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7. Belgier
Die allmorgendliche Arbeitseinteilung zum Tabakpflücken stand an. Die Gewohnheit des Brigadiers, sich regelmäßig zu verspäten, war ihnen nur recht. Da kam einer von der LPG und fragte, wer mit Pferden umgehen könne. Sie brauchten jemanden, der im Dorf Kohlen mit dem Pferdegespann ausfährt. Atsche meldete sich sofort, ohne zu überlegen und ohne zu wissen, was ihn erwarten würde. Alles war besser als dieser Dritte-Welt-Job im Tabak. Dass er mit Pferden umzugehen verstand, war reichlich übertrieben. Als Kind und "Indianer" hat er oft die Kaltblüter auf der Wiese hinter ihrem Haus in Schnelleben mit Birnen gefüttert und sich dabei vorgestellt, als Tokei-ihto über die Prärie zu reiten. Nur einmal hatte er seinem Vater beim Einspannen der schweren Kaltblüter mit Kummet-Geschirr zugesehen. Das war's dann aber schon mit Atsches Kenntnissen über diese Haferfresser.
Und dann war da noch die alte Geschichte mit Lazi:
Es war ein schneereicher Winter, schon seit Wochen lag hoher Pulverschnee, der durch den steifen Wind meterhohe Wehen gebildet hatte. Hasen, Rehe, Fasanen - alles Wild litt Not. In Wald und Feld war mit dem Auto nicht mehr durchzukommen. So bekamen die drei jungen Burschen Atsche, Bube und Lazi von den Jägern des Ortes den Auftrag, ein paar Zentner Rüben für die Hasen in der Feldmark zu verteilen. Das Volksgut stellte dafür einen der Kaltblüter zur Verfügung.
Die Jungs spannten den Wallach Max vor eine Schleufe. Das ist ein flacher, primitiver Schlitten aus Holzbohlen, der normalerweise zum Mistfahren verwendet wird, und am ehesten an eine übergewichtige Holzpalette erinnert. Da Deichsel oder Schere fehlen, kann das Ross selbst nicht bremsen. Am Nachmittag hatten sie schon den Großteil des Futters verteilt. Bube führte die Zügel und ging meist neben dem Gefährt. Lazi saß vorn auf der Schleufe auf einem Strohballen, Atsche dahinter auf den Rübensäcken. Auf einem Hügel legten sie aus einem wichtigen Grunde eine Pause ein: Bube musste pinkeln und legte die Zügel beiseite. Noch beim Strullern erzählte er laut und mit der freien Hand gestikulierend eine Geschichte, sie lachten sich halb kaputt. Und da passierte etwas, das man von einem Kaltblüter eher nicht erwartet: Eine ihrer wilden Bewegungen hat das Pferd derart erschreckt, das es scheute. Max ruckte einmal kurz an - und ging ohne weitere Verhandlungen durch.
Lazi war durch den ersten Ruck nach vorn neben das Zugscheid gefallen und beim Start der wilden Fahrt geriet sein rechtes Bein unter die Schleufe, während das linke Bein noch auf der Schleufe lag. Atsche hatte sich irgendwie halten können und flach auf den Bauch in Fahrtrichtung auf die Schleufe gelegt. Was sie nicht sehen konnten: Hinter ihnen blieb Bube, seine Nudel im kalten Wind, verblüfft stehen und rief immer nur "Brrr, Brrr, Maxe.", wenngleich ohne Effekt.
Der Gaul raste kopflos bergab. Lazi schrie, als ginge es um sein Leben, womit er nicht ganz unrecht hatte. Die Hufe des Wallachs flogen immer dicht an seinem Kopf vorbei. Hätte ihn nur ein Hufschlag des knapp tausend Kilo schweren Tieres getroffen, wäre es mit ihm vorbei gewesen.
