Читать книгу: «Der Säbeltänzer», страница 6

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12. Weihnacht

"Guten Tag. Wachtmeister Bebenroth, Ihre Ausweispapiere bitte.", grüßte einer der beiden Transportpolizisten korrekt, aber bestimmt. Rosana und Atsche saßen sich im Zug nach Schnelleben gegenüber. Der Personenzug fuhr Richtung Staatsgrenze: Grund genug, Personen, die womöglich etwas weiter als erlaubt gen Westen fahren wollten, schon hier im Vorfeld auszusortieren. Diese Kontrollen hatten zwar Stichprobencharakter, dennoch stachen sie Atsche mit seinen langen Haaren, Lodenmantel und Rucksack ausnahmslos jedes Mal. Selbstredend galt die Aufforderung der Trapo[4] auch für eine so auffällig undeutsche Erscheinung wie Rosana, obwohl man gerade bei ihr mit großer Sicherheit davon ausgehen konnte, dass Republikflucht für sie kaum in Frage kam. Aber auch Polizisten sind nur Menschen und es war wohl eher Neugier, die sie dazu bewog, ihren tristen Alltag mit der Kontrolle einer karibischen Grazie etwas aufzulockern.

"Wohin fahren Sie?", wollte der Trappist, der in Atsches Personalausweis blätterte, wissen.

"Ich wohne in Schnelleben."

"Das war nicht meine Frage, Herr Wagner. Ich sehe hier, wo sie wohnen. Wohin fahren Sie und was haben sie vor?", wie oft schon hatte Atsche bei derartigen Gelegenheiten mit ansehen müssen, wie meist junge Leute nach einem kurzen Dialog von den Beamten zu einem etwas peinlicheren Verhör mitgenommen wurden, nur weil sie ihre Anwesenheit in diesem öffentlichen Verkehrsmittel mit legalem Reiseziel und ordnungsgemäßem Fahrschein nicht plausibel oder schnell genug hatten begründen können.

"Ich fahre über die Weihnachtstage zu meinen Eltern.", Atsche klemmte sich jede Art unnötiger Kommentare. Der Wachtmeister gab Atsche seinen Ausweis zurück.

"Also das heißt: WIR fahren zu meinen Eltern, wir gehören zusammen.", fügte Atsche mit Blick auf Rosana hinzu. 'Wir gehören zusammen', wie eigenartig das klang, hier in Gegenwart der Ordnungshüter bekam es einen fast offiziellen Charakter, der Atsche nicht missfiel. Der Herr in seiner dunkelblauen Uniform vertiefte sich in das Studium von Rosanas rotbraunem Reisepass, ein Dokument, das ihm offenbar eher selten zwischen die Finger kam. Dieses 'wir gehören zusammen' musste auch dem Wachtmeister verdächtig erscheinen.

"Woher kennen sie sich?"

"Wir studieren zusammen, in Neustadt an der Plage.", stellte Rosana klar.

"Fräulein Navarro. Aus Kolumbien also.", wählte der Beamte zielsicher den falschen der beiden möglichen Nachnamen. "Fahren Sie das erste Mal nach Schnelleben?"

"Ja. Richard sagt, es ist hässlich. Das glaube ich nicht, er übertreibt immer."

"Nun ja, es ist nicht unbedingt eine Gegend, in der man Urlaub machen möchte. Jedenfalls ist es ein wenig schade, dass zum Fest wieder kein Schnee liegt."

"Ach, bei mir zu Hause liegt nie Schnee."

"Dann verbringen Sie also das Fest bei Wagners?"

"Es ist mein erstes Weihnachtsfest mit einer deutschen Familie."

"Und freuen Sie sich darauf?"

"Ja, sehr. Wie sollte ich mich nicht freuen? Und wie ist es mit Ihnen? Sind Sie heute Abend bei Ihrer Familie?"

"Oh nein, in diesem Jahr leider nicht, mein Dienst geht noch eine Weile. Nächstes Jahr wieder, wir wechseln uns immer ab."

"Das ist schade. Es tut mir leid für Sie."

"Auch daran gewöhnt man sich. Also dann, Ihnen ein Frohes Fest.", er hob lässig den Finger an den Rand seiner Mütze und gab Rosana ihren Pass zurück.

