Читать книгу: «Nebra», страница 7
Die Buchhändlerin zuckte die Schultern. »Kenne ich nicht. Ein Kunde vielleicht. Ich müsste dann jetzt schließen.«
Völlig verwirrt griff Hannah ins Regal und zog ein Buch heraus, dessen Titel und Umschlag eine einigermaßen unterhaltsame Lektüre verhießen.
»Dieses hier?« Frau Kempowski nahm ihr das Buch aus der Hand und eilte an die Kasse. Sichtlich erleichtert darüber, die aufdringliche Kundin endlich loszuwerden, kassierte sie und entließ Hannah mit einem ungeduldigen Kopfnicken.
Draußen vor der Tür warf Hannah einen letzten Blick zurück in den Laden. Wer mochte der Unbekannte gewesen sein? Sie konnte nur hoffen, dass sich ihre Wege noch einmal kreuzten.
[home]
11
Den Dienstag hatte Hannah als Ausflugstag vorgesehen. Gewiss, sie stand unter Zeitdruck, aber auf einen Tag mehr oder weniger kam es nicht an. Es war wichtig, dass sie den Kopf wieder frei bekam. Was also konnte sinnvoller sein, als das herrliche Wetter zu nutzen und eine Wanderung auf den Brocken zu machen? Vielleicht bekam sie auf der höchsten Spitze Norddeutschlands ja eine plötzliche Eingebung?
Sie fuhr mit dem Auto nach Schierke, beschloss, den Wagen dort abzustellen und den nahen Wanderweg zur Spitze des Brockens zu nehmen. Die Strecke war ebenso schön wie einfach. Genau das Richtige, um abzuschalten. Teils asphaltiert, teils sich über Felsen und Wurzeln schlängelnd, mäanderte dieser wohl bekannteste Wanderweg des Harzes über zehn Kilometer hinweg bis zum Gipfel. Er führte durch moorige Abschnitte und einen märchenhaft anmutenden Fichtenhochwald, vorbei an Bergbächen und Granitfelsen. Hannah spürte, wie sie in der merklich kühler werdenden Luft zu keuchen begann. Damals, als sie noch in der Sahara gelebt und gearbeitet hatte und jeden Tag auf irgendwelche Felsen geklettert war, hätte sie ein solcher Spaziergang nicht aus der Puste gebracht. Jetzt aber musste sie ihre Wanderung mehr als einmal unterbrechen, um sich auf eine Bank oder einen Stein zu setzen, zu verschnaufen und etwas zu trinken beziehungsweise etwas von ihrem Proviant zu verzehren. Zum Glück hatte sie großzügig gepackt, denn als sie nach etwa drei Stunden oben auf der Kuppe anlangte, war von ihrem Vorrat nichts mehr übrig.
Der Wind zerrte an ihrem leeren Rucksack, als sie die letzten Meter bis zu der Metalltafel zurücklegte, auf der der höchste Punkt des Berges vermerkt war. Elfhundertzweiundvierzig Meter. Kurioserweise hatte sich bei einer Neuvermessung 1990 herausgestellt, dass der Brocken in Wirklichkeit nur knappe elfhunderteinundvierzig Meter hoch war. Eine alarmierende Nachricht, mit der schrecklichen Konsequenz behaftet, unzählige Landkarten neu drucken zu müssen. Man entschied sich dann aber für die kostengünstigere Alternative und spendierte der Kuppe fünf Granitblöcke, die das Niveau anhoben und an denen sich die betreffende Bronzetafel befestigen ließ. So gesehen, war der Brocken ein naher Verwandter des Garth Mountain in Wales, einem Berg, dem englische Kartographen im Jahre 1917 bescheinigt hatten, mit seinen neunhundertfünfundachtzig Fuß nur ein Hügel zu sein. Ein Sakrileg in den Augen der landestreuen Waliser. Ihm fehlten ganze fünfzehn Fuß, um per Definition als Berg durchzugehen. Unter Einbeziehung der Einwohner eines nahe gelegenen Dorfes wurde ein Erdhügel aufgeschüttet, der dem Garth wieder zu seinem Gardemaß verhalf. Eine Initiative, die vom ortsansässigen Pfarrer und dem Bürgermeister ins Leben gerufen worden war.
