Читать книгу: «Der Säbeltänzer», страница 5

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10. Abseilen

Atsche und Seppel hatten zur Abiturzeit im Internat ein Zimmer geteilt. Seppel war von Beginn an ein ganz außergewöhnlicher Junge. Er wechselte täglich Unterwäsche und Oberhemd: ein absolut unüblicher, überflüssiger und daher verpönter Brauch. Zog er sein Hemd aus, knöpfte er es vorher vollständig von oben nach unten auf, während Atsche sich das Hemd über den Kopf zog, ohne einen Knopf mehr, als nötig zu öffnen. Seppel berührte eine Scheibe Brot nur ein einziges Mal mit seinen Händen, wenn er sie sich auf das Frühstückbrett legte. Von da an kamen ausschließlich Messer und Gabel für das Bestreichen, Belegen und Essen des Brotes zum Einsatz. Atsche hegte insgeheim sogar den Verdacht, dass Seppel sich der täglichen Ganzkörperwäsche unterzog. Dafür sprach, dass er sich nach dem Wasserlassen nie die Hände wusch. Das schien im Widerspruch zu seiner pedantischen Grundhaltung zu stehen, und ist nur damit erklärbar, dass er den eigenen Körper für derart steril sauber hielt, dass jede Berührung, wo auch immer, in seinen Augen hygienisch unbedenklich war. Doch damit nicht genug. Während in Atsches Elternhaus einmal in der Woche beim Abendbrot, und nur zum Abendbrot, eine Büchse Fisch redlich unter den Familienangehörigen aufgeteilt wurde ("redlich" bedeutet hier: der Vater mindestens die Hälfte), aß Seppel ohne die geringste Spur eines schlechten Gewissens eine ganze Büchse Fisch ganz allein zum Frühstück auf - eine ganze Büchse Fisch, ganz allein! Nach dem Händewaschen wischte er immer fein säuberlich die Wassertropfen von der Armatur, dachte jetzt schon über eine Rentenzusatzversicherung nach, spielte weder Fußball noch Skat.

Aber vor allem eins konnte Seppel: Organisieren. Es gab nichts, was er nicht besorgen konnte; nichts, was er sich nicht selbst beibrachte, für den seltenen Fall, dass er keine Hilfe von anderer Hand fand. Bat man ihn um ein Gaff zum Hechtangeln, schmiedete er es nicht nur selbst und schweißte den Griff an, sondern empfand es darüber hinaus als seine gebotene Pflicht, es zum Schutz gegen Rost vernickeln zu lassen - VERNICKELN! ... in einem Land, in dem man schon Kopfstände machen musste, um einen Sack Zement oder ein paar rostige Moniereisen zu ergattern.

Seppel wusste Dinge aus völlig nebensächlichen Bereichen, die weiter niemanden juckten, und hielt dies für das Selbstverständlichste der Welt. Ja, Seppel war ein Kopfmensch und das durch und durch. Bei einem Brand in einer Straßenbahn reagierte er vollkommen logisch. Er riss den Nothammer aus der Wand, zertrümmerte damit die Scheibe, zog die Notbremse und half den Insassen hinaus, während alle anderen kopflos Purzelbäume schlugen.

Sie hatten es geschafft: Nach mühsamer Kletterei an der Steilwand standen Seppel, Atsche und Rosana auf dem Gipfel des Falkensteins und genossen den Ausblick. Sie teilten sich ein Stück Schokolade, dass Seppel aus der Tasche zog. Ebenso gut hätte man auf einem gemütlichen Wanderweg hierher gelangen können, aber das war nicht der Sinn ihrer Reise. Weder Rosana noch Atsche waren je geklettert und es gab keinen besseren Kletterführer als Seppel. Er hatte sie in jedem Handgriff, jeder Körperhaltung, in der mentalen Einstellung, in grundlegenden Prinzipien vorab und während des Aufstieges ständig und geduldig unterwiesen. Er war ein Pedant im positiven Sinne und allen voran ein Sicherheitsfanatiker. Seine Gerätschaften waren gepflegt, gut sortiert und auf dem Stand der neuesten Technik. Fiel er beim Klettern einmal ins Seil, wurde es sofort gegen ein neues ausgetauscht. Heute war keiner von ihnen ins Seil gefallen. Man hatte den Eindruck, Seppel könnte sogar einen Rentner in der Wand sicher nach oben bringen. Selbst in einem Kamin, in dem man sich ohne Sicherung nur mit dem Rücken an die eine und den Füßen an die gegenüberliegende Wand gedrückt, zentimeterweise nach oben stemmen musste, verspürte man in seinem Beisein keinerlei Beklemmungen. Bis jetzt.