Atsche war immer noch von der Tatsache überrascht, dass er hier mit Rosana im Zug nach Schnelleben saß. Er hatte das weder geplant noch gehofft, es wäre auch übertrieben zu sagen: Nicht zu hoffen gewagt - diese Möglichkeit war in seinen Gedankenspielen glattweg nicht vorgekommen, weil gleich mehrere Umstände diese Idee erst gar nicht aufkommen ließen: Rosanas Freund Ricardo; das hermetisch abgeschlossene Weihnachtszeremoniell in Atsches Elternhaus, in dem fremde Eindringlinge schwer vorstellbar waren, sowie seine nicht ganz unbegründete Ahnung, dass Rosana sich grundsätzlich schwer damit tat, ein paar Tage allein mit ihm zu verbringen. Doch nachdem Rosana vor ein paar Tagen wie beiläufig erwähnt hatte, dass Ricardo zu den Feiertagen nicht in Europa sein würde, fielen die restlichen Hindernisse wie Dominosteine. Atsche rief seine Mutter von einer Telefonzelle aus an, wie erwartet war sie anfangs etwas distanziert, aber der Gedanke an das junge Mädchen, das buchstäblich mutterseelenallein und fernab von seiner Familie die Feiertage in einem schmucklosen Wohnheim verbringen sollte, weckte das Mitleid in ihr und sie sagte zu, als wäre es das Selbstverständlichste überhaupt.

Der winzige Bahnhof von Schnelleben lag einsam mitten in einer baumlosen Pampa, eher eine Haltestelle - und als solche nur durch ein winziges Wärterhäuschen zu erkennen. Besonders im Sommer nach der Ernte, wenn die Weizenstoppel die Farbe von verdorrtem Präriegras hatten, hätte er von Ferne an einen Wild-West-Bahnhof erinnert, wären da nicht die rot-weißen Schranken, die immer mit der Handkurbel und "bimm-bimm-bimm", lange bevor ein Zug nahte, herunter- und danach wieder hochgedreht wurden.

Atsche und Rosana waren die Einzigen, die hier ausstiegen. Am Vormittag des Heiligen Abends gab es normalerweise immer einige Nachzügler, die ihre Geschenke auf den letzten Drücker in der Stadt kauften, aber heute war Sonntag und alle Geschäfte hatten geschlossen. Schnelleben war von hier aus nicht zu sehen, eine leichte Erhebung verbarg den Blick auf das Dorf. Vor ihnen lag eine halbe Stunde Fußweg auf einer alten, mit Kopfsteinen gepflasterten Landstraße, umgeben nur von kahlem Acker. Wie oft war er diesen Weg schon gegangen? Sicher einige hundert Male und immer zu Fuß, bei jedem Wetter. Ein Atlantiktief machte seinem Namen alle Ehre und schickte abrupte Windböen mit eingestreuten Nieselschauern über die Ebene. Ein unvoreingenommener Beobachter hätte erwartet, dass Atsches Vater die beiden Ankömmlinge bei diesem ungemütlichen Wetter mit dem Auto vom Bahnhof abholen würde, insbesondere da bekannt war, dass Atsche mit Begleitung aus Übersee anreiste. Es wäre ein Leichtes gewesen und es hätte sie in wenigen Minuten und trocken nach Hause gebracht. Aber ein Ufo, das am Bahnhof auf sie wartet, wäre um etliches wahrscheinlicher gewesen, als dass Wagners Auto auch nur ein einziges Mal für das Bringen oder Abholen vom Bahnhof missbraucht werden würde. Und weil Atsche auch Rosana für unvoreingenommen hielt, versuchte er ihr beiläufig klarzumachen, dass dieser Brauch der Eingeborenen weder eine Unhöflichkeit noch eine bewusste Demonstration des Missfallens über den angekündigten Besuch darstellte.

Schnelleben war in Atsches Kindheit der schönste Ort der Welt gewesen. Jetzt mit den Augen eines Erwachsenen sah er nur ein schmutziges Kaff in einer öden Agrarlandschaft, das für ihn dennoch einen herben Charme atmete. Als erstes Anzeichen des Ortes erschienen am Horizont die Spitzen sauber aufgereihter Napoleonpappeln.

