Читать книгу: «Nebra», страница 4

Шрифт:

[home]

5

Auf einem Felsplateau, hoch über den Wipfeln eines Fichtenwaldes gelegen, stand ein seltsamer Mann. An die zwei Meter groß und breit wie eine Eiche, wirkte er, als würde er den letzten Rest des Tageslichts förmlich aufsaugen. Mit der rechten Hand auf einen mannshohen Stab gestützt, links eine Keule haltend, die aus dem Oberschenkelknochen eines Bären geschnitzt war, verharrte er völlig regungslos am Rande eines Abgrunds und blickte in die Ferne. Eine Krone aus Wurzeln, aus der die Hörner eines Rehbocks ragten, zierte seinen Kopf. Seine Arme und Hände waren mit Streifen aus Leder und gewalkten Pflanzenfasern umwickelt. Das Haar war zu fettigen Strähnen verflochten und klebte an seinem Kopf. Sein Gesicht, das mit einer dicken Schicht aus Lehm und Asche bedeckt war, verlieh ihm das Aussehen eines wilden Tieres. Das einzig Menschliche an ihm waren seine Augen. Ein Hauch von Wehmut lag in ihnen, als er beobachtete, wie die Landschaft unter seinen Füßen in der Dunkelheit versank.

Der Mann war ein Priester, ein heiliger Mann, ein Schamane. Ein Relikt aus einer Zeit, in der es in dieser Gegend noch Wölfe, Bären und Eulen gegeben hatte. Ein Überbleibsel einer längst vergangenen Epoche.

Wie in den meisten Teilen der Welt hatte der Fortschritt auch in seinem Land Einzug gehalten, hatte die alten Werte und Traditionen verdrängt und durch Wissenschaft und Fortschritt ersetzt. Nur der Schamane war geblieben. Wie ein Fels in der Brandung stand er da und trotzte den Veränderungen der Welt.

Im blassen Licht des Abends flammten nach und nach Lichtpunkte auf. Erst langsam, dann mit zunehmender Geschwindigkeit wurde das Land von einem Netz aus Helligkeit überzogen. Lichterketten zeigten an, wo sich eine Straße befand, leuchtende Haufen kündeten von einer Ortschaft. Kaum ein Fleck, der nicht besiedelt war. Es dauerte nicht lange, da war das ganze Land unter ihm ein Meer aus leuchtenden Punkten.

Als abzusehen war, dass es nicht dunkler werden würde, wandte er sich um. Der Mond war als beinahe vollständige Scheibe über die Bergkuppe gestiegen, bereit, seinen Weg über das nächtliche Firmament anzutreten. Das Licht, das er spendete, genügte dem Schamanen, um den Weg zu finden. Er hätte ihn auch in vollkommener Dunkelheit nicht verfehlt, kannte er doch jeden Stein und jeden Grashalm dieses geweihten Landes. Ein kühler Wind kam auf und vertrieb die letzten Wolkenfetzen vom Haupt des heiligen Berges. Die ersten Sterne kamen zum Vorschein, flackernd und blinkend wie die Lagerfeuer der Götter. Eine Nacht, wie geschaffen für eine Anrufung.

Der Schamane verließ den Pfad und wandte sich nach rechts. Nicht weit entfernt lag eine Höhle, dorthin wollte er gehen. Er musste jetzt vorsichtig sein, denn seine Schuhe aus Birkenrinde waren ungeeignet, um damit auf rutschigem Geröll zu gehen. Schon von weitem konnte er sehen, dass jemand in der Höhle ein Feuer entzündet hatte. Ein heller Schein drang aus einer Öffnung in der Felswand und tauchte den unteren Bereich der Böschung in gelbes Licht. Der Geruch von frisch verbrannten Zweigen stieg ihm in die Nase. Sie war also bereits vor ihm angekommen. Das wunderte ihn nicht. Sie nahm die Anrufungen ernst, mehr noch als er selbst. Hätte man Glaube und Hingabe in eine Waagschale legen können, so wäre das Pendel zu ihrer Seite ausgeschlagen. Doch er empfand keinen Neid. Sein eigener Glaube war immer noch stark genug, um den meisten Versuchungen zu trotzen. Doch wer hätte ermessen können, dass es so lange dauern würde. Zwanzig Jahre waren seit dem letzten Beschwörungsversuch vergangen. Zwanzig Jahre auf der Suche nach Antworten. Zwanzig Jahre des Fastens, der Entbehrung und der Selbstaufgabe. Eine unvorstellbar lange Zeit, wenn man im Verborgenen leben und das Dasein eines Schattens führen musste.

