nicht mehr vorhanden. Der Bedarf der Wirtschaft wurde größer, die Einnahmen drohten geringer zu werden. Auch die Bodenfläche, welche für die Rübenkultur bestimmt war, machte dem alten Mann schwere Arbeit. In der Fruchtfolge mußte vieles geändert, die Taglöhner sollten für den neuen Bau angelernt werden. Lenore hatte viel zu trösten und brachte ihm manches Pfund Tabak aus der Stadt, damit er seinen Kummer mit den blauen Wolken in die Luft blasen konnte. Die schwerste Last trug natürlich der Freiherr selbst. Sein Arbeitszimmer, sonst nur von einzelnen Bittstellern oder dem Amtmann besucht, wurde jetzt ein Gemeinplatz wie der Laden eines Krämers. Nach zehn Seiten sollte er Rat schaffen, Aufschluß geben, Schwierigkeiten überwinden. Fast täglich jagte er nach der Stadt, und wenn er am friedebringenden Abend auf dem Gute war, erschien er im Familienkreise sorgenvoll, mürrisch, abgespannt. Es war eine große Hoffnung, die ihn erfüllte, aber es war sehr schwierig, sie in Wirklichkeit zu verwandeln.
Einigen Trost fand der Freiherr in der lebhaften Anhänglichkeit Ehrenthals. Dieser wußte sich schnell nützlich zu machen, hatte stets einen guten Rat bei der Hand und war um Auskunft niemals verlegen. Oft besuchte er das Herrenhaus, dem Baron ein willkommener Gast, weniger den Frauen. Diese gönnten ihm den Argwohn, daß seine Beschwörung die Flut von Geschäften heraufführe, welche sich durch alle Fenster und Türen des Schlosses ergoß. Glücklicherweise dauerten seine Besuche immer nur kurze Zeit, und wenn man ihm auch ansah, daß er sich auf dem Gute nicht unbehaglich fühlte, so war sein Benehmen in betreff der Ehrerbietung doch durchaus untadelhaft.
An einem sonnigen Mittag trat Ehrenthal mit Brillantnadel und Busenkrause in das Zimmer seines Sohnes. »Willst du heut mitfahren auf das Gut der Rothsattel, mein Bernhard? Ich habe dem Baron gesagt, daß ich dich mitbringen werde, um dich zu präsentieren der Familie.«
Bernhard sprang von seinem Sitz auf. »Aber Vater, ich bin den Herrschaften ja ganz fremd!«
»Wenn du das Gut gesehen haben wirst, wird es dir nicht mehr fremd sein, und wenn du gesprochen haben wirst den Baron, die Baronin und das Fräulein, so wirst du sie kennen. Es sind gute Leute«, fügte er wohlwollend hinzu.
Der Sohn hatte noch viel schüchterne Bedenken, aber der Vater schlug sie durch die bestimmte Erklärung nieder, daß der Freiherr ihn erwarte.
Bernhard saß im Wagen, über ihm hoch in der Luft flogen die Vögel, die Pappeln an der Landstraße schnurrten wie durch ein Band gezogen hinter ihm, lachend schien die Sonne in sein bleiches Gesicht und fragte: Wo kommst du her, Mann? Dich kenne ich nicht. Er rückte sich auf seinem Sitze in unruhiger Spannung zurecht. Seit er Anton kannte, ja länger, seit er seine Dichter las, hatte er von der kleinen einsamen Stube sehnsüchtig auf das fröhliche Treiben solcher gesehen, welche darauflosleben und unnützes Grübeln hassen. Heut kam ihm vor, als ob er selbst ein wenig daraufloslebe, heut jagte er in die Welt hinein zu einem unbekannten Edelmann in das Haus einer berühmten Schönheit, die er sich ansehen wollte. Er zog seinen Hemdkragen zurecht, drückte den Hut entschlossen in die Stirn und schlug die Arme unter. Mit scharfem Blick musterte er die vorübergehenden Reisenden, und die Frau vom Zollhause, welche das Geld abnahm, fixierte er so unternehmend, daß sie ihr Brusttuch zurechtzog und ihn lächelnd anblinzelte. Unterdes floß das Herz des alten Ehrenthal von Lobreden auf den Freiherrn und seine Familie über. »Noble Leute!« rief er. »Wenn du gesehen haben wirst diese Baronin, wie sie ist, wenn sie ist in ihrer Spitzenhaube, alles so fein und alles so honett! Zu honett für die Welt, wie diese Welt einmal ist. Die Stücke Zucker sind zu groß, und der Wein, den man bei Tische trinkt, ist zu teuer, aber es ist ihre Qualität, es steht ihnen gut.«
»Fräulein Lenore soll eine große Schönheit sein«, fragte Bernhard. »Ist sie so stolz, wie junge Damen von ihrem Stande zu sein pflegen?« – Mein armer Bernhard kannte nicht viele junge Damen, weder aus diesem noch aus einem andern Stande.