"Siehst du die Bäume da hinten? Dort ist der Sportplatz, genauer gesagt Fußballplatz, anderen Sport gibt es hier nicht."

"Na, dann weiß ich ja, warum du so gern Fußball spielst."

"Eben nicht. Ein einziges Punktspiel habe ich für die Jugendmannschaft gemacht, das haben wir glatt verloren. Dann hat es mir auch schon wieder gereicht, alle haben sich nur gestritten.", wenn Atsche an dem Fußballplatz vorbeikam, musste er oft an Opa Arnold denken. Womöglich trug Atsche ein nebelhaft verklärtes Bild von Opa Arnold in Kopf und Herzen, weil dieser starb, als Atsche gerade zehn Jahre alt war. Andererseits gab es untrügliche Hinweise, dass Opa Arnold tatsächlich der wunderbare Mensch gewesen ist, den Atsche in Erinnerung hatte. Der Opa zog Atsche, vor ihm knieend, morgens vor dem Kindergarten immer die Strümpfe an, obwohl Atsche das längst selbst hätte tun können - und was noch wichtiger war: immer den rechten Strumpf auf den rechten Fuß und den linken Strumpf auf den linken Fuß. Wie es schien, waren die beiden die Einzigen auf dieser Welt, denen bewusst war, dass sich linke und rechte Strümpfe unterschieden und denen dieses Detail wichtig war. Opa Arnold, der immer die tollsten Geschichten zu erzählen wusste: Von nachtragenden Elefanten, verschlagenen Katzen, Schlangen in einer Hutschachtel, den geheimnisvollen Rittern des Nebels, riesigen Elchen, Krähenfang in Ostpreußen, versunkenen Schiffen, Bärenfallen und abgestürzten Bombern - sie waren aufregender als jedes Märchenbuch, weil Opa Arnold sie alle selbst erlebt hatte. Zumindest hatte er sie sich verdammt gut ausgedacht, erstunken und erlogen. Zu großen Heldentaten war Opa Arnold nicht mehr in der Lage. Wegen einer Verletzung aus dem Ersten Weltkrieg invalidisiert, musste er zwar nicht in den Zweiten der beiden großen Kriege ziehen, aber die Wehrmacht hatte noch in Ostpreußen seine beiden Pferde konfisziert. Er, der nicht ohne Stützkorsett laufen und den rechten Arm kaum bewegen konnte, war damit praktisch mittellos geworden. Nach der Flucht mit seiner großen Familie in Schnelleben gestrandet, blieb ihm nichts anderes, als sich mit einer kümmerlichen Rente, etwas Gartenarbeit und Kaninchenzucht über Wasser zu halten. Opa Arnold interessierte sich nicht für Fußball, wohl aber für die Zuschauerzahlen bei den hiesigen Fußballspielen und das Wetter dabei. Die Heimspiele der ersten und zweiten Fußballmannschaft von "Traktor Schnelleben" wechselten sich jeweils ab. Ein Umstand, der für Opa nur insofern Bedeutung hatte, als dass dadurch an jedem Wochenende ein Punktspiel auf dem Sportplatz stattfand und zu den Spielen der ersten Mannschaft deutlich mehr Zuschauer kamen. So nahm er denn an jedem Sonntag nach Spielende den kleinen Atsche bei der Hand und spazierte mit ihm den langen Weg zum Sportplatz am anderen Ende des Ortes. Auf ihrem Weg dorthin kamen ihnen Zuschauer und Spieler entgegen, die je nach Veranlagung, Spielausgang oder häuslichem Durchsetzungsvermögen Richtung Dorfkneipe gingen oder einfach nach Hause mussten. Wenn Opa Arnold und Atsche auf dem Fußballplatz eintrafen, war dieser menschenleer und die Ernte konnte beginnen. Ihr Begehr waren die vielen Zigarettenkippen am Spielfeldrand, die die Zuschauer während des Spiels weggeworfen hatten. Und es gab kaum einen, der nicht rauchte. Die Kippen wurden feinsäuberlich aufgesammelt und in einer Tüte verstaut. Atsche, mit seinen noch guten Augen und seinen kleinen flinken Händen, war dabei eine riesige Hilfe für Opa Arnold - und das gab dem kleinen Jungen das ungewohnte Gefühl von Wichtigkeit. Wieder zu Hause stiegen sie die knarrende Treppe zu Opas geheimnisvoller Dachkammer hinauf, entleerten die Tüte mit den Kippen auf dem Tisch und begannen mit der eigentlichen Arbeit: die Schlechten ins Kröpfchen und die Guten ins Töpfchen. Also, den vorderen Ascheteil der Zigarettenkippen abknipsen und auf den Abfallberg, das Zigarettenpapier abschälen und auf den Abfallberg und den verbliebenen Tabak in eine große Büchse. Filterzigaretten waren unüblich und so blieb von jedem Stummel ein ganzer Zentimeter "reiner" Tabak übrig, vollgesogen mit dem Teer der restlichen Zigarette. Opa Arnold hatte zu wenig Geld, um sich Tabak zu kaufen, und drehte sich seinen Wochenbedarf an Zigaretten aus diesem Gift, das sie jeden Sonntag in mühevoller Kleinarbeit produzierten. Opa Arnold starb viel zu früh an Lungenkrebs und der kleine Atsche hatte unwissend und frohgemut mit an Opas Grab schaufeln dürfen.