"So Kinder, nun geht es wieder zurück."

"Den Wanderweg?"

"Wir seilen uns ab."

"Was, da runter?"

"Sonst wäre es kein Abseilen. Rosa, du gehst zuerst.", in aller Ruhe knotete er an Rosanas Körper aus dem Seil eine Art Tragegestell und legte ihr die beiden Enden in die Hand. Sie erhielt eine lange Unterweisung in der Handhabung. Obwohl Atsche wusste, dass er exakt die gleichen Instruktionen selbst bekommen würde, hörte er konzentriert hin, als hinge sein Leben von dem zweimal gesagten ab.

"Rosa, es kann überhaupt nichts passieren. Wenn du eine Pause brauchst, halt einfach beide Seile in der Hand zusammen und wenn du denkst, es kann weiter gehen, gibst du wieder etwas Seil. Du hast alle Zeit der Welt. Alles klar?"

"Ja, ist klar.", sie traten an den Überhang, dahinter war nichts, dreißig Meter freier Fall.

"Ich sichere dich von hier und du gehst langsam rückwärts.", Rosana ging wie ihr befohlen rückwärts in eine Leere, die sie nicht sehen konnte. Zu Atsches Erschrecken ließ sie dabei eine Hand los und winkte ihnen lächelnd zu.

"Bis gleich.", dann ging sie Schritt für Schritt, den Abgrund im Rücken, nach hinten - und hing frei, so wenigstens vermutete Atsche, da er sie nicht mehr sehen konnte. Nach einigen Minuten lockerte sich das Seil in Seppels Hand wieder: das Zeichen, dass Rosana unten angekommen war. Nun war Atsche an der Reihe. Offensichtlich war die Sache doch nicht weiter kompliziert. Er wurde eingeknotet, von Seppel gesichert und bewegte sich rücklings in Richtung des Nichts. Nachdem er die überstehende Felsnase passiert hatte, fanden seine Füße keinen Halt mehr, er rutschte ab und pendelte gegen den Felsen. Keine Panik, Atsche! Du hängst an einem sicheren Seil, sagte er sich. Ja, aber das sichere Seil hielt er in seiner unsicheren Hand. Nur mit dieser Hand regulierte er, ob es weiter ging oder nicht. Etwas lockerlassen, hieß weiter hinab, festhalten hieß Stopp. Würde er die Hand nur ein Stück zu weit aufmachen, würde er im Hinabrauschen die beiden Seile nicht mehr zusammengepresst bekommen, und sich die Innenflächen der Hände verbrennen. Er klammerte sich an der Takelage fest. Nur die Scham vor Rosana gebot es ihn, sich anfangs nur mikrometerweise herabzulassen und erst, als das zu keiner Katastrophe führte, etwas mutiger in einer Geschwindigkeit, die ihn nicht mehr wie ein Hasenfuß dastehen ließ.

Am Abend machten die drei Ausflügler Zwischenstation bei Seppels Eltern. Seppel hatte ihnen seinen Vater als äußert penibel beschrieben, was Atsche mit humorlos übersetzte, dieser aber durchaus nicht war. Ein gesetzter, eloquenter Herr - seine weichen Züge standen im Gegensatz zu Seppels drahtiger Erscheinung. Man hätte ihn für einen Buchhalter oder Uhrmacher gehalten, er war aber Ingenieur, Techniker.

Sie saßen im Wohnzimmer beisammen. Seppels Vaters bot ihnen Cognac an, ein verdammt gutes Zeug, das definitiv nicht auf dieser Seite der Mauer produziert worden war. Er war an Details aus ihrem Leben, an ihren Ansichten und Plänen interessiert. Aus naheliegenden Gründen fragte Seppels Vater vor allem Rosana aus: über die derzeitige Situation in Kolumbien, nach ihrer Meinung zum dort und hier, wie sie sich hier fühlte, was sie über dieses Land dachte, wie sie sich ihre Zukunft vorstellte. Ob aus Höflichkeit oder aus echtem Interesse richtete er immer wieder einmal das Wort an Atsche.