»Sie ist stolz«, sagte der Vater, »aber es ist wahr, sie ist schön. Unter uns gesagt, sie gefällt mir besser als die Rosalie.«
»Ist sie blond?« Herr Ehrenthal dachte nach. – »Was soll sie anders sein als blond oder braun, freilich hat sie blonde Haare. Du kannst dir auch ansehen die Herde auf dem Gute, und vergiß nicht herumzugehen im Park. Sieh dich um, ob du einen Platz findest, wo du gern sitzen möchtest mit deinem Buche.«
Der arglose Bernhard schwieg und sah mit glänzenden Augen auf die dunklen Umrisse des Parks, der am Horizont aufstieg.
Der Wagen hielt vor dem Schlosse. Der Bediente trat an den Schlag. Die Gäste erfuhren, daß der Freiherr in seinem Zimmer und im Augenblick nicht zu sprechen war, das Fräulein aber spazierte im Garten. Ehrenthal schritt um das Haus, Bernhard neugierig hinter ihm her. Über den Grasplatz kam die hohe Gestalt Lenorens langsam auf die Fremden zu. Ehrenthal stellte sich auf, bog seinen linken Arm zu einem Kreis zusammen, steckte seinen Hut hinein und präsentierte: »Mein Sohn Bernhard; dies ist das gnädige Fräulein.« Bernhard verneigte sich tief. Es war nur ein kühler Gruß, den Lenore dem Gelehrten schenkte. »Wenn Sie zu meinem Vater wollen, er ist oben in seinem Zimmer.«
»Ich werde hinaufgehen«, sagte Ehrenthal gehorsam. »Bernhard, du kannst unterdes zurückbleiben bei dem gnädigen Fräulein.«
In dem Zimmer des Freiherrn legte der Händler einige tausend Taler auf den Tisch und sagte: »Hier ist das erste Geld. Und wie wollen der Herr Baron es mit der Sicherheit halten?«
»Nach unserer Verabredung muß ich Ihnen dafür Hypothek auf das Gut geben«, erwiderte der Freiherr.
»Wissen Sie was, Herr Baron, um jedes Tausend Taler, das ich Ihnen zahle, können Sie mir nicht immer bestellen eine Hypothek, das macht viel Kosten und bringt das Gut in schlechtes Renommee. Lassen Sie vom Gericht ausstellen ein Hypothekeninstrument, welches auf eine große Summe lautet, ich will sagen, auf zwanzigtausend Taler. Lassen Sie es ausstellen auf den Namen der gnädigen Frau Baronin, so haben Sie eine Sicherheit, die Sie jeden Tag verkaufen können, und Ihr Gut wird noch nicht belastet durch ein neues Kapital. Und mir geben Sie jedesmal, sooft ich an Sie zahle, einen einfachen Schuldschein, worin Sie mir auf Ihr freiherrliches Wort versichern, daß ich für den Betrag der Summe, die ich Ihnen zahle, ein Anrecht haben soll an diese Hypothek von zwanzigtausend Talern, welche im Hypothekenbuche steht zunächst hinter den Pfandbriefen. Das ist einfach, und es bleibt still zwischen uns beiden. Und wenn Sie keine weiteren Vorschüsse brauchen, dann machen wir die Sache vor dem Notar. Sie zedieren mir dann die Hypothek selbst, und ich gebe Ihnen Ihre Schuldscheine zurück und zahle Ihnen nach, wenn noch etwas fehlt an den zwanzigtausend Talern. Ich verlange nichts von Ihnen als Ihr Ehrenwort auf einem Blatt Papier, welches nicht größer ist als dieses Schnitzel. Und wenn das Gericht Ihnen ausgefertigt hat das Hypothekeninstrument von zwanzigtausend Talern, so wäre mir’s lieb, wenn Sie’s wollten aufheben in meinem Hause.«