Während links von der Straße die Napoleonpappeln wie Soldaten in Reih und Glied den vereinsamten Sportplatz säumten, waren es auf der rechten Seite korrekt geschnittene mannshohe Ligusterhecken, die die Schrebergartenanlage umschlossen, die Wege darin säumten und die einzelnen Parzellen voneinander trennten. Über die Hecken ragten Obstbäume in die Höhe und ab und an das Teerdach einer Gartenlaube. Kein Mensch war um diese Jahreszeit in der Anlage. Die Gärten hielten Winterschlaf, alles war geerntet, die Bäume kahl. Nur ein paar braune Winterbirnen baumelten anachronistisch in den Ästen. Und wie zur Bestätigung, dass der Mensch dieses Territorium kampflos geräumt hatte, rief ein Fasanenhahn aus einer der Parzellen und schlug kurz darauf weit hörbar mit den Flügeln. So still und wenig einladend die Anlage jetzt wirkte, so lebhaft waren Atsches Erinnerungen an die vielen Tage, die er hier in den wärmeren Jahreszeiten als Kind verbracht hatte. Atsche erzählte Rosana, wie er auf diesen abgeschirmten Wegen Radfahren gelernt, der Oma die frechen Stare aus dem Kirschbaum geschossen, dem Sturzflug der Lerchen zugesehen und bei Tante Anna in der Laube Kaffee getrunken hatte. Und wenn ein Kuckuck aus einer Hecke rief, wusste Atsche, gleich würde Onkel Wilhelm lachend hinter der Ecke hervorkommen, wie immer in dem Glauben, Atsche wäre auf diese Täuschung hereingefallen.

Schnelleben ist ein langgestrecktes Dorf. Vom Bahnhof kommend liegt Atsches Elternhaus genau am anderen Ende des Ortes. Das heißt, sie liefen an den meisten der Häuser vorbei. Es war noch helllichter Tag und so hat das halbe Dorf die beiden gesehen. Atsche musste zugegeben, es verschaffte ihm eine gewisse Befriedigung mit einer fremdländischen Schönheit an seiner Seite hier die Parade abzunehmen. Jetzt war er dem Vater sogar dankbar, dass dieser sie nicht vom Bahnhof abgeholt hatte.