Der Junge zappelte hin und her und registrierte in seiner Panik die fliegenden Hufe nicht. Nur dem hohen Schnee war es zu verdanken, dass sein Bein unter der Schleufe nicht zermalmt wurde. Zum Glück jagten sie auf einem glatten Ackeruntergrund dahin, unter ihnen war Weizen bestellt. Ein gepflügter Acker wäre bei dem Frost wie eine Steinmühle für Lazis Bein gewesen. Es grenzte schon an ein Wunder, dass sich Atsche in voller Fahrt auf dem flachen Gefährt halten konnte. Er krallte sich an der vorderen Kante der Schleufe fest und zog sich zum Zugscheid vor. Die ledernen Zügel hatten sich dort verheddert und er versuchte mit einer Hand, ein freies Ende zu erwischen, während ihm der von den Hufen emporgeschleuderte Schnee ins Gesicht stob.
Der Gaul war schon einige hundert Meter mit ihnen galoppiert. Bis jetzt war alles gut gegangen, wenn man das in einer solchen Situation so sagen darf. Aber der Wallach rannte immer weiter bergab auf einen tiefen Graben zu. Der Graben war mit Schnee so zugeweht, dass er nicht mehr als solcher zu erkennen war. Nur ein paar Holunderbüsche markierten seinen Verlauf. Der Wallach Max war wohl lange nicht hier gewesen, er wusste das nicht und hielt unverändert auf den Graben zu. Lazis weit aufgerissene Augen glichen denen eines Wahnsinnigen. Er schrie immer: "Mach doch was! Mach doch was!". Da endlich bekam Atsche in voller Fahrt ein Ende der Leine zu fassen und zog daran gerade mit so viel Kraft, das er nicht selbst zu Lazi vornüberfiel. Er brüllte das Tier an: "Brrr, brrr". Max, dem er den Kopf mit der Leine zur Seite gezogen hatte, ging in eine leichte Kurve und einen Steinwurf vor dem Graben kam er endlich Schweiß schäumend zum Stehen. Alles gut.
Das waren sie also, Atsches Erfahrungen mit Pferden: nicht viel, aber immer noch erheblich mehr als vom Rest der Gruppe zusammengenommen. Somit war er DER Experte, alle anderen hatten noch nie ein Pferd von Nahem gesehen. Wer nicht vom Dorf kam, kannte keine Pferde, Reitsport gab es nicht.
"Kannst du anspannen?", fragte der LPG-Bauer.
"Ja klar.", ein eingespieltes Gespann zu fahren, konnte so schwierig nicht sein, auch wenn Atsche es noch nie gemacht hatte.
"Welches Geschirr?"
"Kummet."
"Du meinst 'Kummt'?"
"Bei uns sprechen sie Platt, da heißt es eben 'Kummet'."
"Ach so. Na prima, die meisten kennen nur Sielengeschirr.", davon hatte Atsche nun wieder noch nie etwas gehört.
"Und bist du schonmal ein Gespann gefahren?"
"Beides: einzeln und Zweispänner.", Richard, Richard, soll man denn lügen? Aber um dem Tabakpflücken zu entrinnen, war ihm jedes Mittel recht. Der Mann setzte ab sofort absolutes Vertrauen in Atsche.
"Gut. Such dir noch zwei Leute aus. Dort hinten ist der Stall. Du nimmst die beiden Belgier Rotschimmel. Der Wagen für die Kohlen steht da vorne. Dann kommst du mit dem Wagen vor zur Verladung. Macht's gut, Jungs.", und weg war er.
Yippie, geschafft! Atsche war raus aus dem Tabaktrott. Jeder hoffte, dass er ihn als Gehilfen aussuchen würde, jeder wollte jetzt sein Freund sein. Die Rotschimmel waren im Stall nicht schwer zu finden, eine Stute und ein Wallach. An den Boxen standen die Namen der beiden: "Rosa" und "Hans".