"Atsche. Klaus hat mir erzählt, dass du Jäger bist.", Seppel, mit bürgerlichem Vornamen Klaus, hatte seinen bayrischen Spitznamen wegen seiner Begeisterung für die Bergsteigerei erhalten.

"Ja, aber erst seit zwei Jahren. So viel Erfahrung habe ich noch nicht."

"Weißt du, dass ich auch einmal Jäger war?"

"Nee, das is' ja'n Ding. Davon hat Klaus nie gesprochen."

"Na ja, es war nur kurze Zeit und es ist schon lange her."

"Warum haben Sie aufgehört?"

"Ich konnte toten Rehen nicht in die Augen sehen."

"Ja, die Augen - das ist so eine Sache. Kann ich gut verstehen."

"Soll ich dir von meinem größten Jagderfolg erzählen?"

"Aber unbedingt! Geschichten von älteren Jägern höre ich einfach zu gern. Und man kann auch immer etwas dabei lernen", Atsche rutsche auf seinem Sessel nach vorn und mit dem Cognac-Glas in der Hand lauschte er gespannt wie ein Flitzbogen. Seppels Vater lehnte sich gemütlich zurück und begann:

"Es war ein frostiger Winterabend im Dezember, es lag hoher Schnee, sternenklar und keine Wolke war am Himmel. Am Tag vorher hatte ich mir eine übersichtliche Stelle an einem Berghang ausgesucht und vor einem Baum einen Strohballen positioniert, auf den ich mich am Abend setzen wollte. Erst abends so gegen acht bin ich los. Es war Vollmond und draußen so hell, dass man mitten in der Nacht hätte Zeitung lesen können. Darum dachte ich, es wäre wohl besser, nicht so früh da zu sein. Denn bei der Helligkeit würde sich das Wild unsicher fühlen und erst spät den Schutz des Waldes verlassen. Aber auch das war noch viel zu früh. Um Mitternacht hatte ich immer noch kein einziges Stück Wild gesehen. Und es war bitterkalt. Immer wieder habe ich mit dem Feldstecher die Waldkante abgeglast - nichts, keine Bewegung! Ich dachte mir: Was soll's, man kann nicht immer Glück haben, das ist eben Jagd. Ich also meine Sachen zusammengepackt, bin von meinem Strohballen aufgestanden, habe den Rucksack aufgesetzt und wie zum Abschied nochmal das Glas an die Augen genommen. Und, du ahnst es schon: Am Waldrand im Gegenhang, im Schatten der Randbäume war eine Bewegung gewesen, nur ganz kurz und dann war sie wieder weg. Ich sofort meinen Rucksack runtergeschmissen, mich wieder auf den Strohballen gesetzt und weiter gespannt den Waldrand beobachtet. Und mit einem Mal löst sich ein Schatten vom Waldrand. Ich konnte im Mondschein alles genau erkennen. Es war so viel Platz im ganzen Tal und er hätte sonst wohin laufen können. Und was macht er? Er kommt geradewegs auf mich zu, auf der einen Talseite runter und auf meiner wieder hinauf, genau auf mich zu, in aller Ruhe. Ich also den Drilling in Anschlag gebracht und gewartet, bis er nah genug ist. Ich war total aufgeregt. Jetzt war er schon auf fünfzig Meter ran - und da stoppt er! Er konnte mich nicht gesehen haben: Ich hatte mein Schneehemd an und war perfekt getarnt, eins mit der Natur. Ich behielt den Drilling die ganze Zeit im Anschlag, der Zielstachel stand genau auf Blatt. Aber ich wollte ganz sicher gehen, ich dachte mir: 'Komm Junge, ein paar Schritte noch.', und dann hat er mir auch noch diesen Gefallen getan. Ich drücke ab, BAAUUTZ knallt es - und ich bin vom Rückstoß der Waffe hintenüber vom Strohballen gefallen.", Seppels Vater genehmigte sich genüsslich einen kleinen Schluck Cognac.