Hannah schüttelte im Geiste den Kopf. Männer und ihr Faible für Maße, das war nun wirklich eine unendliche Geschichte. Interessant in diesem Zusammenhang war jedoch, dass der Garth einige sehr interessante Grabstätten aus der frühen bis mittleren Bronzezeit beherbergte, Gräber, die viertausend Jahre alt waren. Ob es wohl um den Brocken ähnlich bestellt war? So abwegig war der Gedanke nicht. Kelten und andere bronzezeitliche Kulturen hatten sich seit jeher exponierte Orte für ihre Kultstätten ausgesucht. Was wäre das für eine Sensation, wenn sich hier ebenfalls Grabanlagen befänden. Grabanlagen, die vielleicht sogar in irgendeinem Zusammenhang mit der Himmelsscheibe standen. Das wäre genau das, was ihren Hals aus der Schlinge retten könnte.
Sie war so in Gedanken vertieft, dass sie erst nach einer Weile bemerkte, wie kalt es hier oben war. Das Thermometer in Wernigerode hatte an diesem Morgen fünfzehn Grad in der Sonne angezeigt, hier oben mussten sich die Temperaturen um den Gefrierpunkt bewegen. Trotz ihrer Jacke zitterte sie wie Espenlaub. Solange sie sich bewegt hatte, war die Temperatur kein Problem gewesen, doch jetzt, beim Herumstehen, bohrte sich der Wind durch das Kleidungsstück. Sie beschloss, ihren Aufenthalt hier oben so kurz und so effektiv wie möglich zu gestalten. Ein Blick in jede Himmelsrichtung, ein kurzer Vergleich mit der Karte, ein letzter Gruß an den rotgestreiften Urian, und dann ging es wieder talabwärts. Keinen Moment zu früh, wie Hannah feststellte, denn je weiter sie abstieg, desto mehr Menschen begegneten ihr. Getrieben vom Hunger und in der Hoffnung, in der Brockenherberge noch einen freien Tisch zu ergattern, schoben sich die Massen nach oben. Es begann voll zu werden auf Deutschlands nördlichstem Berg.
Hannah gönnte sich einen kleinen Abstecher entlang der Heinrichshöhe und der Brockenkinder, einigen sehr malerisch anmutenden Granittürmen. Vom Tal her schnaufte ihr die Brockenbahn entgegen, beladen mit älteren Leuten und Kindern. Die kleine Lokomotive hatte schwer zu tun, denn die Waggons waren gut besetzt. Die ersten schönen Tage in diesem Frühling trieben die Leute in Scharen auf die Spitze. Wohin man sah, überall nur fröhliche, gerötete Gesichter. Alle schienen sich zu amüsieren – alle außer Hannah. Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, am heutigen Tag einfach nur auszuspannen, ließ sich der Gedanke, in kurzer Zeit etwas finden zu müssen, das Feldmanns hohen Ansprüchen genügte, einfach nicht abstellen.
Wenn sie bloß eine Ahnung gehabt hätte, wo sie anfangen sollte.
Resigniert startete sie den Motor und überließ ihren Parkplatz einem gestresst wirkenden Familienvater und seinen quengelnden Kindern.
[home]
12
Der Abend begann mit einem Meer aus Flammen. Entlang des steilen Anstiegs zum Wernigeroder Schloss waren Fackeln entzündet worden, die das alte Gemäuer und die umliegenden Parkanlagen in ein magisches Licht tauchten. Auf Anraten ihrer Wirtin hatte Hannah sich entschieden, den Abend mit einem Konzert ausklingen zu lassen. Russische Romantik: Borodin, Glinka und Mussorgski. Genau das Richtige für eine sagenumwobene Gegend wie diese.
Als sie schwer atmend auf der großen Freiterrasse vor dem Schloss ankam und über die Stadt hinweg zum Brocken blickte, bemerkte sie ein merkwürdiges Leuchten, als würde hoch oben ein Feuerwerk abgebrannt. Es sah wunderschön und bedrohlich zugleich aus.