Mit nervösen, unberechenbaren Warmblütern wäre Atsche sicher nicht klargekommen, aber Kaltblüter haben die Ruhe weg - nomen est omen. So, jetzt hieß es anspannen. Er drängte sich mit dem Rücken zur Bretterwand an dem schweren Hans vorbei, löste ihn von der Krippe und dirigierte den Riesen rückwärts aus der Box. Der Wallach folgte seinen Anweisungen wie ein Roboter. An der Wand hingen die Kummetgeschirre, verdammt schwer die Dinger. Hans ließ sich das Kummet bereitwillig überstülpen, das hatte er jeden Tag. Atsche führte ihn am Halfter nach draußen zum Zugwagen. Es waren mehr Riemen zu verschnallen, einzuhaken und einzufädeln als ihm in Erinnerung waren, aber alles folgte einer gewissen Logik und bald war Hans eingespannt, welch eine Erleichterung! Mit der Stute Rosa war das Einspannen dann ein Kinderspiel. Fertig.
Die drei frischgebackenen Kohlefahrer kletterten auf den Kutschbock, Atsche nahm die Zügel in die Hand, endlich konnte es losgehen. Die Befehle waren klar: "Hüa" hieß gehen, "Brrrr" hieß anhalten. Er löste die Bremse und ließ frohgemut ein "Hüa" vernehmen. Hätte er einen Hut aufgehabt, er hätte ihn fröhlich dazu geschwenkt. Die beiden Gäule teilten Atsches Aufbruchstimmung nicht, schüttelten nur mit dem Kopf, um Fliegen abzuwehren, und taten, als hätten sie nichts gehört. Ein zweites "Hüa" und ein drittes verhallten ebenso ungehört. Er schnellte die Leinen auf und ab, dass sie den Rössern auf den Rücken klatschten. Doch diese warfen nur widerwillig mit dem Kopf auf.
Der Fall war klar: Rosa und Hans verstanden kein Deutsch - logisch, waren ja Belgier. Nach "Hopp" und "Hoppa", "Hopp, hopp" und einigen anderen Varianten setzten sich seine neuen belgischen Freunde überraschend in Bewegung, nachdem sie ein kurzes "Hou" von ihm gehört hatten. Nochmal Yippie! Jetzt hatte Atsche alles im Griff.
Nach etwa hundert Metern kam die Verladestelle für die Kohlen, vor der er den Wagen haargenau zum Stehen bringen musste. Die Leute, die ihnen die zu verladenden Kohlesäcke rausgebracht hatten, standen mit verschränkten Armen, die Mützen in den Nacken geschoben, wartend auf der Rampe. Als das Gespann etwa fünf Meter vor der Rampe war, zog Atsche die Zügel an und ließ ein lautes "Brrrr" vernehmen. Hans und Rosa trotteten unbeeindruckt weiter und so fuhr ihr Gespann in aller Seelenruhe an der Rampe und den staunenden Bauern vorbei.
"Wir haben im Stall noch was vergessen, kommen gleich wieder.", rief Atsche zur Entschuldigung. Scheiß Gäule! Scheiß Belgier! Jetzt drehten sie so lange Runden auf dem großen Hof, bis sie das "Sesam-öffne-dich" für diese sturen, belgischen Pferdeohren mit brute-force geknackt hatten. Ein langgezogenes "Hoooooo" war das Zauberwort für Halt und der Wagen stand. Ein kurzes "Hou" und sie fuhren, "Hoooooo" stehen, "Hou" gehen. So, genug jetzt, das klappte. Neuer Versuch mit der Rampe: Fünf Meter davor zog Atsche wieder die Zügel an, sagte den Geheimcode "Hoooooo" und das Gespann machte eine Punktlandung.
"Das machst du aber nicht das erste Mal.", sagte einer von der Rampe. Der Mann hatte recht: die Übungen eben auf dem Hof eingeschlossen - das dritte Mal.
Von nun an hatten sie ein schönes Leben: Derweil die anderen im Tabak buckelten, fuhren sie den Rest der Zeit mit dem Pferdegespann umher. Morgens Hans und Rosa einspannen, losfahren. Nachmittags Pferde ausspannen, Geschirr abnehmen, putzen, füttern. Schöner Tag. Sie belieferten den ganzen Ort mit Kohle-Briketts. Ein Gespann ist so langsam, dass man die meiste Zeit auf dem Bock mit Nichtstun verbringt. Das bisschen Kohle laden und den Leuten in den Keller tragen - das war doch ein Klacks.