"Ja und weiter?", Atsche saß jetzt mit offenem Mund vorn auf der äußersten Kante seines Sessels.

"Ja, ich lag da auf dem Rücken mitten im hohen Schnee. Ich konnte nicht sehen, was passiert war. Ich mich also mühsam wieder aufgerappelt und wie ich aufstehe, sehe ich, was los ist."

"Ja was?"

"Dreißig Meter vor mir im Schnee, da lag er, ... der Hase.", Atsche glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Er hatte einen dicken Hirsch erwartet oder einen alten Keiler, hinter dem Seppels Vater schon lange hinterher war. Atsche wischte sich verwirrt über die Stirn und räusperte sich, um etwas Zeit zu gewinnen.

"Mann, das war eine klasse Geschichte! Herr Stettig, da kann man wirklich nur sagen: Weidmannsheil!", beide nahmen nach Jägersitte ihr Glas von der rechten in die linke Hand und stießen miteinander an.

"Weidmannsdank, Atsche."

Seppels Mutter hatte für Rosana auf der Wohnzimmercouch eine Bettstatt für die Nacht hergerichtet. Atsche schlief auf dem Fußboden. Er hatte das mit der Ausrede, sich schon auf das Biwak vorbereiten zu wollen, zur Bedingung gemacht. Er wollte keine Umstände machen. Überall, wo er zu Besuch war, schlief er auf dem Fußboden, den Schlafsack hatte er immer dabei. Jemand, der keine Umstände machte, war als Gast immer wieder gern gesehen. Er krabbelte in seinen Schlafsack, zog den Reißverschluss hoch und sinnierte ein wenig über den heutigen Tag.

"Rosa?"

"Ja?"

"Warum bist du dieses Mal mitgekommen? Ich habe dich schon oft gefragt, ob du nicht Lust hast, mit mir auf einen Ausflug zu kommen. Immer hattest du etwas Anderes vor, und jedes Mal klang es wie eine Ausrede. Ist es wegen Ricardo?"

"Ich weiß es nicht, nicht genau. Es hat nichts mit dir zu tun. Aber nein, wegen Ricardo ist es nicht. Ich habe mir immer eingebildet, ich hätte noch so viel für das Studium zu tun, denn dafür bin ich hier. Und du weißt, es fällt mir wegen der Sprache nicht ganz so leicht wie euch. Aber dieses Mal? Ja, ich mag die Berge. Wir haben nicht immer an der Küste gewohnt. Wir sind erst vor ein paar Jahren nach Cartagena gezogen. Vorher haben wir in einem kleinen Städtchen hoch in den Bergen gewohnt, das vermisse ich ein wenig."

"Warst du dort auch mal Klettern?"

"Nein, die Berge bei uns sind zwar viel höher als hier, aber sie sind alle rund, also, du weißt, was ich meine, nicht solche Spitzen zum Klettern."

"Würdest du gern wieder in den Bergen wohnen?"

"Wenn man Chemie studiert hat, ist das wohl fast unmöglich. Aber ja, das wäre mein Traum."

"Sag mal, hast du heute beim Klettern keine Angst gehabt?"

"Wieso? Seppel war doch dabei. Was soll mit Seppel passieren?"

"Also, ich meine eher beim Abseilen. Wenn man das Seil loslässt, ist es vorbei."

"Oye flaco, wenn du mit deinem Motorrad auf der Straße fährst, und ein LKW kommt dir entgegen - dann musst du das Lenkrad nur ein paar Zentimeter nach links drehen und du bist tot."

"Warum sollte ich das tun?"

"Warum sollte ich das Seil loslassen?"

"Ja! Warum eigentlich?", manche Sachen können so einfach sein.

"Seppel hat wirklich sehr nette Eltern.", resümierte Rosana.

"Naja, normal."

"Feo, ich kann es nicht mehr hören: normal, normal. Du bist so ein Stoffel! Kannst du denn nicht einmal zugeben, wenn etwas gut war, wenn andere Leute etwas gut gemacht haben?"

"Na okay. Du hast ja recht. Seine Mutter ist wirklich sehr agil und sein Vater - ja, das ist ein echt witziger Vertreter, das hätte ich nicht erwartet."