Hannah wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem bevorstehenden Konzert zu. Sie passierte einen schmalen Durchgang, kaufte sich eine Karte und betrat das Schloss. Das Konzert selbst fand im Innenhof unter freiem Himmel statt. Der bewegliche Baldachin, eine Konstruktion, die Musiker und Zuhörer gleichermaßen vor den Tücken des Wetters schützen konnte, war zusammengefaltet und erlaubte einen freien Blick in den Himmel. Die Nacht war so klar, dass man die Sterne funkeln sehen konnte. Der Innenhof quoll bereits über von Menschen. Vor dem Hauptturm war eine Bühne errichtet worden, die bequem Platz für das vierzigköpfige Orchester des Nordharzer Städtebundtheaters bot. Fackeln und Wärmestrahler entlang der Innenmauern sorgten für Behaglichkeit und Atmosphäre in dem komplett bestuhlten Innenhof.
Hannah bemerkte, dass sie zu den zwanzig Prozent meist jugendlicher Zuhörer gehörte, die in Jeans und Pullover gekommen waren. Der überwiegende Anteil war, dem festlichen Anlass angemessen, in Abendgarderobe erschienen. Die Damen in rauschenden Kleidern, die Herren im eleganten Smoking. Hannah schämte sich etwas, dass sie wie Aschenputtel herumlief, aber was hätte sie tun sollen? In ihrem Aufenthalt in Wernigerode war ein Konzertabend nicht vorgesehen gewesen, und für einen Einkauf war es zu spät gewesen. Der enganliegende schwarze Rollkragenpullover, die Jeans und die schwarzen Turnschuhe waren das Beste, was ihr zur Verfügung stand. Immerhin hatte sie daran gedacht, ihr Tuareg-Collier, eine Silberarbeit mit rotem Jaspis und Ebenholz, mitzunehmen. Zusammen mit einem anderen Mitbringsel aus der Sahara, ihren Ohrringen aus Silber und Lapislazuli, fühlte sie sich zwar nicht passend, aber zumindest halbwegs festlich gekleidet.
Die Wirtin hatte nicht übertrieben. Der Andrang auf die Karten war enorm gewesen, und es hatte keine halbe Stunde gedauert, bis das Konzert ausverkauft war. Hannah bedauerte die vielen Menschen, die enttäuscht heimkehren mussten. Andererseits freute sie sich über das Privileg, zu den etwa dreihundert Zuhörern zu gehören, die an der ungewöhnlichen Veranstaltung teilnehmen durften. Sie wollte sich gerade auf die Suche nach einem geeigneten Sitzplatz begeben, als sie ein Räuspern vernahm.
»Guten Abend«, sagte eine Männerstimme. »Wie schön, Sie wiederzusehen.«
Hannah wandte sich der Stimme zu.
»Der Buchhändler«, entfuhr es ihr. Und dann, nach einer kurzen Pause: »Aber nein. Sie sind ja gar kein Buchhändler. Jedenfalls nicht bei Kempowski.«
Ein zaghaftes Lächeln huschte über das Gesicht des Mannes.
»Habe ich das je behauptet?«
Hannah musste kurz überlegen. Nein, er hatte recht. Sie war es gewesen, die ihn angesprochen hatte.
»Nicht wirklich«, gestand sie ein. »Aber Sie können sich meine Überraschung vorstellen, als ich in den Laden zurückkehrte und nach Ihnen fragte.«
»Sie haben sich nach mir erkundigt?« Der Mann hob die Augenbrauen. »Warum?«
Hannah spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Sie wollte zu einer Erklärung ansetzen, doch der Fremde schien ihre Verlegenheit bemerkt zu haben und kam ihr zu Hilfe.
»Ich bin tatsächlich kein Buchhändler«, sagte er. »Nur ein ganz normaler Kunde. Tut mir leid, wenn ich durch mein Auftreten den Eindruck erweckt habe, ich würde zum Personal gehören.«
Hannah warf ihm einen interessierten Blick zu. Seine Kleidung war eine merkwürdige Mischung aus saloppem Sweatshirt, ausgewaschenen Jeans und teuer aussehenden Schuhen. Der Mann fing ihren Blick auf. »Und? Worauf tippen Sie?«
Hannah kräuselte die Lippen. »Keine Ahnung. Freiberufler vielleicht. Grafikdesigner oder in der Werbung tätig. Es sind Ihre teuren Schuhe, die die Sache kompliziert machen.«
Ein geheimnisvolles Lächeln erschien auf seinem Gesicht, dann streckte er die Hand aus. »Mein Name ist Michael. Michael von Stetten.«
»Hannah Peters.« Seine Finger fühlten sich geschmeidig und muskulös an. Ihr gefiel seine zurückhaltende Art.