Doch damit war es nun vorbei. Wenn die Runen nicht trogen, so stand ihnen in den kommenden Tagen ein neues Fenster offen. Alles, was sie jetzt noch benötigten, war ein Zeichen.

Als er die Höhle erreichte, sah er die zwei Wächter, die rechts und links des Eingangs kauerten. Fast hätte er sie nicht bemerkt, so sehr verschmolz die Farbe ihres Fells mit dem Grau der Felswand. Reglos hockten sie da und starrten ihn aus ihren kalten Augen an. Ihn schauderte. Die Hand um seinen Stab gekrallt, senkte er den Kopf und schob die Matte aus Gras und Zweigen, die den Höhleneingang versperrte, beiseite. Die Augen vor der plötzlichen Helligkeit schließend, trat er ein.

Der schwere Geruch verbrannter Kräuter schlug ihm entgegen. Ein rot flackerndes Feuer warf zuckende Schatten an die Wände.

»Du bist da.«

Es klang eher wie eine Frage denn wie eine Feststellung. Die Frau, die mit weit ausgebreiteten Armen vor dem Feuer kniete, hob ihren Kopf.

»Ich habe dich erwartet.«

Die Seherin bot wie immer einen erstaunlichen Anblick. Obwohl sie dieses heilige Amt schon viel länger innehatte als er, war sie wie immer bestrebt, sich zu jeder Zeremonie ein anderes Aussehen zu verleihen. Heute war sie als Vogel gekommen. Schwarze Federn klebten auf ihren nackten Schultern und zogen sich über den gesamten Rücken hinab. Ihre sonst grauen Haare waren schwarz gefärbt und mit Lederbändern zu Dutzenden von kleinen Zöpfen geflochten. Bronzene Glöckchen klingelten in ihnen bei jeder Bewegung ihres Kopfes. Auf ihr Gesicht hatte sie mit Hennafarbe Eulenfedern gemalt, die sie wie einen Vogel aussehen ließen. Auf ihrem Kopf thronte eine Tiara aus Laub und Beeren, das Zeichen ihrer Priesterwürde. Die messerscharfen Zähne, die ihr mit fünfzehn, während des Initiationsritus, zugespitzt worden waren, unterstrichen ihr raubtierhaftes Aussehen.

»Der Mond ist eben erst aufgegangen«, sagte er.

Die Erklärung schien der Seherin zu genügen. Sie nickte knapp und winkte ihn zu sich heran.

Der Mann trat ans Feuer und ließ seinen Blick in die Runde schweifen. Ganz in der Tradition der Ahnen war die Höhle von oben bis unten geschmückt. Geweihe, Felle und Knochen verdeckten große Teile der kargen Felswände. Viele der Knochen waren geschnitzt oder zu kostbaren kleinen Schmuckgegenständen verarbeitet worden. Bronzene Teller, Kelche und Schalen standen in Vertiefungen, die in die Felswände geschlagen worden waren. In manchen von ihnen befanden sich getrocknete Kräuter, andere waren mit dem Blut frisch erlegter Tiere gefüllt. Der Mann nickte. Es schien alles in Ordnung zu sein. Wie immer hatte die Seherin die Zeremonie mit größter Gewissenhaftigkeit vorbereitet.

»Wie lange noch?«

»Die Vorbereitungen sind abgeschlossen«, sagte sie und sah ihm dabei tief in die Augen. »Wir können mit der Anrufung beginnen.«

Der Mann runzelte die Stirn. War da etwa ein Anflug von Furcht in ihrem Blick? Er schüttelte innerlich den Kopf. Unmöglich. Die Seherin hatte sich noch nie vor etwas geängstigt. An ihrer Seite hatte er die dunkelsten Abgründe durchschritten, war in die verborgensten Winkel der menschlichen Seele vorgedrungen. Und immer war sie vorausgegangen. Was war es, das sie zurückschrecken ließ? Er wusste, dass sie die Gabe der Vorsehung hatte. Hatte sie etwa in die Zukunft geblickt?

Er wollte sie schon danach fragen, besann sich dann aber eines Besseren. Es war gefährlich, sie mit Fragen zu belästigen, wenn sie in diesem Zustand war. Gefährlich für ihn, gefährlich aber auch für das Gelingen der Anrufung.