"Na siehst du, es geht doch, wenn man nur will."

"Na ja, du hast wie immer Recht und ich meine Ruhe. Also dann. Gute Nacht, Mädel.", den Bauch vom exzellenten französischen Cognac wohlig angewärmt, drehte sich Atsche auf die Seite.

"Atchecito."

"Ja?"

"Du hast vorhin so komisch geguckt, als Seppels Vater sein Jagderlebnis erzählt hat. War das eine gute Geschichte?"

"Ha! Ob die gut war? Das ist jetzt keine ernsthafte Frage, oder? Das war die beste Jagdgeschichte, die ich je gehört habe - mit Abstand."

"Ich verstehe nichts davon, aber Hasen sind doch nicht selten, oder?"

"Das ist ja der Knalleffekt. Erst musste ich innerlich über Seppels Vater schmunzeln. Aber ich habe mir das eben nochmal überlegt: Das war nicht nur so dahergeredet. Dieses Schlitzohr hat alles mit Bedacht erzählt und dabei kein Detail dem Zufall überlassen. Ich sage dir: Herr Stettig ist ein ganz ausgekochter Hund. Der wollte mich testen. Und fast hätte er mich auch erwischt."

11. Auch Lamas haben eine Würde

Hecki und Atsche auf dem Heimweg vom Fettbach. Warum konnte dieser Club nicht auf dem Campus liegen wie alle anderen auch? Immer ein halbe Stunde Fußweg und immer früh am Abend, kurz nach Mitternacht. Die beiden traten den Heimweg ohne Begleitung an, der dadurch umso trister wirkte. So trotteten die geschlagenen Krieger gesenkten Hauptes nebeneinanderher, in Richtung ihrer eigenen Betten.

"Sag mal, die Schwarzhaarige, also wenn die nicht schnuckelig war. Du hast doch schon ganz erfolgreich an ihr rumgeschraubt. Wo war das Problem?", fragte Hecki.

"Merkst du noch was? Die war doch völlig verstrahlt, redet ohne Unterbrechung."

"Aber die hatte keinen BH an und der Pudding, der darunter gewackelt hat, mein lieber Mann! Wer will da nicht Masseur spielen?"

"Ach was, die labert noch beim Baumstammschieben, und was noch schlimmer wäre: sicher auch noch danach. Nee, mein Lieber, ich erwarte ein gewisses intellektuelles Minimum."

"Intellektuelles Minimum? Du hast echt nicht alle Latten am Rost. So ein Püppchen sollte man nicht unbenutzt in der Ecke stehen lassen."

"Tja Meiner, ich bin eben ein Genießer. Außerdem sollte das nicht dein Problem sein. Du bist doch fein raus: Du hast ja deine Stoßburg, zu der du gehen kannst, wann du willst."

"Wenn du Ivonne meinst: Nee, die lässt mich nicht mehr ran."

"Was? Wieso das denn? Die stand dir praktisch zur freien Verfügung – exklusiv, jederzeit."

"Das ist vorbei. Am Montag gleich nach dem Labor bin ich mit Zero und den anderen in die Pickelhaube zum Doppelkopf. Aber um acht war ich mit Ivonne verabredet. Also habe ich den Jungs gesagt, sie sollen mit dem nächsten Spiel auf mich warten, und bin im Laufschritt zu Ivonne rüber. Die wollte es sich mit mir 'schön gemütlich' machen. Aber wie denn? Ich hatte doch keine Zeit, einfach keine Zeit."

"Also war nichts?"

"Na doch, ich schnell rauf auf die Mutti und mir in Windeseile einen abgerammelt, wie ein Karnickelbock: rauf und wieder runter und weg. Ich konnte doch nicht länger bleiben, ich wollte zurück zu meinen Freunden, Bier trinken und Karten spielen."

"Na dann hat ja das Aus- und Wiederanziehen länger gedauert als das Porkeln."

"Ach was. Wie schon gesagt, ich hatte keine Zeit. Ich hatte noch alles an, sogar meinen fleckigen Laborkittel, ... huh, huh, huh."

"Und das hat sie dir übelgenommen?"

"Ja, versteh' einer die Frauen."