Für Atsche war es heuer nicht irgendeine Weihnacht, es war die erste Weihnacht seiner Studienzeit. Die letzten beiden Jahre hatte er diese Feiertage in der Armeekaserne auf einem Zimmer mit zwölf anderen gemeinen Soldaten abgesessen, "feiern" wäre das falsche Wort, zumal die sonst so lauten und harten Jungs reihum zu heulen anfingen, zumindest diejenigen, die eine Freundin oder Ehefrau daheim sitzen hatten. Atsche weinte in der Kaserne lieber an Sylvester. Als familiäres Ereignis beeindruckte ihn das Weihnachtsfest weniger, aber ihm gefielen die starren Abläufe, die in ihrer Gesetzmäßigkeit dem spanischen Hofzeremoniell in nichts nachstanden. Und würde übermorgen die Welt untergehen, gäbe es heute Abend Kartoffelsalat mit Bockwurst, morgen Pute mit frischem Rosenkohl aus dem Garten, dazu einen selbstgemachten Hagebuttenwein, der einem guten Sherry in nichts nachstand, und zum Kaffee selbstgebackenen Hefekuchen von der Oma. Aus zwei verwahrlosten, staksigen kleinen Fichten würden sie wieder mit Säge und Bohrer einen einzigen passablen Weihnachtsbaum zaubern, die beiden Teckel dürften an diesem einen einzigen Tag im Jahr in die gute Stube und Geschenke gab es um Punkt sechs. Jedes Jahr exakt das Gleiche und das war gut so.

Atsches Eltern waren, wie ihre gesamte Generation, von den Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit geprägt. Wiedererlangter Wohlstand wurde in erster Linie durch viel und gutes Essen und Trinken demonstriert. Ein Mittagessen ohne Vorsuppe und Nachtisch, eine Suppe ohne Fleisch, ein Kaffee ohne Kuchen - undenkbar. Die Organisation von ausgesuchten Speisen und Getränken war allzeit ein Thema, weil es kaum etwas Vernünftiges zu kaufen gab. Bei den Wagners lieferten Garten und Viehzeug die nötigen Rohstoffe, die Jagd feinstes Wildbret. Pflaumenmus wurde selbstgemacht, einmal im Jahr ein Schwein geschlachtet, Wurst und Schinken selbst geräuchert und der Keller stand voll mit Eingewecktem. Beziehungen mussten spielen, um einen guten Cognac und ein trinkbares Pils auf den Tisch stellen zu können. Und so wurde auch und besonders in der Weihnachtszeit aufgetischt, was die vollen Speicher hergaben. Es wurde ein typisches deutsches Weihnachtsfest, genau das wollte Atsche Rosana zeigen.

Am nächsten Morgen, der erste Weihnachtstag, war gesetzmäßig um neun Uhr Frühstückszeit. Atsche hatte auf der Couch in der Großen Stube geschlafen und Rosana sein eigenes Zimmer unter dem Dach überlassen. Er war schon gewaschen, rasiert und gekämmt, aber von Rosana war noch kein Lebenszeichen zu vernehmen gewesen. Er stieg die Treppe zu ihrem Zimmer empor und klopfte an. Keine Antwort. Er öffnete die Tür und als er dahinter hervorlugte, sah Rosana ihn mit geöffneten Augen an.

"Rosa, sonst bist du doch ein Frühaufsteher.", nachdem sie gesehen hatte, dass er es war, ließ sie ihren Kopf wieder auf das Kissen sinken, schloss die Augen und lächelte dabei entspannt.

"Es ist so eine himmlische Ruhe hier."

"Mal abgesehen von den bellenden Hunden, den gurrenden Tauben, den Mardern auf dem Dachboden und den lauten Spatzen auf dem First."

"Aber hier fährt kein Auto, keine Straßenbahn. Man hört keine Nachbarn."

"Also hast du gut geschlafen?", Atsche setzte sich auf die Bettkante.

"Ja, wunderbar."

"Rosa, das Frühstück ist fertig.", sie lächelte versonnen.

"Was ist?"

"Du siehst deinem Vater ähnlich."

"Na dann scheint er wohl mein Vater zu sein."

"Er ist so ein toller Mann! Also wirst du auch so sein wie er, wenn du älter bist!", Atsche war zwar schleierhaft, was ein junges Mädchen an einem so alten Mann, der auf die fünfzig zuging, finden konnte, war aber dennoch geschmeichelt. Und in der Tat, sein Vater war gestern zur Hochform aufgelaufen, wie Atsche ihn selten gesehen hatte.

"Ich weiß nicht, irgendetwas scheint er an dir gefressen zu haben. Ich habe ihn gestern kaum wiedererkannt. Er hat dir sogar Geschichten erzählt, die nicht einmal ich kannte.", Rosana legte ihre Hand auf die seine, dabei rutschte ihre Bettdecke gerade so weit hinab, dass sie die Träger ihres Nachthemdes und ihren Brustansatz freigab.