»Gut.«

Zu einer längeren Erwiderung konnte er sich nicht durchringen. Er ließ sich ihr gegenüber auf der anderen Seite des Feuers nieder. Die Flammen waren mittlerweile in sich zusammengefallen und hatten einen Haufen roter Glut zurückgelassen. Hitze stieg empor. Der Mann merkte, wie ihm unter seiner Kleidung der Schweiß ausbrach. Die Seherin griff in eine der Schalen zu ihrer Rechten, nahm eine Handvoll Pulver und warf es in die Glut. Ein bläulicher Flammenstoß schoss empor, dann eine Wolke von betäubendem Geruch. Mit weit ausholenden Armbewegungen verteilte sie den Dampf, während sie uralte Beschwörungsformeln rezitierte. Der Mann fühlte, wie ihm der Geruch zu Kopf stieg. Nicht nur der Geruch der Kräuter, auch der ihrer Körper. Mit einem Mal schien sich die Fähigkeit seiner Nase um das Tausendfache gesteigert zu haben. Er wusste, dass die Zutaten, die während der Anrufung verwendet wurden, bewusstseinsverändernde Substanzen enthielten. Trotzdem war er jedes Mal aufs Neue von ihrer Wirkung fasziniert. Er atmete tief ein und ließ die Droge auf sich wirken.

Die Seherin wiederholte den Vorgang mit einem anderen Pulver. Diesmal leuchtete die Flamme in einem kränklichen Gelb, ehe sie in ein Grün umschlug. Der Gestank war atemberaubend. Der Mann konnte nur mit Mühe einen Hustenanfall unterdrücken. Tränen schossen ihm in die Augen. Ein stechender Schmerz breitete sich in seiner Lunge aus. Eine riesige Hand schien seinen Brustkorb zusammenzuquetschen. Für einen Moment lang glaubte er, er müsse ersticken – was, wenn man es genau betrachtete, auch beabsichtigt war. Dieser Teil der Anrufung war der schwerste. Er wurde der schwarze Tod genannt, ein Ausdruck, der eigentlich alles sagte. Es ging darum, zu sterben, wenn auch nur im Geiste. Ein Vorgang, der es dem Sterbenden ermöglichte, mit der Unterwelt in Kontakt zu treten. Keuchend und nach Luft ringend saß er da, hoffend, flehend, dass der Augenblick bald vorübergehen möge. Der Seherin schien es nicht besserzugehen. Tränen strömten aus ihren Augen, verwischten die Farbe auf ihrem Gesicht und ließen sie in Schlieren über ihre Wangen rinnen. Sie griff sich an den Hals, während sie nach Atem rang. Ihre Haut glänzte fiebrig im Schein des Feuers. Mit übermenschlicher Anstrengung und scheinbar unter großen Schmerzen ergriff sie eine weitere Schale und schleuderte ihren Inhalt in die Glut. Dabei stieß sie einen Schrei aus, der einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte. Es gab eine Explosion aus roter Helligkeit, dann wurde es dunkel. Sämtliche Lichter bis auf die glühende Holzkohle verloschen.

Der Mann richtete sich auf. Der Schmerz war verschwunden, so als habe es ihn nie gegeben. Was blieb, war ein Zustand innerer Kälte. Oder war es um ihn herum tatsächlich kälter geworden? Sein Atem ging stoßweise. Vor dem schwachen Widerschein der Holzkohle bemerkte er, dass sich kleine Wolken vor seinem Mund bildeten. Er stutzte. Dann war der Temperatursturz also keine Einbildung? Ratsuchend blickte er zu der Seherin. Sie schien die Veränderung ebenfalls bemerkt zu haben. Im Schein der Kohlen glühte ihr Gesicht vor Erregung.

In diesem Augenblick geschah etwas Seltsames. Ein tiefes Grollen erklang. Der Boden unter ihren Füßen begann sich zu bewegen. Staub rieselte von der Decke, ließ sich als feiner Schleier auf Haut und Haaren nieder. Dem Staub folgten kleine Steine, die sich aus der Höhlendecke lösten und auf sie herabfielen. Schützend hielt der Schamane sich die Hände über den Kopf. Das Grollen schwoll an zu einem Donnern. Es klang, als ob sich tief unter ihren Füßen irgendwo eine Pforte geöffnet hätte. Irgendetwas schien sich Eintritt in die Welt der Lebenden verschaffen zu wollen.