Als der Freiherr bei der letzten Bedingung unwillig aufsah, legte Ehrenthal seine Hand auf den Arm des Herrn und sagte vertraulich: »Seien Sie ruhig, Herr Baron; dagegen, daß ich selbst aufheben will das Hypothekeninstrument, dürfen Sie nichts einwenden. Ich kann keinen Mißbrauch damit treiben, und es ist mir eine Beruhigung. Jeder Jurist wird Ihnen sagen, daß ich in diesen Sachen gegen Sie verfahre, wie es selten vorkommt im Geschäft. Oft wird ein Wort gebrochen, das einer dem andern gegeben hat, aber wenn es etwas gibt, was fest ist auf dieser Welt, so ist es für mich, wenn Sie mir geben Ihr Ehrenwort. Ist es nicht geschäftlich, Herr Baron, daß ich so denke, so ist es doch freundschaftlich.«
Ehrenthal sagte das mit einem Ausdruck von Herzlichkeit, der nicht ganz erlogen war. Was er anbot, zeigte in der Tat großes Vertrauen. Nach vielen Beratungen mit Veitel Itzig war er auf diese Maßregel gekommen. Er wußte, daß der Freiherr außer den zwanzigtausend Talern noch manches andere Kapital für die Fabrik brauchen würde. Es lag im Interesse auch des Händlers, daß der Freiherr noch andere Summen ohne Schwierigkeit erhielt. Und er traute dem Edelmann; er, der durchtriebene Schelm, hatte einen festen Glauben an den adligen Sinn des andern. Auch wenn ihn Itzig nicht unaufhörlich auf den ehrenwerten Charakter des Gutsherrn aufmerksam gemacht hätte, er würde ihm nichts Unehrliches zugetraut haben. Was von achtungsvoller Zuneigung in seiner Seele noch Raum hatte, das war dem Freiherrn zuteil geworden. Der Herr war seit langer Zeit der Gegenstand seiner Sorge, seiner Arbeit, seiner eifersüchtigen Wachsamkeit. Er war dem Schurken geworden, was dem Landwirt sein Acker, der Hausfrau ihr Lieblingstier ist. Es war ein allerliebster kleiner Teil von gemütlicher Zuneigung in dem Verhältnis. Auch die Hausfrau vertritt eifrig die Tugenden ihres vierbeinigen Pfleglings, sie betrachtet ihn mit Freude und findet sein Temperament ungewöhnlich sanft. Sie ist geneigt, ihren Liebling für das vortrefflichste Stück seiner Art zu halten, und wenn der Schlachttag kommt, vergießt sie vielleicht eine Träne. Aber beim heiligen Antonius! So leid es ihr auch tut, sie wird das arme Ding doch schlachten.
Unterdes sagte unten Lenore zu Bernhard: »Ist Ihnen gefällig, in den Park zu gehen?« Bernhard folgte schweigend und sah scheu auf die Aristokratin, welche ihren Kopf trotzig in die Höhe warf und wenig von seiner Anwesenheit erbaut schien. An dem grünen Platz, der einst Anton so entzückt hatte, blieb sie stehen und wies auf den Kiesweg. »Dort hinab geht es zum See und hier weiter hinein in den Garten.« Sie erhob die Hand zu einer verabschiedenden Bewegung. Bernhard aber sah staunend auf den Platz, auf die Türmchen des Schlosses, die Schlingpflanzen des Balkons und rief: »Das hab’ ich schon einmal gesehen, und ich bin doch nie hier gewesen.«
Lenore blieb stehen: »Das Haus ist nicht nach der Stadt gekommen, soviel ich weiß; es mag wohl andere geben, die ähnlich aussehen.«
»Nein«, erwiderte Bernhard sich besinnend, »ich habe das Schloß auf einer Zeichnung im Zimmer meines Freundes gesehen. Er muß Sie kennen«, rief er freudig, »und er hat mir doch nie etwas davon gesagt.«
»Wie heißt dieser Herr, der Ihr Freund ist?«
»Es ist ein Herr Wohlfart.«
Das Fräulein wandte sich lebhaft zu dem Gelehrten: »Wohlfart? Ein Kaufmann bei T. O. Schröter, Kolonialwaren und Produkte? Ist’s dieser Herr? – Und dieser Herr ist Ihr Freund? Wie kommen Sie zu dieser Bekanntschaft?« fragte sie streng und stellte sich vor Bernhard auf, die Hände auf dem Rücken wie ein Lehrer, der einen kleinen Dieb wegen gestohlener Apfel ins Verhör nimmt.