»Sind Sie in Begleitung?«
»Nein, und Sie?«
»Ebenfalls solo«, sagte er. Er blickte kurz zu den Stuhlreihen hinüber, überlegte kurz, dann sagte er: »Hätten Sie Lust, wenn wir uns das Konzert gemeinsam anhören? Anschließend könnten wir noch ein Bier trinken und eine Kleinigkeit essen. Es gibt ein nettes Gasthaus, nur fünf Minuten von hier.«
Hannah hatte eigentlich vorgehabt, früh zu Bett zu gehen und morgen zeitig aufzustehen. Doch es war etwas an dem Mann, das ihr gefiel. Um ehrlich zu sein, sie war neugierig, herauszufinden, ob sie mit ihrer Einschätzung, was seinen Beruf betraf, richtiggelegen hatte. »Einverstanden«, sagte sie. »Wenn Sie mir versprechen, dass ich mein Essen selbst bezahlen darf.«
Er sah sie mit großen Augen an, dann lachte er.
»Abgemacht.«
Das Konzert dauerte eine gute Stunde, und als es zu Ende war, fühlte Hannah sich in eine merkwürdige Stimmung versetzt. Besonders die an- und abschwellenden Kaskaden der Nacht auf dem kahlen Berge von Modest Mussorgski, einer sinfonischen Dichtung über einen Hexensabbat auf dem Blocksberg, gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Es war ein finsteres, ein furioses Stück, das einen bleibenden Eindruck hinterließ. Von Stetten schien es ebenso zu ergehen. Während die beiden das flammenhelle Schloss hinter sich ließen und auf das Stadtzentrum zusteuerten, wechselten sie kaum ein Wort. Erst nachdem sie die Wirtschaft betreten, sich an einen Tisch gesetzt und jeder ein Bier und eine Forelle bestellt hatten, fiel das Schweigen von ihnen ab.
»Wie fanden Sie das Konzert?«
»Ziemlich starker Tobak«, sagte Hannah. »Für meinen Geschmack fast ein bisschen zu monumental.«
»Sie sollten sich mal die Opernversion anhören«, sagte er. »Mussorgski hat das Stück später in seinen Jahrmarkt von Sorotschinzy eingearbeitet, mit großem Chor. Das ist erst unheimlich.«
»Erzählen Sie mir nicht, Sie seien Musikkritiker.«
Er lachte. »Nein. Die Musik in allen Ehren, aber so weit geht die Liebe dann doch nicht. Ich fürchte, Sie werden ziemlich enttäuscht sein. Ich bin Rechtsanwalt. Meine Kanzlei hat ihren Sitz in Berlin. Strafrecht. Hauptsächlich Wirtschaftskriminalität.«
»Ein Anwalt?« Hannahs Blick wanderte unwillkürlich zu der Narbe in seinem Gesicht. Sie hatte kurz zuvor weitere Narben an Händen und Unterarmen entdeckt. Vermutlich doch ein Unfall.
»Und was machen Sie so weit weg von Ihrem Arbeitsplatz?«
Er griff in die Schale mit Erdnüssen. »Urlaub. Die letzten Monate waren so angefüllt mit Arbeit, dass ich mir eine Auszeit verordnet habe.«
Hannah musste lächeln. Noch so ein Kandidat.
»Ich war fast ein Jahr lang ununterbrochen unterwegs«, fuhr er fort. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie das an die Substanz geht.«
»Und ob«, sagte sie und nahm einen Schluck. Es war ewig her, dass sie Schwarzbier getrunken hatte.