Die Hälfte der Strecke war geschafft, hier gabelte sich der Weg: geradeaus Richtung Campus, nach links durch einen schlichten Tierpark. Das wohldurchdachte Bombenteppichmuster, das die alliierte Luftwaffe vor gut dreißig Jahren auf Neustadt gelegt hatte, war fast lückenlos gewesen. Nach dem Krieg säumte man die Hauptstraßen mit Bauten im stalinistischen Zuckerbäckerstil, dessen niedlicher Name nichts von seiner Klobigkeit erahnen lässt. Später die Randgebiete mit sterilen Plattenbauten aufgefüllt – architektonische Leckerbissen sehen anders aus. Bei Südwind kroch der süßliche Geruch der Erdölraffinerie in jeden Winkel. Bei Nordwind würde hier niemand Wäsche im Freien aufhängen. Dann legte sich der feine, ungefilterte Kalkstaub aus den riesigen Schloten des nahen Karbidwerks wie Vulkanasche auf die ohnehin schon graue Stadt, eingezwängt zwischen Industriebetrieben und umgeben von einer baumlosen Agrarsteppe. Nein, Neustadt an der Plage war kein Ort, den man ohne stichhaltigen Grund freiwillig aufsuchen würde.

"Komm Hecki, gehen wir links. Da sind wenigstens keine Häuser."

"Ach Mann, dann dauert es ja noch länger. Warum nicht wie immer? Hast Du deinen Dietrich dabei?"

"Siehst du, genau das will ich vermeiden. Wir können nicht schon wieder die Kaufhalle knacken."

"Ich könnte etwas Milch gebrauchen. Und Einbrechen kann man das wohl kaum nennen. Du hast sauber wieder abgeschlossen. Außerdem haben wir eine genial falsche Spur gelegt. Das war perfekt. Huh, huh, huh.", Hecki schüttelte sich vor Lachen.

"Ach hör auf. In dem Rotzladen war doch nix drin, nicht mal Bier."

"Und außerdem hast du gesagt, dass das eine gute Tat war: Wir würden damit nur auf einen Fehler im System hinweisen, eine Sicherheitslücke aufdecken."

"Von Milch kriege ich das Brechen. Nee, komm, wir gehen links lang."

"Willst du noch eine Phenol-Ente mitnehmen?"

"Ach, wir haben genug zu essen. Das mache ich nur in Notfällen."

"In häufigen Notfällen."

Die Stadtverwaltung hatte sich redlich Mühe gegeben, in dieser tristen Ansiedlung mit ihrem wenigen Grün durch einige Tiergehege für etwas Abwechslung zu sorgen. Im ersten Abteil waren ein paar Kaninchen und Meerschweinchen - aber nur, wenn man davon wusste. Heute war keines von den Biestern zu sehen. Die faulen Mickerlinge schlummerten schon. Dahinter kam ein winziger Pferch mit einem Esel, der im Stehen schlief. Schließlich ein Verlies mit vier Lamas, die von einer Ecke ihres Gefängnisses zur anderen wanderten. Davor blieb Atsche stehen.

"Hecki, warum schlafen die Idioten nicht?"

"Wegen der Zeitdifferenz zwischen Südamerika und Europa."

"Knallbeutel, die sind schon Jahre hier."

"Warum interessieren dich diese stockdoofen Kamele?"

"Weißt du eigentlich, dass in Peru auf Sodomie mit Lamas die Todesstrafe steht?"

"Ui, da wird die Bibel aber hart ausgelegt. Wolltest du jetzt ein Lama bespringen?"

"Um Himmels willen, nein! Die stinken wie Hupatz."

"Und wenn sie nicht stinken würden?"

"Ich weiß nicht. Ist vielleicht auch nicht so viel anders als mit einer Frau."

"Nur kann man nicht mit den Titten spielen."

"Hm, das ist ein Argument.", wurde Atsche nachdenklich.

"Andererseits: Ein Alpaka würde sich nicht beschweren, wenn man dabei noch die Strümpfe anhat, oder den keimigen Laborkittel, huh, huh, huh.", kicherte Hecki in sich hinein. Atsche wischte diese Gedanken mit einer ungehaltenen Handbewegung beiseite.