8. Ein Zimmer mit Raúl
Atsche war weder ignorant noch eingebildet - weit davon entfernt, ein Überflieger zu sein, aber gewieft genug, um jeder Art von Verpflichtung aus dem Wege zu gehen. Vorlesungen kannte er nur vom Hörensagen und während der winterlichen Jagdsaison ließ er das Studium gänzlich ruhen. Für die paar Prüfungen reichte es vorerst. Und so hatte er das, was er am liebsten hatte: Freizeit. Was sich ein Playboy für Geld erkauft, war für Atsche umsonst: Feiern, hübsche Mädchen, Sport, Kultur und viele Freunde. Kurzum: dolce vita. Für sich selbst stellte er nur eine einzige Regel auf: nie zweimal mit der gleichen Frau zu schlafen.
Sein simpel genialer Plan stieß jedoch gleich am Anfang auf ein Hindernis, das er nicht hatte voraussehen können: seine ihm wahllos zugeteilten Mitbewohner. Beide keine üblen Kerle, nein, auf ihre Art nicht uninteressant. Aber Atsches Anspruch an das Studentenleben, namentlich an Zeiteinteilung, Pflichterfüllung und Freizeitgestaltung stand in diametralem Gegensatz zu deren Gesinnung. Gleich bei der ersten Studentin, die er nachts in ihrem Beisein penetriert hatte, veranstalteten sie ein Riesentheater. Die nächste, eine große schlanke Rothaarige, verführte er in Ermangelung anderer Optionen auf dem kalten Betonfußboden im Kellerflur. Nachdem er sich dabei Knie und Ellenbogen aufgescheuert hatte, stand für ihn fest: Das durfte auf keinen Fall zum Dauerzustand werden.
Doch Rettung nahte mit schnellen Schritten: Als hätte einer der Schreibtischtäter Atsches stille Wehklagen erhört, bot man ihm an, mit einem Peruaner zusammenzuziehen. Diese Offerte kam ihm mehr als gelegen, hatte er dadurch das Privileg, das Zimmer mit nur einem Mitbewohner teilen zu müssen – im Ernstfall faire Kampfbedingungen. Ohne zweimal nachzudenken, sagte er zu. Der Sinn dieser administrativen Maßnahme bestand darin, dem armen Ausländer einen deutschen Paten hilfreich zur Seite zu stellen. Leute, Leute: den Bock zum Gärtner gemacht.
Sein Schützling hieß Raúl, vom Wesen her ein ruhiger Vertreter, äußerlich ein cholo[2], wie er im Buche steht: sture schwarze Haare, klein von Wuchs, Hakennase, ausgeprägte Jochbeine, eng stehende Augen und einen bräunlichen Teint. Trotz seines zweifelsfrei indianischen Aussehens hatte er einen urspanischen Nachnamen, ein Detail, das in seiner Heimat nicht unbedeutend war: Mit einem Ketschua-Nachnamen wie Huancahuari landete die Bewerbung für einen Job unbesehen ganz unten im Stapel.
"Sag mal Raúl, wie bist du eigentlich hierhergekommen?", Atsche stellte die Gitarre an die Wand und warf den Rucksack auf sein zukünftiges Bett, es gab ein klirrendes Geräusch. "Mit dem Flugzeug, schon klar. Die Frage ist: Weshalb und wie?"
"Ich wollte studieren."
"Ausgerechnet in der DDR? Ich meine, keine Ahnung, wie es bei euch aussieht, aber ihr seid doch auch so was wie ein westliches Land."
"Das kann man so nicht vergleichen. Ein Studium hätte ich mir zu Hause nie leisten können.", es war kaum zu übersehen, dass Raúl aus ärmlichen Verhältnissen stammte. Wenn man ihn sah, dann immer in demselben schäbigen Anzug und mit derselben abgewetzten Ledertasche.
"Also, da geht man in Lima locker-flockig zu unserer Botschaft und sagt: 'Hallo Freunde des peruanischen Walzers, ich habe kein Geld. Bezahlt ihr mir ein Studium?'."
"Umgekehrt. Eure Leute haben mir das angeboten, weil ich in einer linken Jugendorganisation war."