»Ich besitze ein Haus ganz in der Nähe«, fuhr er fort. »In Bad Harzburg, um genau zu sein. Nichts Großartiges. Nur ein Ort, an dem ich die Seele baumeln lassen kann.«
»Bad Harzburg?« Hannah fiel es schwer, sich vorzustellen, wie jemand, der jung und – wie es schien – erfolgreich war und der obendrein so gut aussah, freiwillig hierherziehen konnte. Als sie ihm das sagte, schmunzelte er. »Sie haben offenbar die falschen Gegenden besucht. Da geht es Ihnen wie Heinrich Heine. Wissen Sie, was er nach seinem ersten Besuch auf dem Brocken gesagt hat? Große Steine, müde Beine, saure Weine – Aussicht keine.«
»Ich mochte Heine schon immer«, sagte sie und lächelte. »Und was genau reizt Sie am Harz?«
Er zuckte die Schultern. »Die frische Luft, die dichten Wälder, die mystische Atmosphäre, wer weiß? Wissen Sie, ich bin besessen von Geschichten und Geschichte. Beides findet sich hier in Hülle und Fülle. Vielleicht hätte ich lieber Autor werden sollen. Kein Wunder, dass man mich so oft in Buchhandlungen antrifft.«
»Lassen Sie mich raten: Vermutlich hat Ihren Eltern die Vorstellung vom brotlosen Schriftsteller nicht behagt, habe ich recht?«
»Meine Eltern sind früh gestorben«, sagte er.
»Oh, das tut mir leid.«
Hannah biss sich auf die Unterlippe. Was war sie doch für eine Meisterin darin, immer ein Fettnäpfchen zu finden. Fehlte nur noch, dass er sich jetzt nach ihrer Familie erkundigte. Wenn dieses Thema zur Sprache kam, war der Abend so gut wie beendet. Schon der Gedanke an ihre Familie war schmerzhaft. Menschen, mit denen sie seit ewigen Zeiten im Streit lag, die sie seit Jahren nicht gesehen hatte. Hannah duckte sich innerlich. Doch er schien ihre Verkrampfung zu bemerken und umschiffte die Klippe mit dankenswerter Sensibilität. »Haben Sie das Leuchten vorhin über dem Brocken bemerkt?«
Hannah atmete auf. »Allerdings. Sah aus wie ein Feuerwerk. Sehr stimmungsvoll.«
Er schüttelte den Kopf. »Ein Feuerwerk war das gewiss nicht. Die Brockenspitze ist eine Trockenzone, da herrscht ein absolutes Brandverbot. Lagerfeuer, Campinggrills oder Knallkörper – alles strengstens untersagt. Aber egal.« Er hob den Kopf. »Wie war Ihre Wanderung?«
Versonnen drehte sie das Bierglas zwischen ihren Händen. »Sagen wir mal so: Sie war – lehrreich.«
»So schlimm also?«
»Schlimmer. Es war …«, sie zögerte. »Nein, das werde ich jetzt lieber nicht sagen, schließlich hängt Ihr Herz ja an dieser Gegend.«
»Wo waren Sie denn?«
»Oben auf dem Brocken, wo sonst?«
Michael von Stetten verschluckte sich beinahe an seinem Bier. »Heute? So kurz vor Walpurgis? Sind Sie noch zu retten? Von wo aus sind Sie denn gestartet?«
»Von Schierke.«
»Großer Gott. Sie haben mein vollstes Mitgefühl.«
Hannah kam sich mit einem Mal schrecklich dumm vor. »Hätten Sie einen besseren Vorschlag gehabt?«
»Ob ich …?« Er wischte sich einen Tropfen aus dem Mundwinkel. »Aber natürlich hätte ich. Wenn mir klar gewesen wäre, was Sie vorhaben, hätte ich Sie gewarnt und Ihnen einen Weg empfohlen, der nicht so überlaufen ist.«
»Also gut, ich gebe es zu, ich habe einen Fehler gemacht. Was hätten Sie mir empfohlen? Vielleicht den Hexenplatz in Thale?«
Das Entsetzen auf seinem Gesicht wirkte nicht gespielt. »Das wird ja immer schlimmer«, sagte er. »Haben Sie denn aus dem heutigen Desaster nichts gelernt?« Er überlegte kurz, dann sagte er: »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Zuerst mal lassen Sie uns zum Du wechseln. Ich komme mir mit dem förmlichen Sie immer so spießig vor.«
»Sehr gern … Michael.« Sie hielt den Kopf schief. »Und dann?«
»Dann möchte ich dich zu einer Wanderung einladen. Gleich morgen früh. Es gibt hier eine Menge Orte, an die man als Normalsterblicher nicht so einfach gelangt. Wäre doch gelacht, wenn ich dich nicht vom Zauber dieser Gegend überzeugen könnte.«
[home]
13
Mittwoch, 23. April
Der Nebel ließ die umliegenden Felsbrocken in den frühen Morgenstunden wie gewaltige Trolle erscheinen. Finster und bedrohlich ragten sie rechts und links des Weges in die Höhe. Nass glänzende Moospolster hingen wie zottige Bärte an ihnen herab, und die Flechten wirkten wie Haare an einer Wasserleiche.