"Ach Mensch, Heckenbauer, du bringst mich völlig aus dem Konzept. Ich meine, was sagt dir das mit der Todesstrafe?"

"Dass man in den Anden besser eine Frau vergewaltigen sollte, als ein Maultier zu bespringen."

"Nein, das nicht."

"Dass jeder Hochlandindio sein Lieblings-Lama hat?"

"Ich meine, welcher Gesetzgeber beschäftigt sich damit, wenn solche Sachen nicht häufiger vorkommen würden, als wir uns das mit unserer beschränkten Weltsicht vorstellen können."

"Ach Junge, komm weiter. Das ist langweilig, die rennen nur im Kreis. Das Einzige, was die stinkenden Untiere können, ist spucken. Was will man damit? Die können keinen Wagen ziehen, man kann nicht darauf reiten. Kein Wunder, dass die Inkas gegen Pizarro haushoch verloren haben."

"Aber die Wolle."

"Die Wolle, ja? Dein persönlicher Hochlandsklave hat eine Decke aus dem Zeug, das juckt wie Sau. Das ist keine Wolle, das ist Draht."

"Die armen Geschöpfe tun mir leid. In einem entlegenen Teil der Welt sind sie einen Weg der Evolution gegangen, den heute keiner gebrauchen kann. Die können nichts dafür. Und die Verwaltung dieser Affenstadt, sperrt sie in ein winziges Viereck. Da drin muss man ja verrückt werden."

"Mann, diese importierten Kreaturen sind so blöd, die merken das nicht einmal. Die sind genauso behämmert wie Kängurus."

"Was weißt DU denn von Kängurus?"

"Bei Brehm steht, Kängurus sind die dümmsten Tiere der Welt."

"Das stimmt nun überhaupt nicht, Hühner sind dümmer. Hecki, sind wir schon einmal vom Fettbach zurückgekehrt, ohne eine gute Tat zu vollbringen?"

"Ja, einmal."

"Einmal? Wann soll das gewesen sein? Was haben wir da gemacht?"

"Gar nichts."

"Siehst Du. Das darf sich nicht wiederholen. Heckenbauer, du hast mich noch nie enttäuscht. Und wenn es drauf ankam, habe auch ich immer zu dir gehalten. Wir müssen den armen Teufeln helfen."

"Wie denn? Willst du die Viecher zurück nach Südamerika bringen? Wir kommen selbst aus diesem Land nicht raus."

"Nein, ich meine zum Einstieg etwas ganz Einfaches. Eine kleine gute Tat. Wir geben ihnen nur ein wenig Auslauf."

"Das Gehege ist verriegelt und verrammelt."

"Wir heben sie über den Zaun. Das ist dann wie Freigang für einen Knastbruder."

"Die Dinger sind sauschwer."

"Wir sind zu zweit und du sagst selbst immer: was man nicht probiert hat, kann man nicht wissen."

"Mann, die stinken wie Hölle, schon von Weitem.", Hecki konnte Atsche wie immer nichts abschlagen. Beide kletterten über den Zaun in das Lama-Gehege.

"Wie ist der Plan?"

"Wir fangen eins.", sie liefen den Lamas hinterher, immer im Kreis. Womit sie nicht gerechnet hatten: Die nüchternen Tiere waren flinker als ihre zweibeinigen Verfolger. Und wenn man zu zweit läuft, wird man dadurch nicht doppelt so schnell. War ihnen das Gehege von außen noch winzig erschienen, bot es doch hinlänglich Platz zum Entweichen ihrer Schützlinge, die nicht ahnen konnten, dass man ihnen nur Gutes wollte. Den beiden Rettern ging die Puste aus.

"Atsche, das wird nix. Die Kamele sind schneller als wir."

"Neuer Plan. Da hinter der Hütte ist ein schmaler Durchlass. Ich treibe die Viecher hinter der Bude durch, du stehst an der anderen Seite und fängst eins. Durch diese hohle Gasse müssen sie kommen. Los!", neue Aufstellung, neuer Versuch. Atsche trieb die vier Lamas in den Durchlass - hinter der Hütte kamen alle vier Lamas wieder hervor.

"Hecki, was ist los? Die kamen genau auf dich zu!"