"Verstehe: internationale Solidarität und so. Wir unterstützen unsere linken Freunde in den Entwicklungsländern. Das finde ich gut."
"Für mich war das eine einmalige Chance.", nickte Raúl zufrieden. Atsche wühlte in seinem Rucksack und zauberte zwei Flaschen Bier hervor.
"Hier Raúl, möchtest du eins?"
"Ui, ja. Danke, ich danke dir.", Raúl nahm die Flasche mit beiden Händen und machte mit angedeuteten devoten Verbeugungen ein paar Schritte zurück.
"Prost Raúl."
"Atsche, salud!", nachdem jeder einen Schluck genommen hatte, räusperte sich Raúl. Ihm schien etwas Unangenehmes auf der Zunge zu liegen.
"Nun, das mit den Freunden stimmt nur zum Teil."
"Wie, was jetzt? Links ist links."
"Wir sehen das etwas anders. Marxismus ist für uns keine Lösung, die meisten sind arme Bauern. Die Landbevölkerung steht für uns im Mittelpunkt. Wir brauchen einen Sozialismus, der speziell an unsere Bedingungen angepasst ist: 'Sozialismus in einem Land'."
"Mensch Raúl, du alter Inka: Das ist Maoismus pur."
"Ja und? Der Marxismus-Leninismus kann uns keine Antworten geben."
"Aber was ist mit der führenden Rolle des Proletariats?"
"Überlege doch mal: Neun Bauern sollen sich von einem Proleten führen lassen?"
"Hm, ich muss zugeben, an der Stelle hat die Theorie noch gewisse Schwächen.", genau das war der wunde Punkt: Gemäß Marx' Lehre hätte es die Oktoberrevolution ausgerechnet im rückständigen Russland nicht geben dürfen.
"Von mir aus: Bauern hin, Arbeiter her. Euer Kampf richtet sich also gegen den Einfluss der USA von außen und im Innern gegen die Bourgeoisie?"
"Nein, es geht um unser Land, um einen Sozialismus ganz speziell für unser Land. Wir wollen auch Teile des Kleinbürgertums mit einbeziehen."
"Na dann eben einen Bauernsozialismus mit Tante-Emma-Laden. Aber wenn nicht gegen die USA und auch nicht gegen das Bürgertum, wogegen kämpft ihr dann?"
"Unser Hauptgegner ist im Moment die kommunistische Partei - die Marxisten."
"WAS? Marxisten sind Kommunisten, genau wie ihr."
"Im Hochland gibt es viele Gemeinden mit marxistischen Bürgermeistern."
"Ja, das ist doch klasse, so kann man den Leuten vor Ort helfen. Was soll denn daran schlecht sein?"
"Auf diese Weise kollaborieren sie mit der bürgerlichen Demokratie, die wir ablehnen."
"Aber vielleicht nur, um den Boden für die Revolution zu ebnen."
"Und sie nehmen uns unsere Anhänger in den Bergregionen weg."
"Also, das ist doch verrückt, das ist völlig verrückt! Ihr wollt eine Revolution anzetteln und habt nichts Wichtigeres zu tun, als Kommunisten zu bekämpfen? Das ist der Plan? Ich krieg' mich gar nicht wieder ein. Da studierst du jetzt im Land deiner Feinde? ... und, und die bezahlen dir das auch noch!"
"Das kann man nicht vergleichen. Ihr seid ein industrialisiertes Land, das ist etwas vollkommen anderes. Bei euch spielen Bauern keine Rolle."
"Moment, Moment, ich bin Bauer."
"Ja klar. Darum gab es bei der Einschreibung auch kein Kästchen für die soziale Herkunft Bauer."
9. Nur eine Amiga
Rosana entstammte einer gutsituierten Familie. Von Marxismus, Maoismus, Anarchismus und wie sie alle hießen, hatte sie eine eher nebelhafte Vorstellung. Und dennoch hatte sie sich einer linken Organisation angeschlossen. War es bei ihr der, gerade jungen Menschen eigene, übersteigerte Gerechtigkeitssinn oder nur pubertäre Auflehnung gegen das oberflächliche, kleinbürgerliche Umfeld, in dem sie aufgewachsen war?