Bernhard erzählte, wie er Anton kennengelernt hatte und wie lieb ihm der tüchtige Freund geworden war. Darüber verlor er etwas von seiner Befangenheit und das Fräulein viel von ihrer Strenge.
»Ja, wenn Sie so sind«, sagte Lenore noch immer verwundert. »Also wie geht es Herrn Wohlfart? Erzählen Sie geschwind, wie sieht er aus, ist er lustig? Er hat wohl recht viel zu tun?«
Bernhard erzählte, er wurde immer beredter. Lenore setzte sich in die Rosenlaube und winkte ihm herablassend, gegenüber Platz zu nehmen. Als er geendet hatte, sagte sie freundlich: »Wenn Herr Wohlfart Ihr Freund ist, so gratuliere ich Ihnen, er ist ein guter Mensch; ich will hoffen, daß Sie das auch sind.«
Bernhard lächelte: »Unter meinen Büchern habe ich nur wenig Gelegenheit, meinen guten Willen dafür zu erweisen. Ich lebe still vor mich hin und zirpe wie eine Grille; in dem Treiben der Welt komme ich mir oft recht unnütz vor.«
»Das viele Studieren wäre nicht meine Sache«, erwiderte Lenore. »Man sieht Ihnen auch an, daß Sie wenig in der freien Luft leben. Kommen Sie, mein Herr, ich werde Sie herumführen. So setzen Sie doch Ihren Hut auf!«
Der Bediente trat mit dem Teebrett aus der Halle. Lenore winkte ihm und sah wohlwollend zu, als Bernhard den heißen Trank so eilig einschlürfte wie ein Ritter seinen Steigbügeltrunk. »Verbrennen Sie sich nicht«, ermahnte sie.
Sie führte ihn durch den Park, wie sie einst Anton geleitet hatte. Bernhard war ein Sohn der großen Stadt. Nicht die hohen Baumkronen, nicht die blühenden Beete im grünen Rasen, auch nicht die Türmchen des Herrenhauses waren ihm etwas Ungewöhnliches, sein Auge hing nur an dem Fräulein. Es war ein klarer Abend im September. Das Sonnenlicht fiel schräg durch das Laub, der Kiesweg war gefleckt von gelben Lichtern und dunkeln Schlagschatten. Sooft ein Sonnenstrahl durch die Blätter auf Lenorens Haupt schoß, glänzte ihr Haar wie Gold. Das stolze Auge, der feine Mund, die schlanken Glieder des kräftigen Mädchens nahmen die Empfindungen des Gelehrten gefangen. Sie lachte und zeigte die weißen kleinen Zähne, und er war entzückt; sie brach einen Zweig ab und schlug damit an die Büsche am Wege, und ihm war, als neigten sich die Zweige und Blätter vor ihr auf den Boden.
Sie kamen zu der Brücke, welche am Ende des Parks nach dem Feld führte. Einige Mädchen liefen an Lenore heran, knicksten und küßten ihr die Hände, sie nahm diese Huldigung der Untertanen wie eine Königin hin. Zwei kleine Dirnen hatten die hohlen Stengel des Löwenzahns in Kettenglieder zusammengebogen und eine lange Kette daraus gemacht, sie stellten sich verschämt vor Bernhard in den Weg und hielten ihm die Kette vor.