"Atsche? Weißt du überhaupt, was du für ein schönes Zuhause hast?", bezüglich dieses Themas hatte er eine etwas differenziertere Sichtweise, aber er wollte Rosana gerade jetzt nicht unnötig verwirren.

"Ja, das weiß ich. Es ist eine andere Welt als in Neustadt."

"Ja, eine ganz andere."

"Na komm Kleines. Die unten warten schon."

Atsches Vater hatte einem Bekannten einen Fasan versprochen. Allerdings machten ihm zurzeit seine Knie zu schaffen. So bat er Atsche, ihm heute Vormittag einen Fasan zu schießen. Es wäre toll, wenn Rosana mitkommen könnte, um ihren Weihnachtsausflug damit abzurunden. Aber weder der Vater noch er selbst wussten, ob das mit einer Ausländerin erlaubt wäre. Um möglichen Ärger zu vermeiden, gingen sie vorsorglich davon aus, dass es nicht erlaubt sei, und strichen das Vorhaben. Folglich musste Atsche allein gehen. Er holte die gute Suhler Doppelflinte Kaliber 16 aus dem Waffenschrank, steckte sich eine Handvoll Schrotpatronen 3mm in die Tasche und verabschiedete sich von Rosana.

"Ich mach mich dann auf.", Rosana kam noch mit auf den Hof. Als die Kurzhaarhündin Gilla ihn in Jagdmontur sah, spielte sie im Käfig verrückt. Sie wusste genau: Jetzt geht es los. Atsche ließ sie aus dem Zwinger und sie sprang wie wild um die beiden herum.

"Ich beeile mich, bis nachher.", mit dem Trabbi fuhr Atsche zum Molkenbruch, einem Schilfstreifen entlang eines Baches. Der Besatz an Fasanen war gut und erhielt sich ohne Aussetzungen von selbst. Atsche ging rechts an dem Schilfstreifen entlang und wusste, wenn ein Hahn auffliegt, würde dieser in Richtung Friedhof fliegen, dort war die nächste Deckung. So sehr er sonst diese ursprüngliche Art der Jagd mit dem Hund genoss, so sehr wünschte er jetzt, dass alles schnell vorbei sein würde. Er wollte zurück zu Rosana. Er schickte Gilla ins Schilf und die Hündin durchkämmte es erfahren und systematisch. Auf dem ersten Stück kam wenige Schritte vor ihm ein Hase heraus. Der Bursche hatte heute Glück: Ihm galt diesmal nicht das Interesse. Die Hälfte hatten sie bereits abgesucht. Hoffentlich ist überhaupt ein Fasan drin. Er wollte nicht den ganzen Vormittag vertrödeln. Da, ein gutes Stück weiter im Schilf endlich das typische Geräusch von aufsteigenden Fasanen. Fünf Fasanenhennen flogen auf passable Schussentfernung direkt über ihn hinweg. Aber Hennen waren tabu und so durften auch diese ungeschoren von dannen streichen. Jäger und Hund waren nun am Ende des Schilfstücks angelangt. Gilla kam heraus und sah Atsche fragend an: So ein Mist, das war nichts. Da nahm die Hündin den Kopf hoch. Sie hatte im hohen Riedgras, dass sich an das Schilf anschloss, etwas wahrgenommen. Sie ging mit tiefer Nase suchend ein paar Schritte vorwärts und blieb mit einem Mal wie angewurzelt stehen. Dabei hob sie den linken Vorderlauf - das sichere Zeichen, dass hier ein Stück Wild lag. War es ein Hase oder ein Fasan? Atsche ging vorsichtig darauf zu und als er auf zwei Meter heran war, stob ein Fasanenhahn hoch. Gilla sprang hinterher und wollte ihn fassen, schnappte jedoch nur kurz hinter dem Stoß des Hahnes in die Luft. Atsche riss die Flinte an die Schulter und backte an. Das war noch zu nah. Bei einem Schuss aus dieser Entfernung wäre das Tier Mus gewesen. Er ließ den Hahn zwanzig Meter von sich weg und zog ab - der Fasan fiel wie ein Stein zu Boden und rührte sich nicht mehr. Gilla war sofort bei ihm, nahm ihn in den Fang und kam freudig, mit dem kurzen Schwanz wedelnd, zu Atsche. Sie setzte sich korrekt vor ihm hin und er nahm ihr den Hahn aus dem Fang. Gleich darauf sprang sie fröhlich an ihm hoch. Es war ein stattlicher Hahn, sein Gefieder schimmerte grün: ein Mongole.