Südamerika, auf dem Papier seit hundertfünfzig Jahren unabhängig, war bis heute nicht aus dem Stadium eines rückständigen Rohstofflieferanten herausgekommen. Die USA dominierten Konzerne, Handel und Großbanken Lateinamerikas und tauschten aufmüpfige Regierungen nach Belieben aus. Selbst die Bezeichnung "Amerika" hatte man den Latinos weggenommen: Sagte jemand auf der Welt "Amerika", meinte er damit immer nur ein einziges Land: Die Vereinigten Staaten - der Rest des riesigen Doppelkontinents wurde dabei wie selbstverständlich unterschlagen: Das tat weh. Allein dieser verletzte Stolz war für viele Intellektuelle Lateinamerikas Grund genug, nach einer Alternative zu suchen – ganz zu schweigen von der Unfähigkeit des etablierten Systems, die gewaltigen sozialen Probleme zu lösen. Der Beweis für die Tauglichkeit eines Gegenentwurfs stand bis jetzt, Ende der siebziger Jahre, hingegen noch aus.
Atsche war vorsichtig im Umgang mit Rosana, sehr vorsichtig. Seine Zurückhaltung wurde in erster Linie aus seiner Unsicherheit gespeist, mit Rosanas scheinbar leichtfertiger Offenheit umzugehen. Nach südamerikanischer Sitte küsste sie bei der Begrüßung jeden auf beide Wangen, unabhängig davon, wie freundschaftlich oder weniger innig ihr Verhältnis zu dieser Person war - ein für Atsche verwirrender Brauch. Diese französische Art der Begrüßung würde hier erst zwanzig Jahre später in Mode kommen, war aber zu jener Zeit ebenso ungebräuchlich wie Oralsex. Andere junge Männer nahmen derart Einladung erfreut an, berührten sie an der Hüfte, legten jovial und lachend den Arm um ihre Schulter und senkten ihr Gesicht nah zu ihr herunter, derweil sie unablässig auf sie einredeten. Rosana nahm dieses Verhalten als vollkommen normal hin, lächelte ungezwungen und tat in keiner Weise distanziert. Auf Atsche wirkte solcherart Theater billig, fasst unschicklich. Er analysierte nicht, ob es bei ihm unbewusstes Kalkül, Respekt, Dummheit, Weisheit oder einfach nur Hilflosigkeit war - aber seine Entscheidung stand schnell fest: Er würde jede körperliche Berührung mit Rosana zu vermeiden suchen. Trafen sie sich, gab er ihr, wenn überhaupt, nur höflich die Hand.
Beide waren in der gleichen Seminargruppe und sahen sich daher täglich. Obwohl Atsche Rosanas Nähe nicht unangenehm war, suchte er diese nicht, zumindest nicht bewusst und schon gar nicht berechnend. Und doch saßen sie öfter, als es ein Zufall sein konnte, nebeneinander in der Vorlesung, am gleichen Tisch im Seminar, gegenüber beim Mittagessen in der Mensa oder diskutierten im Labor ihre Synthesen und Analysen. Es gab nur einen Ort, an dem Atsche sie nie getroffen hat, eben der Ort, an dem er sie am liebsten gesehen hätte, und sei es nur ein einziges Mal: in der Gemeinschaftsdusche.
Waren es Atsches dürftige Spanischkenntnisse oder seine freundschaftliche Distanz ihr gegenüber, die Rosana dazu bewogen, regelmäßigen Kontakt zu ihm zu pflegen? Mit der Zeit vertraute sie ihm: wie einem väterlichen Freund. Warum sonst nannte sie ihn immer öfter "papi"?
Rosana kam munter und aufgeräumt zur Tür herein. Seitdem Atsche mit Raúl zusammenwohnte, besuchte sie ihn regelmäßig.
"Hola, Atchecito."