»Hinweg, ihr unartiges Volk!« rief Lenore. »Wie könnt ihr uns den Weg versperren, der Herr kommt ja aus dem Schloß. – Sie lernen dies Wegelagern von den fremden Arbeitern.« Und Bernhard fühlte mit Stolz, daß er in diesem Augenblicke zu ihr gehörte. Er griff in die Tasche und löste sich von den Mädchen. »Es ist lange her, daß ich eine solche Kette nicht gesehen habe«, sagte er. »Dunkel erinnere ich mich, daß ich als kleiner Knabe auch einmal auf einem grünen Platze saß und die Stiele zusammensteckte.« Er pflückte einige Stengel des Löwenzahns und versuchte die Kinderarbeit.
»Haben die gelehrten Herren auch an solchen Spielen Freude?« fragte Lenore lächelnd.
»O ja«, erwiderte Bernhard. »Ich habe auch die spitzen Blüten von Akelei und Rittersporn zu runden Kränzen ineinandergesteckt und in meinen Büchern gepreßt, dann trocknete ich Blätter und ganze Blumen, dann legte ich ein Herbarium an. Was uns als Erwachsene interessiert, das knüpft sich häufig an eine kleine Freude der Kinderzeit. Aus dem Kind, das zufällig einige bunte Kristalle in die Hand bekam, wird vielleicht ein Mineraloge, und schon mehr als ein berühmter Reisender ist durch Robinson Crusoe zu seinen Entdeckungen gekommen. Es ist immer eine Freude, zu erfahren, wie ein bedeutender Mann das gefunden hat, was seine Seele erfüllt.«
»Wir Frauen sehen das ganze Leben hindurch die Natur an wie die Kinder«, sagte Lenore, »wir spielen mit den glänzenden Steinen und Blüten noch in unsern alten Tagen, gerade so wie die Mädchen vor uns. Und die Kunst ist so gefällig, uns Blumen und Steine nachzumachen, damit wir nur niemals das Spielzeug entbehren. – Wenn Sie so gut mit den Kinderspielen Bescheid wissen, dort ist etwas für Sie«, sie wies auf einen großen Klettenstrauch am Wege. »Haben Sie sich jemals eine Mütze aus Kletten gemacht?«
»Nein«, antwortete Bernhard mit bangen Ahnungen.
»Sie sollen sogleich eine haben«, entschied Lenore. Sie gingen zu dem Klettenstrauch. Bernhard pflückte die runden Köpfe ab und reichte ihr einige Hände voll hin. Sie nestelte die Kletten aneinander und machte eine Kappe mit zwei kleinen Hörnern daraus. »Das können Sie aufsetzen«, sagte sie gnädig.
Bernhard hielt das kleine Monstrum in der Hand. »Allein wage ich’s nicht«, versetzte er, »die Vögel auf den Bäumen würden mich zu sehr anschreien. Wenn Sie auch eine Haube aufsetzen wollten –«
»Kletten können Sie nicht verlangen«, erwiderte Lenore, »aber Sie sollen den Willen haben. Kommen Sie zurück, ich zeige Ihnen, wie wir als Mädchen unsere Mützen gemacht haben.« Sie führte ihn an eine Stelle, wo eine Gruppe Sonnenrosen mit schwarzen Gesichtern und gelben Strahlen am Rande des Gebüsches stand. Dort schnitt sie mit einem kleinen Trennmesser einige Blumen ab, durchstach die Stengel und band sie zu einem Helm zusammen, den sie lachend aufsetzte. Es war ein fremdartiger Schmuck, und er gab dem schönen Gesicht ein wildes Aussehen. »Jetzt setzen Sie Ihre Kappe auf«, befahl sie. Bernhard gehorchte, und sein ehrbares, faltiges Gesicht, der schwarze Frack und die weiße Krawatte erschienen unter der Klettenmütze so abenteuerlich, daß Lenore ihr Lachen nicht bekämpfen konnte und vergebens den Mund hinter ihrem Taschentuch verbarg. »Sie sehen schrecklich aus.« Bernhard nahm den Kopfputz sogleich wieder ab. »Kommen Sie zum Wasser, dort sollen Sie Ihr Spiegelbild sehen.«