Hin- und hergerissen zwischen einem Gefühl unbändiger Freude und einem alles verzehrenden Grauen, blickte er sich um. Die Schalen und Krüge in ihren Vertiefungen klirrten, manche von ihnen fielen heraus und zerbrachen beim Aufschlagen in unzählige Scherben. Geweihe lösten sich von den Wänden und stürzten herab, wobei sie einige der wertvollen Knochenskulpturen mit sich rissen. Eine Wolke aus Staub und Dreck raubte ihm die Sicht.

Es dauerte einige Augenblicke, dann war der Spuk vorbei. Die Staubschleier sanken zu Boden, die Erde beruhigte sich. Selbst die Temperatur kletterte wieder auf ein erträgliches Maß.

Stille breitete sich aus.

Der Mann und die Frau sahen sich an und nickten einvernehmlich. Es war gelungen. Zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren hatten sie eine Antwort erhalten.

»Ein Zeichen«, murmelte die Seherin. »Genau wie es in den alten Schriften steht. Er hat uns geantwortet.«

»Was hat er gesagt?«

»Jemand wird kommen. Jemand, der uns das letzte Siegel bringen wird.« Sie schloss die Augen, drückte ihre Fingerspitzen an die Schläfen und sagte: »Eine Frau. Sie wird uns das letzte Siegel überreichen.«

Der Schamane spürte eine neue Kraft in sich. Eine Kraft, an die er schon fast nicht mehr geglaubt hatte. »Er hat geantwortet«, wiederholte er. »Die Runen haben nicht gelogen. Es ist alles wahr. Nicht mehr lange, dann erscheint sein Zeichen über dem Berg.«

Er stand auf und reichte der Seherin seine Hand.

»Komm«, sagte er, immer noch ganz überwältigt von dem unerhofften Erfolg. »Wir müssen die Frau willkommen heißen. Uns bleiben nur noch vierzehn Monde, um das Ritual vorzubereiten. Es wird Zeit.«

[home]

6

Montag, 21. April

Deutschland präsentierte sich an diesem Morgen von seiner hässlichsten Seite. Strömender Regen, mürrische Gesichter und eisige Temperaturen empfingen Hannah, kaum dass sie den Bahnhof von Halle verlassen hatte und auf die gegenüberliegende Straßenseite geeilt war. Ihr kleiner, hoffnungslos mit Büchern und Arbeitsunterlagen überfrachteter Polo, den sie vor einer Woche dort abgestellt hatte, war, verglichen mit der Stimmung, die draußen herrschte, geradezu ein Hort des Friedens und der Behaglichkeit. Sie konnte es kaum erwarten, einzusteigen und endlich die Tür hinter sich zu schließen. Endlich war sie in ihrer eigenen kleinen Oase des Wohlbefindens, während der Regen auf die Scheiben klatschte. Sie lehnte sich nach rechts und öffnete das Handschuhfach. Eine Flut von Parkscheinen, Stiften und Taschentüchern kam ihr entgegen. Nach einer Weile fand sie, wonach sie gesucht hatte: ein angebrochenes Päckchen mit Schokoriegeln. Sie nahm sie heraus, schloss das Handschuhfach und riss die Verpackung auf. Der erste Bissen schmeckte wunderbar. Mit geschlossenen Augen wartete sie eine Weile, bis die Schokolade ihre Wirkung zu entfalten begann. Lautstarkes Gezanke weckte sie aus ihrem Tagtraum. Vor ihr stritten sich zwei Autofahrer um einen Parkplatz. Hannah startete den Motor, schaltete den Scheibenwischer an und fuhr los.

Die Büros des Landesmuseums für Vorgeschichte lagen im Innenstadtbereich, etwa zwei Kilometer vom eigentlichen Hauptgebäude entfernt. Gemessen an Afrika oder den USA, waren die Entfernungen hier in Deutschland geradezu lachhaft. Alles wirkte so klein, so gedrängt, fast wie in einem Land, das von lauter Wichteln bevölkert wurde. Hannah hatte einige Zeit gebraucht, um sich an die Enge zu gewöhnen. Immer wieder gab es Momente, in denen sie von der Endlosigkeit der afrikanischen Wüste träumte, von den Felsen, den Oasen und der Weite des Himmels.