"Ich habe keins zu fassen gekriegt.", in Wahrheit hatte Hecki Panik erfasst, als er die kleine Herde auf sich zukommen sah, und ist zur Seite gesprungen. Neue Aufstellung, nächster Versuch. Wieder kamen hinter der Hütte alle vier Lamas vollzählig zu Vorschein.

"Hecki, und was war nun wieder?"

"Die sind alle, husch, an mir vorbei."

"Wenn du eine Schnecke fangen solltest, würdest du jetzt das Gleiche sagen."

"Nicht unbedingt, eine Schnecke stinkt nicht so grottig."

"Okay, dir fehlt es an Motivation. So kommen wir hier nicht weiter.", unverrichteter Dinge kletterten sie aus dem Gehege, die Schuhe voller Lamascheiße und setzten ihren Heimweg fort.

"Schade, ich hatte mich schon drauf gefreut, wenn morgen im 'Neustädter Anzeiger' steht: 'Passanten von einem freilaufenden Lama bespuckt'. Das nächste Mal machen wir vorher einen Plan."

"Oder wir nehmen einen dritten Mann mit."

"Aber nicht Zero, die Weichzeichnung.", sie kamen am Ziegengehege vorbei.

"Hecki, das ist es! Als Training für unseren nächsten Coup mit den Lamas lassen wir eine Ziege frei."

"Die stinken ja noch bestialischer."

"Sind aber nicht so schwer. Und überhaupt, es ist kein Bock dabei, dann geht das. Wir müssen uns nur eine Zicke ohne Euter greifen, die hat dann noch kein Lamm. Wir wollen doch keine Familienbande zerreißen.", sie kletterten in das Ziegengehege, um die Lamakacke an ihren Schuhen mit Ziegenmist zu strecken. Gegen die Lamas war das hier ein Kinderspiel. Bald hatten sie eine Jungziege und hoben sie umständlich über den Gehegezaun. Das Gehege war von einem weiteren kleineren Zaun umgeben, der Besucher vom Füttern der Gefangenen abhalten sollte. Sie setzten das verstörte Tier genau in diesen etwa zwei Meter breiten Streifen zwischen Gehege und Vorzaun und ließen es laufen. Dann stiegen sie ins Freie und betrachteten befriedigt ihr Werk. Zur Untermalung dieses Augenblicks zündete sich Hecki eine Zigarette an und sog genüsslich daran. Atsche stellte sich wie ein Arbeiterdenkmal mit beiden Händen in den Hosentaschen neben ihn.

"Siehst du Atsche, haben wir doch noch etwas Gutes getan."

"Ja, ich bin sehr zufrieden mit uns.", die Ziege schien weniger zufrieden. Sie lief in ihrem schmalen Korridor hin und her und mähte und meckerte.

"Warum meckert das Vieh so? Will die wieder rein oder will sie ganz raus?"

"Ich glaube, sie will raus. Aber nichts überstürzen, sie soll sich erstmal an ein bisschen mehr Freiheit gewöhnen. Vielleicht lassen wir sie das nächste Mal ganz raus."

"Ich weiß nicht. Stell dir vor, man würde uns an der Grenze über den ersten Zaun heben und dann im Todesstreifen frei laufen lassen. Das hört sich nicht nach ein 'bisschen mehr Freiheit' an."

"Das hier ist was Anderes. In dem Zaun ist kein Strom und hier wird auch nicht geschossen - und politisch verfolgte Ziegen gibt es schon gar nicht. Das Biest fühlt sich da sauwohl: ein bisschen freier eben.", die beiden einigten sich darauf, mit diesem Abend ihren Frieden zu schließen, und schlenderten weiter.

"Sag mal Hecki. War das jetzt etwas Unerlaubtes?"

"Atsche, erst schlägst du solchen Bockmist vor und dann ..."

"Das war kein Bock."

"... und dann wirst du weich und kommst mir mit dämlichen Gewissensbissen. Wir haben nur das Beste gewollt und getan. Wir haben nichts gestohlen und dieses Zickentier sieht sein Leben jetzt mal aus einer anderen Perspektive."

"Ja genau. Maääh."

"Mäh, ä, ä, ä, mäh."

"Mäh, äääh."

Und die Ziege antwortete aus der Ferne - "Mä,ä,ä,äh."

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