"Rosa Mädchen, grüß dich.", mit ihrer scheinbar unbändigen Lebenslust brachte sie immer eine frische Brise in dieses Zimmer. War Raúl anwesend, unterhielt sie sich mit ihm auf Spanisch. Dabei konnte Atsche Raúls sauberer Aussprache noch leidlich folgen. Aber bei Rosana kam er nie nach. Sie hatte diesen singenden karibischen Akzent, aß die Buchstaben und sprach in einer atemberaubenden Geschwindigkeit.
"Rosa, hier bitte, nimm doch einen Stuhl.", wollte er höflich sein.
"Nimm doch einen Stuhl; nimm doch einen Stuhl?", äffte sie ihn gelangweilt nach. Er verstand nicht, was er ihr getan hatte.
"Atsche, du kannst doch schon ganz gut Spanisch. Warum sagst du nicht: 'Señorita, por favor, aca, toma asiento.'", und zur Untermalung, wie sie sich das vorstellte, zog sie den Stuhl an sich und klopfte mit der flachen Hand dreimal auf die Sitzfläche. Dabei sah sie ihn mit hochgezogenen Brauen und großen Augen fragend an, als erwartete sie umgehend eine Antwort.
"Das nächste Mal vielleicht.", wich er aus, um nicht als Spielverderber dazustehen. Rosana ließ nicht locker.
"Junger Mann, warum sprichst du nicht Spanisch mit uns? Dann bist du nach dem Studium perfekt in unserer Sprache.", ja, das war ein verlockender Gedanke. Aber er hatte über dieses Thema schon lange vorher nachgedacht.
"Mädel, was soll ich denn hier mit Spanisch anfangen?"
"Vielleicht fährst du einmal nach Kuba?"
"Das ist nicht so einfach, wie du denkst. Nee, lass mal, Rosa. Es ist viel wichtiger für euch, Deutsch zu lernen, als für mich Spanisch. Wir bleiben bei Deutsch.", Rosana schmollte etwas, schien nachzudenken, und ihre Züge hellten sich wieder auf.
"Ja, du hast wohl recht. Danke.", sie rückte wie selbstverständlich ganz nah an ihn heran, beugte sich über seinen Hefter und schrieb mit ihren schmalen Fingern eine Notiz hinein. Er schloss seine Augen und sog den Duft ihrer Haare ein. Wusste sie denn wirklich nicht, welche frauliche Ausstrahlungskraft sie ausübte, ... so, ... in ihrer infantilen Einfalt, oder in ihrer Unschuld?
Das Mädchen konnte nicht stillsitzen. Ihr Blick fiel auf seine Gitarre, die auf dem Bett stand. Atsche drosch darauf auf Feiern die Harmonien ihrer Sauflieder, dafür hätte eine billige Klampfe mit Stahlsaiten vollauf gereicht. Aber es war eine Konzertgitarre. Für das gute Stück hatte er lange in den Ferien arbeiten müssen. Sein Traum war es immer gewesen, eines Tages wie Paco Lucia darauf spielen zu können. Aber dieses Thema hatte er längst abgehakt. Es war nicht seine Art, schnell aufzugeben. Dennoch musste er bald erkennen, dass seine Fähigkeiten an Grenzen stießen, unüberbrückbar.
"Weißt du noch, am ersten Abend?"
"Bitte, erinnere mich nicht an die Feier danach."
"Wieso? Das war schön. Spielst du etwas auf der Gitarre? Bitte!", Atsche nahm das Instrument und stimmte es andächtig. Er musste jetzt sein Schicksalsstück spielen, "Bourrée" von Bach. Er musste das tun: Wenigstens die ersten Passagen wollte er jetzt schaffen. Als er mitten im Stück den ersten falschen Ton erwischte, brach er sofort ab: "... na ja, und so weiter.", als wäre die Pause gewollt.
"Schade, dass du nicht weitergespielt hast. Das war toll. Wo hast du das gelernt?"
"Ich habe es mir selbst beigebracht, ich hatte viel Zeit, bevor ich hergekommen bin. Aber, ach Scheiße, was soll's, irgendwann wirst du es doch merken: Ich kann das Stück nicht fehlerfrei spielen, nicht ein einziges klassisches Stück. Ich schaffe es einfach nicht, selbst wenn ich üben würde, bis mir die Finger bluten."