Sie schaltete den Blinker ein und bog in Richtung Marktplatz ab. Ihr war klar, dass John sich nicht abhalten lassen würde, weiter um sie zu kämpfen. Er war einer der stursten Menschen, denen sie je begegnet war. Er würde auch diesmal keine Ruhe geben. Das spürte sie, als sie ins Parkhaus fuhr und ihren Wagen in einer der für Mitarbeiter reservierten Haltebuchten abstellte. Sie spürte es, als sie, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen in den ersten Stock hinaufstürmte und die Tür mittels Magnetkarte öffnete, und sie spürte es immer noch, als sie in ihrem Büro ankam, ihre Unterlagen auf den Tisch fallen ließ und den Computer hochfuhr. Tatsächlich: Kaum hatte sie ihre E-Mails geöffnet und einen ersten Wust an Spam-Mails gelöscht, entdeckte sie seine Nachricht.

»Hallo, Hannah,

hoffentlich bist du wohlbehalten zu Hause angekommen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr es mich gefreut hat, dich endlich einmal wiederzusehen, und ich möchte mich noch mal herzlich für deinen Besuch bedanken. Fast kam es mir vor, als hätten wir tatsächlich für einen Augenblick die Zeit zurückgedreht – als wäre zwischen uns alles wieder wie früher …«

Sie schüttelte den Kopf und überflog den Rest des Textes, der mehr oder weniger in demselben Stil geschrieben war. Sie war geradezu erleichtert, als er am Ende der Mail doch noch auf die Himmelsscheibe zu sprechen kam.

»Ich habe noch eine Weile über das scheinbar zufällige Sternenmuster nachgedacht und bin auf eine Idee gekommen«, schrieb er. »Bitte schick mir doch eine hochauflösende Bilddatei von der Scheibe, damit ich meine Theorie überprüfen kann.

Alles Liebe, John.«

Seufzend klickte Hannah auf die Antworttaste und fügte ein Bild aus ihrer Datenbank hinzu. Mit einem kurzen Kommentar schickte sie die Mail an den Absender zurück. Sollte er wirklich auf etwas gestoßen sein? Unwahrscheinlich. Vermutlich suchte er nur nach einem Vorwand, um sie wieder kontaktieren zu können. Andererseits … John war immer für eine Überraschung gut.

Die restlichen Mails waren eher uninteressant. Sie schloss das Programm und wendete sich dem beeindruckend hohen Poststapel zu. Briefe aus aller Welt, Ausstellungsanfragen, Anfragen über Abdruckrechte, spezielle Informationen über die Himmelsscheibe, sogar die Anfrage eines Romanautors bezüglich Recherchearbeiten befanden sich darunter. Es schien, als gäbe es in der Welt der Archäologie kein anderes Thema mehr als diese Scheibe. Was war mit all den anderen interessanten Funden, die es in diesem Museum zu bewundern galt? Dem Menhir von Langeneichstädt, dem Reiterstein von Hornhausen, dem Grab von Unseburg und den Münzen aus Dorndorf. War das etwa nichts? Und warum landeten die ganzen Anfragen immer auf ihrem Tisch? Sie bündelte die Post, sortierte sie und teilte sie in kleine Stapel, die sie geordnet nach Themen in den nächsten Tagen abarbeiten würde. Dabei fiel ihr ein Brief in die Hände, auf dem kein Absender vermerkt war. Fast war sie geneigt, ihn auf den Abfallstapel zu legen, als ihr Auge über das Adressfeld glitt. Die Anschrift mit ihrem Namen war minutiös mit Füllfederhalter geschrieben worden. Keine weibliche Schrift, dafür war sie zu kantig. Die Buchstaben lehnten ausgewogen nebeneinander, Ober- und Unterkante exakt einhaltend. Eine Schrift mit Charakter und Ausdrucksstärke.

Neugierig öffnete Hannah den gefütterten Umschlag und entnahm ihm ein einzelnes Blatt Büttenpapier mit Prägedruck. Wieder kein Absender. Nur ein einziger Satz, geschrieben in derselben markanten Handschrift.

»Sehr geehrte Frau Dr.Peters, haben Sie sich einmal die Frage gestellt, ob es vielleicht mehr als nur eine Scheibe gegeben hat? Hochachtungsvoll, ein Freund.«

Hannah runzelte die Stirn. Ein Freund? Warum stand da kein Name drunter? Sie drehte das Blatt um und schaute noch einmal in den Umschlag, doch da war nichts. Nur dieser eine Satz.