Die Feuchtigkeit schien förmlich aus dem Boden zu kriechen. Sie stieg aus jeder Öffnung, jedem Spalt und jedem Loch. Sie strich um die mächtigen Stämme der Buchen und ließ sich auf Blättern, Gräsern und Kräutern nieder wie der kalte Atem eines mächtigen Riesen.
Während Hannah den Pfad erklomm, musste sie darauf achten, nicht auf einen jener glitschigen, von Moos bedeckten Steine zu treten, die ihr immer wieder den Weg versperrten. Sie war bereits einmal abgerutscht und hatte sich trotz ihrer halbhohen Wanderschuhe den Knöchel angeschlagen. Nicht noch einmal. Zudem packte sie der Ehrgeiz, als sie sah, mit welcher Leichtigkeit Michael den Pfad erklomm. Er bewegte sich so geräuschlos und geschmeidig, als wäre er ein Teil dieses Waldes.
Zu Beginn ihrer Wanderung, am Fuß der Steinernen Renne, hatten sie noch ihre Taschenlampen gebraucht. Mittlerweile war es so hell geworden, dass es ohne sie ging. Das Licht war zwar immer noch schummerig, aber es reichte aus, um zu erkennen, in was für eine wilde Gegend sie geraten waren. Nach weiteren fünfzehn Minuten blieb sie stehen. »Warte mal einen Augenblick«, schnaufte sie. »Ich glaube, ich brauche eine kleine Pause.«
Michael blieb stehen, weiße Dampfschwaden ausstoßend. »Was denn, jetzt schon?«
»Ja«, keuchte sie. »Ich bin völlig aus der Puste.« Sie lehnte sich gegen einen mannshohen Felsen.
Lächelnd kam er zu ihr herunter. »Von mir aus gern. Gegen einen Kaffee habe ich nichts einzuwenden. Hier. Setz dich da drauf.« Er zog eine Sitzunterlage aus seinem Rucksack und blies etwas Luft hinein. »Damit holt man sich keinen kalten Hintern«, sagte er, während er die Matte auf einen Stein legte. Hannah nahm die Einladung dankbar an. Im Nu hatte er eine Thermoskanne hervorgezaubert und schenkte ihr eine Tasse duftenden Kaffee ein. Hannah nippte daran und blickte sich um.
»Schön ist es hier«, konstatierte sie, als sie fühlte, wie das warme Getränk neue Kraft spendete. »Genau so, wie ich mir den Wald in den Märchen immer vorgestellt habe. Würde mich nicht wundern, wenn hier gleich eine Horde singender Zwerge hinter dem nächsten Baum hervorkommt.«
»Höre ich da etwa Ironie heraus?« Michael schenkte sich ebenfalls eine Tasse ein. »Ich habe mich übrigens mal umgehört wegen des seltsamen Leuchtens gestern Abend. Also ein Feuerwerk war das nicht.«
»Vielleicht ein Hexensabbat«, sagte sie mit einem schiefen Lächeln. »Ein Haufen wilder Weiber, die sich schon mal für den großen Abend warm machen.«
Michael schüttelte den Kopf. »Je länger wir uns unterhalten, umso mehr frage ich mich, warum du eigentlich hergekommen bist. Aus tiefempfundener Liebe zu diesem Landstrich doch wohl eher nicht.« Ein schelmisches Grinsen umspielte seinen Mund.
Hannah lag eine flapsige Antwort auf der Zunge, doch dann entschied sie sich, ihm die Wahrheit zu sagen. Sie hatte noch nie gut lügen können. Außerdem spürte sie das tiefe Bedürfnis, sich jemandem anzuvertrauen. Jemand Außenstehendem, der nichts mit ihrem Job zu tun hatte.