Sie geleitete ihn zu der Stätte, wo der Grund des Fabrikgebäudes ausgegraben wurde. Es war ein wüster Platz. Erdhaufen, einige tausend Ziegel, Baumstämme und Balken waren zusammengefahren. Die Arbeiter hatten Feierabend gemacht und den Platz verlassen, nur einige Kinder aus dem Dorfe kauerten unter dem Holz und sammelten die Späne zum Abendfeuer. Wenige Schritte hinter der Baustelle zog sich eine Bucht des Sees heran, durch Gebüsch eingefaßt und mit grünen Wasserlinsen überdeckt. »Wie wüst es hier aussieht«, klagte Lenore, »die Zweige der Sträucher sind geknickt, auch die Bäume sind beschädigt. Das alles macht der Bau. Wir kommen der fremden Arbeiter wegen jetzt nur selten hierher. Auch die Kinder vom Dorfe sind dreist geworden, sie haben hier einen Spielplatz aufgeschlagen, und es ist ihnen gar nicht zu wehren.«
In dem Augenblick fuhr ein Kahn hinter dem Vorsprung des Gehölzes hervor. Ein kleines Bauernmädchen, ein pausbäckiges, rundes Ding, stand darin und wankte ängstlich bei der raschen Bewegung des Kahnes, den ihr älterer Bruder mit einer Stange vom Ufer abstieß. »Sehen Sie«, rief Lenore ärgerlich, »die Krabben haben auch unsern Kahn genommen. Wollt ihr sogleich ans Land!« Die Kinder erschraken über den Zuruf, dem Knaben fiel die Stange ins Wasser, das kleine Mädchen schwankte in der Angst des bösen Gewissens an den Rand des Kahnes, sie verlor das Gleichgewicht und sank in den Teich. Der Knabe trieb hilflos mitten in der Bucht. Ein lauter Schrei vom Ufer und aus seiner Kehle folgte dem Fall der Kleinen. »Retten Sie das Kind!« rief Lenore außer sich. Bernhard lief gehorsam in den See, ohne daran zu denken, daß er nicht schwimmen konnte, er watete einige Schritte vor und stand gleich darauf bis unter die Arme in Schlamm und Wasser. Er streckte die Hände nach der Stelle aus, wo das Kind versunken war, aber der Punkt war noch einige Klafter von ihm entfernt. Unterdes war Lenore schnell wie der Blitz hinter einen Strauch gesprungen. Nach wenigen Augenblicken trat sie hervor und eilte an einen Vorsprung des Ufers. Aus der Tiefe der grünen Wasserlinsen sah Bernhard mit Entsetzen und Wonne auf die hohe Gestalt. Noch haftete die phantastische Blumenkrone auf ihrem Haupt, das luftige Kleid flog jetzt in leichten Falten an ihrem Leib herunter, aus dem entschlossenen Gesicht starrten die Augen nach der Stelle, wo der Rock des Kindes wieder sichtbar wurde. Sie erhob die Arme hoch über das Haupt und stürzte sich mit einem Sprunge in den See. Der Kranz fiel von ihrem Haupt, in langen Stößen schwamm sie auf das Kind zu. Sie faßte den Rock, noch zweimal griff sie mit der freien Hand aus und hatte den Kahn erreicht. Sie hielt sich daran fest und spannte alle Kräfte an, das Kind hineinzuheben, sie faßte die Kette des Kahns und zog ihn hinter sich an das Land. Bernhard, der bleich wie der Tod ihrer Anstrengung zugesehen hatte, kämpfte sich an das Ufer zurück, er reichte ihr helfend die Hand und packte den Kahn, Lenore ergriff das bewußtlose Kind, Bernhard hob den Knaben an das Ufer, und vorwärts eilten beide zu der nahen Gärtnerwohnung. Der Knabe lief mit gellendem Geschrei hinter ihnen her. Das nasse Gewand legte sich dicht an Lenorens Leib, die schönen Formen des Körpers wurden in der raschen Bewegung dem Auge ihres Begleiters fast unverhüllt sichtbar. Sie achtete nicht darauf. Bernhard drang mit ihr in die Stube des Gärtners, aber Lenore trieb ihn hastig wieder hinaus. Mit Hilfe der erschrockenen Gärtnersfrau entkleidete sie das Kind und suchte das bewußtlose durch Reiben ins Leben zurückzubringen. Unterdes lehnte Bernhard draußen an der Tür vor Kälte klappernd und in einer Aufregung, welche seine Augen glühen machte wie Kohlen. »Lebt das Kind?« rief er durch die Tür.