Um wenigstens einmal mit Rosana in der Natur zu sein, schlug er ihr einen Spaziergang vor. Sie gingen nebeneinander durch die Wiesen und an einem kleinen Flusslauf unter großen Pappeln entlang.

"Wie hat es dir gefallen?"

"Alles strahlt so eine Ruhe aus. Du bist zu beneiden."

"Na, na."

"Ja, besonders deine Oma. Sie ist so angenehm, eine würdevolle Frau. Sie hat keinen Mann mehr?"

"Nein, er wurde erst im letzten Kriegsjahr eingezogen und ist gleich auf dem Weg an die Ostfront bei einem Bombenangriff auf den Truppentransport umgekommen."

"Das tut mir leid, sie wirkt so lieb und bescheiden."

"Ja, und deswegen glaubt man kaum, was für eine starke Frau sie ist. Sie war dereinst selbst als Flüchtling nach Schnelleben gekommen, sie ist Volksdeutsche aus der Posener Gegend. Als die preußische Provinz Posen nach dem Ersten Weltkrieg an Polen fiel, wurden viele Deutsche enteignet und waren nicht mehr wohl gelitten. Sie hat es dort nicht länger ausgehalten und ist nach Mitteldeutschland gegangen. Das war durchaus nicht gewöhnlich zu dieser Zeit - als junges Mädchen ganz allein. Und kurz vor Ende des Krieges hat sie einen Deserteur der Wehrmacht wochenlang bei sich versteckt. Sie hat den Deserteur nicht gefragt woher, wohin und weshalb. Sie war nicht christlich, aber sie hat es für ihre menschliche Pflicht gehalten, dem verzweifelten jungen Mann zu helfen. Sie gab ihm zu essen, verbrannte seine Uniform und überließ ihm Sachen von ihrem gefallenen Ehemann. Wäre das ruchbar geworden, hätte man sie ebenso erschossen wie den Deserteur. Am Schluss war man nicht mehr zimperlich.", der Weg wurde etwas holprig. Atsche bot Rosana seine Hand als Hilfe an, die sie bereitwillig annahm. Und so gingen sie zeitweise wie ein Paar Hand in Hand, ließen sich aber immer wieder los, sobald der Weg ebener wurde.

"Was für eine Frau! Du musst sehr stolz darauf sein."

"Ja, das bin ich."

"Hast du das deiner Oma auch gesagt?"

"Nein."

"Dann solltest du das tun, oder?"

"Du hast recht, das sollte ich."

"Ich hoffe, du hast diesen Mut geerbt."

"Wer weiß das schon? Und ich bin auch nicht auf alle stolz. Als junger Mensch habe ich meinem Onkel Rainer immer gebannt zugehört, wenn er bei einer Feier und nach ein paar Schnäpsen von seiner Zeit bei der französischen Fremdenlegion in Vietnam erzählt hat. Damals fand ich seine Geschichten toll und konnte von den ganzen Schießereien nicht genug hören. Aus heutiger Sicht wirkt das auf mich nur noch befremdlich. Während andere heilfroh waren, dass der Zweite Weltkrieg vorbei war, ist er freiwillig in den Indochinakrieg gezogen. Er war kein schlechter Kerl, aber als Vorbild taugt er keinen Pfifferling."

Atsche freute sich jetzt schon auf den Rückweg, wenn sie wieder einen der unwegsamen Abschnitte passieren, an denen Rosana seine Hand nehmen würde. Er kam sich wie ein Schuljunge vor, der einen keuschen Spaziergang mit seiner ersten Freundin macht, die er noch nie geküsst hat und in absehbarer Zeit auch nicht küssen würde. Weniger noch: Die "Freundin" wusste noch nicht einmal, dass sie seine Freundin war.

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