»Ich gebe es zu«, sagte sie. »Dass ich hier Urlaub mache, ist nur die halbe Wahrheit. Ein Stück weit hat es mit meinem Beruf zu tun.«
»Ah.« Michael setzte sich auf den Stein neben ihr. Seine Augen leuchteten. »Ich hatte gleich so einen Verdacht und habe mich schon gefragt, wann du endlich mit der Sprache rausrückst.«
»Du hättest fragen können.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich finde, jeder sollte nur das von sich erzählen, was er wirklich preisgeben möchte. Aber dass etwas Besonderes an dir ist, das war mir gleich von Anfang an klar.«
Hannah runzelte die Stirn. »Wieso das?«
»Keine Ahnung. Nennen wir es Intuition. Ich bin ganz gut darin, Menschen einzuschätzen. Ist ein Teil meines Berufes.«
»Jetzt bin ich aber gespannt«, sagte Hannah lächelnd. »Worauf tippst du bei mir?«
Er überlegte kurz, dann sagte er: »Du bist viel herumgekommen. Norddeutscher Akzent und sonnengebräunte Haut, eine ungewöhnliche Mischung. Allerdings keine frische Bräune, sondern eine, die schon länger zurückliegt. Ein längerer Auslandsaufenthalt, würde ich sagen. Dazu der Schmuck, den du gestern getragen hast. Ich habe so etwas schon einmal gesehen. Tuaregkunst, habe ich recht? Das lässt vermuten, dass du mal in der Sahara warst.« Er lehnte sich zurück. »Deine Art, zu sprechen, deine Gesten – all das lässt den Schluss zu, dass du lange Zeit in einer anderen Kultur gelebt hast und dass du erst seit einer gewissen Zeit zurück in Deutschland bist.«
Hannah nickte anerkennend. »Nur weiter.«
»Deine Ausdrucksweise lässt auf einen akademischen Hintergrund schließen, vielleicht aus dem Bereich Naturwissenschaften. Du sagst, dein Besuch im Harz hätte etwas mit deinem Job zu tun. Dass diese Gegend geologisch sehr interessant ist, wissen wir beide. Also tippe ich mal: Du könntest Geologin sein.«
Hannah lächelte geheimnisvoll. »Nicht schlecht, besonders der Anfang. Am Ende hast du dich etwas verrannt. Wenn du es genau wissen willst: Ich bin keine Geologin, sondern Archäologin.«
»Archäologin?«
»Ich arbeite an der Erforschung der Himmelsscheibe von Nebra. Schon mal davon gehört?«
Sein Mund blieb offen stehen.
»Irgendetwas nicht in Ordnung?« Seiner Reaktion nach zu urteilen, war er mehr als nur leicht überrascht. »Es ist ein Beruf wie jeder andere. Na ja, fast«, sagte sie mit einem Schulterzucken.
Er schüttelte den Kopf. »Bitte verzeih mein Erstaunen«, sagte er. »Es kommt nicht oft vor, dass mich eine Nachricht so aus den Schuhen hebt.«
»Aber warum?« Hannah verstand es immer noch nicht. »Zugegeben, es ist kein x-beliebiger Bürojob, obwohl ich das letzte Jahr fast nur in Labors und Büros zugebracht habe. Aber trotzdem ist es nur ein Job.«
»Nur ein Job?« Seine Augen leuchteten in der Dunkelheit. »Du behauptest, an der Erforschung des wohl wichtigsten archäologischen Fundes der letzten hundert Jahre beteiligt zu sein, und sagst, es wäre nur ein Job? Tut mir leid, aber das ist die Untertreibung des Jahres.«
»Dann weißt du also etwas darüber?«
»Ich weiß so gut wie alles darüber.« Er richtete sich auf. »Jedenfalls das, was in den Medien darüber zu sehen, zu lesen und zu hören war. Ich bin ein Doku-Freak, um genau zu sein. Ich schaue mir so ziemlich jede Dokumentation im Fernsehen an und lese jeden Artikel in den einschlägigen Zeitschriften. Als ich dir gesagt habe, ich wäre besessen von Geschichten und Geschichte, habe ich keineswegs übertrieben. Ich weiß alles über diese Gegend, über ihre Geschichte, über ihre Geheimnisse. Und jetzt sitze ich einer Frau gegenüber, die behauptet, die sagenumwobene Himmelsscheibe in Händen gehalten zu haben.« Wieder schüttelte er den Kopf. »Ich kann es immer noch nicht glauben.«