"Hey, flaco[3], man muss nicht alles können. Dann lass die Klassik einfach sein. Aber du hast auf der ersten Feier ein paar Lieder gesungen, von Udo hast du gesagt. Ich weiß nicht, wer das ist. Das hat mir sehr gefallen."
"Boah, erinnere mich nicht daran! Na ja, erinnern ist das falsche Wort. Oh Gott, auch das weiß ich nicht mehr."
"Bitte, ein Lied von Udo."
"Bitte nicht."
"Für mich."
"Für dich? Ach Mädel. Okay, aber nur eins.", 'für dich' kam nur der Radio-Song in Frage. Nach einigen Probeharmonien war Atsche so weit:
"Nun hab' ich dieses Lied gemacht, und diesen Text geschrieben.
Und ich hab' dabei an dich gedacht .... die ganze Nacht
- daa dap dap da daah.
... doch dann war alles klar, wir war'n soweit,
Und Thomas von der Technik war ebenfalls bereit.
Er gab uns ein Zeichen, die Maschine lief scho-o-n.
Die Band spielte los und ich stand am Mikrofon,
und ich sang, so schön ich konnte - daa dap dap da daah,
für DICH!"
Stille. Rosana lächelte nicht mehr, wie noch während des Liedes. Atsche wusste nicht, was das zu bedeuten hatte oder ob er etwas falsch gemacht hatte. Er stellte die Gitarre beiseite und wusste noch weniger, was er jetzt sagen sollte. Rosana hatte die Hände im Schoß, ihr Blick ging Richtung Gitarre und doch ins Leere. Nach etlichen langen Sekunden kam wieder Bewegung in ihren Körper.
"Atsche. Ich muss dir jetzt doch ein wenig Spanisch-Unterricht geben, weil ihr im Deutschen für diese Worte keinen Unterschied habt. ... ich habe einen Freund: Ricardo. Du bist auch mein Freund. Aber das ist nicht das Gleiche. Du bist mein amigo (Freund, Kumpel) und Ricardo ist mein enamorado (Geliebter).", die beigefügten Übersetzungen hätte sie sich sparen können, selbst wenn Atsche nicht ein einziges Wort Spanisch verstehen würde.
Nun war es heraus: Sie hatte einen Freund, nein, einen enamorado, und für Atsche würde sie nur eine amiga bleiben. Es gab da also jemanden, der dieses makellose Wesen auf sein Nachtlager ziehen durfte. Auch wenn Atsche bis eben nichts davon gewusst hatte, es keinen Anhaltspunkt gegeben hatte, dass Rosana nicht mehr frei ist - die Nachricht schockierte ihn nicht. Ja, Rosana übte eine feinsinnliche Anziehung auf ihn aus. Aber er hatte nicht nur einmal über sie und sich nachgedacht. So mädchenhaft, fast kindlich ihr Äußeres wirkte, hatte sie doch sehr klare Vorstellungen über ihren Lebensweg. Sie fühlte sich ihrem Land verpflichtet. Sie studierte hier, um ihrem Land, das immer mehr einem Umbruch entgegenging, nach ihrer Rückkehr beim Aufbau helfen zu können. Sie wollte etwas verändern oder zumindest ihren Anteil dazu beitragen, und das konnte sie nur in Kolumbien. Und Atsche, kommunistisch erzogen, unterwarf sich innerlich dieser übergeordneten Raison; wie eine Nonne, die ihre zarten, unbeherrschten Gefühle für den Bäckerjungen sofort zu unterdrücken weiß. Selbst wenn, ja selbst wenn sie ein Paar geworden wären, und selbst wenn es überhaupt in diesen astronomisch weit getrennten Welten machbar wäre - würde sein Gewissen es erlauben, sie hierzubehalten? Nein, es war alles gut. Rosana hatte einen Geliebten und Atsche war für diesen Umstand sogar dankbar, weil er vieles vereinfachte und klare Grenzen zog: dort der enamorado und hier Atsche der amigo.
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