Die Scheibe, damit konnte nur die Himmelsscheibe gemeint sein. 1999, das war das Jahr gewesen, in dem zwei Raubgräber nur etwa achtzig Kilometer entfernt, auf dem Mittelberg nahe der Ortschaft Wangen bei Nebra, auf etwas gestoßen waren. Ein Depot, in dem sich neben der Scheibe zwei Schwerter, ein Beil, Meißel und Armspiralen befunden hatten. Kein menschliches Grab, wohlgemerkt, sondern ein Ort, an dem besagte Gegenstände versteckt worden waren. Die Scheibe hielten die Raubgräber ursprünglich für einen Eimerdeckel und beschädigten sie durch ihre unsachgemäße Bergungsaktion schwer. Erst später wurden sie sich des Wertes bewusst. Drei Jahre lang versuchten die Hintermänner, das wertvolle Kunstobjekt auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Der Preis stieg dabei auf immer höhere Summen. Erst durch den beherzten Einsatz eines Archäologen konnte die Scheibe bei einer fingierten Übergabeaktion mit Hilfe der Schweizer Polizei sichergestellt werden.

Nach heutigem Kenntnisstand musste man davon ausgehen, dass die Himmelsscheibe als tragbares Observatorium zur genauen Bestimmung der Sonnenwenden verwendet wurde. Mangelnde Zweitfunde ließen aber den Verdacht entstehen, dass es sich um ein Einzelstück handelte. Man vermutete, dass die Scheibe genau dort zum Einsatz gekommen war, wo man sie auch gefunden hatte, am Mittelberg.

Spekulierte der Schreiber dieser Zeilen etwa mit dem Gedanken, dass es an anderen Orten noch andere Scheiben gab? Versteckt, in Depots, so wie diese hier? Aber wo? Und warum gab er sich nicht zu erkennen? Fragen über Fragen.

Hannah entschied, dass es sich um einen Scherz handeln musste. Vielleicht sogar von ihrem Chef selbst, um ihr auf die Sprünge zu helfen. Obwohl das eigentlich gar nicht zu seinem Charakter passte. Dr.Feldmann war ein gebranntes Kind. Lange Zeit hatte man ihm vorgeworfen, mit der Scheibe eine Fälschung in seinem Museum zu beherbergen oder diese vielleicht sogar persönlich in Auftrag gegeben zu haben. Zu unglaublich erschien vielen Kollegen der Fund. So hatte zum Beispiel ein Bronzezeitspezialist der Universität Regensburg behauptet, die Scheibe sei ein Produkt zweifelhaftester Herkunft – verziert mit Sternen wie Schrotschüsse und einem Sonnenschiff, das wie ein Pantoffeltierchen aussehe. Er hatte ferner behauptet, die Scheibe sei das Werk neuzeitlicher Fälscher, die das Objekt innerhalb von drei Wochen aus mehr als hundert Jahre altem Metall mit Hilfe von Säure, Zangen und Fräsen auf alt getrimmt hätten. Eine Behauptung, der schwer beizukommen war. Das Alter eines archäologischen Fundes galt erst dann als hundertprozentig gesichert, wenn sich an ihm organische Reste befanden, die sich mittels C-14-Radiokarbonmethode datieren ließen. Die Scheibe hingegen bestand durchweg aus Metall. Zudem ließ sie sich nicht in eine Reihe gleichartiger Werke einordnen. Erst ausgiebige Analysen am Oxidationsgrad der Bronze sowie die zeitliche Zuordnung der Beifunde hatten zu Klarheit geführt und die meisten Zweifler verstummen lassen. Heute gab es kaum noch jemanden, der die Scheibe nicht für echt hielt. Irgendetwas riet Hannah, den Brief noch eine Weile aufzubewahren. Sie konnte es selbst nicht recht erklären, aber sie spürte, dass vielleicht doch mehr an der Sache dran war, als sie zunächst dachte.

Sie legte ihn in ihr Fach mit den privaten Mitteilungen. Dann stand sie auf und beschloss, ihrem Chef einen Besuch abzustatten.

Es war Zeit, den Stier bei den Hörnern zu packen.

469,47 ₽

Начислим

+14

Покупайте книги и получайте бонусы в Литрес, Читай-городе и Буквоеде.

Участвовать в бонусной программе
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
500 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783948093457
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
Вторая книга в серии "Hannah Peters"
Все книги серии