»Es lebt«, rief Lenore vom Bett zurück.
»Gelobt sei Gott!« rief Bernhard und schlug die Hände zusammen; aber der Gott, an den er in diesem Augenblick dachte, war das schöne Weib da drin, von dessen Reizen sein Auge mehr gesehen hatte als irgendein anderer Mann. Lange stand er so, schaudernd und vor sich hinträumend, bis eine hohe Gestalt in wollenem Rock und Mieder aus dem Hause trat. Es war Lenore in den Kleidern der Gärtnerin, noch ergriffen von der Anstrengung, aber mit einem fröhlichen Lachen auf den Lippen. Außer sich griff Bernhard in stürmischer Bewegung nach ihrer Hand und küßte sie mehr als einmal, er hätte vor ihr auf die Knie sinken mögen.
»Sie sehen schön aus, mein Herr«, sagte Lenore heiter, »Sie werden sich erkälten.«
Er stand vor ihr, naß, am ganzen Körper triefend, mit Wasserlinsen und Schlamm überzogen. »Ich fühle nichts von Kälte«, rief er, aber seine Glieder schütterten.
»Schnell in das Haus«, trieb Lenore. Sie öffnete die Tür und rief der Frau zu: »Geben Sie dem Herrn Kleider des Gärtners zum Wechsel. – Dort in der Kammer machen Sie Ihre Toilette.«
Bernhard lief nach der Kammer, die Gärtnersfrau trug ihm herzu, was sie von Kleidern in der Eile fand. Nach einer Weile trat er, in einen Bauernburschen verwandelt, vor das Haus, wo Lenore in der Abendsonne mit schnellen Schritten auf und ab ging. »Kommen Sie nach dem Schloß«, sagte das Fräulein, welches wieder eine ruhige Gönnermiene angenommen hatte.
»Noch einmal möchte ich das Kind sehen«, bat Bernhard. Sie traten an das Bett, auf welchem das Mädchen lag, mit müden Augen sah die Kleine auf das faltige Gesicht des Mannes, der sich über das Lager beugte und ihr die Stirn küßte. »Es ist das Kind eines Tagelöhners aus dem Dorfe«, sagte die Frau. Bernhard legte hinter Lenorens Rücken seine Börse auf das Bett.
Eilig schritten Lenore und Bernhard dem Schlosse zu, wo Ehrenthal auf seinem Wagen ungeduldig die Rückkunft des Sohnes erwartete und mit maßlosem Erstaunen in dem Gärtnerburschen seinen Bernhard erkannte.
»Geben Sie dem Herrn einen Mantel«, befahl Lenore dem Bedienten, »er friert. Wickeln Sie sich gut ein, Sie könnten sonst lange an Ihren Marsch unter die Wasserlinsen denken.«
Und Bernhard dachte lange daran. Er hüllte sich in den Mantel und drückte sich in eine Ecke des Wagens, dem kalten Bad folgte brennende Hitze, stürmisch rollte sein Blut durch die Adern. Er hatte das schönste Weib der Welt gesehen, er hatte etwas erlebt, was für ihn größer und hinreißender war als jeder Dichtertraum in seinen Pergamenten. Mit Scham dachte er daran, wie unbehilflich er selbst gewesen war, und wie von seinem tiefen Stand im Wasser sah er zu der Heldin auf, welche so entschlossen und stark geholfen hatte. Nur kurze Antworten vermochte er auf die Fragen seines Vaters zu geben. So saßen Vater und Sohn nebeneinander, kalte Arglist und die Glut der Leidenschaft. Beide hatten auf dieser Fahrt erreicht, wonach sich ihr Herz so lange gesehnt, der Vater ein Anrecht auf das schöne Gut, der Sohn ein Abenteuer, das seinem Leben neuen Inhalt gab.
Auf dem Gute stieg das Fabrikgebäude langsam in die Höhe, in dem Geldschrank Ehrenthals füllte sich die Kassette des Freiherrn mit seinen Schuldverschreibungen und dem neuen Hypothekeninstrument, und während Bernhards zarter Leib an den Folgen des kalten Bades kränkelte, berauschte sich seine Seele an süßen Phantasien.