»Ich habe sie nicht nur in den Händen gehalten.« Sie grinste. »Ich habe sie gemessen, gewogen, sie erhitzt, verbogen, Späne davon abgerieben und mit Strahlen bombardiert. Alles im Dienste der Wissenschaft, wohlgemerkt. Ich hätte ihr noch viel üblere Sachen angetan, wenn man mich nur gelassen hätte.«
Michaels Blick drückte pures Entsetzen aus. Aber genau diese Reaktion hatte Hannah bezweckt. Lächelnd fuhr sie fort: »Das Problem ist nur: Wir wissen zwar so gut wie alles über die Scheibe, aber leider so gut wie nichts über die Menschen, die sie hergestellt haben. Darüber etwas herauszufinden, das ist meine Aufgabe und der Grund meines Besuches.«
Michael schien seine Überraschung überwunden zu haben. Er war wieder aufgestanden und schulterte seinen Rucksack. »Vielleicht kann ich dir helfen. Ganz bestimmt kann ich das. Du sagst mir, wonach du suchst, und ich führe dich hin.«
Tief in einer Schlucht am Fuße der Heinrichshöhe, dort, wo der Mischwald aus Buchen und Fichten am dichtesten war, war eine schattenhafte Bewegung zu sehen. Etwas Dunkles regte sich. Etwas, das den Tag mied und die Nacht liebte. Es stand im Begriff, aus seiner Felsspalte zu kriechen. Dass ein Wesen wie dieses zu dieser frühen Morgenstunde noch wach war, hatte einen Grund. Seine feine Nase sandte ihm unmissverständliche Signale. Es konnte jeden Geruch des Waldes identifizieren. Pilze, Beeren, den Modergeruch von verrottendem Holz, den feinen Duft frisch gefallener Blätter, die ätherischen Öle von Harz und Tannennadeln – es war sogar in der Lage, unterschiedliche Tierarten voneinander zu unterscheiden, einzig am Geruch des Blutes. Das von Rehen roch anders als das von Schweinen. Eichhörnchen rochen anders als Mäuse. Lurche rochen überhaupt nicht, und das Blut von Vögeln hatte einen scharfen Unterton. Am besten rochen Kaninchen, weshalb es sie am liebsten fraß. Ihr Fell hatte einen unverwechselbaren Duft nach Erde und Heu. Was gab es Schöneres als ein junges Kaninchen, wenn man Hunger hatte. Und das Wesen hatte immer Hunger. Es war ein Jäger, der sich am Blut seiner Opfer labte. Der Gedanke an eine frisch geöffnete Bauchhöhle und das Geräusch des noch schlagenden Herzens ließ ihm das Wasser im Maul zusammenlaufen.
Aber es war kein Kaninchen, was sich da näherte. Der Geruch, der um diese frühe Morgenstunde vom Tal heraufkam, war fremd. Er gehörte nicht hierher.
Zweibeiner, schoss es dem Wesen durch den Kopf. Nur sie konnten so erbärmlich stinken. Das lag weniger an ihren körpereigenen Düften als an dem Zeug, mit dem sich viele von ihnen einsprühten. Scharfe, alkoholische Essenzen, von denen man Kopfschmerzen bekam. Ausdünstungen in einer Intensität, dass es einem die Eingeweide umdrehen konnte. Nun war es nichts Ungewöhnliches, dass Zweibeiner sich am Brocken herumtrieben. Sie infizierten den Berg wie eine Krankheit, wie ein Schimmelpilz, der sich immer mehr ausbreitete. Ungewöhnlich war nur, dass sie so früh unterwegs waren.
Das Wesen richtete sich auf und hielt die Nase in den Wind. Kein Zweifel: Die Eindringlinge kamen näher. Ihr Weg führte sie direkt an seiner Schlafstatt vorbei. Eile war geboten. Es schüttelte sein Fell und schabte sich den Buckel seitlich an der Felswand. Mit den Krallen scharrte es die Reste seines Lagers auf einen Haufen, dann trat es hinaus ans Tageslicht.
Der Sonnenaufgang stand unmittelbar bevor, und die Helligkeit stach ihm unangenehm ins Auge. So gut es bei Dunkelheit auch sehen konnte, so empfindlich war es bei Tag. Nur noch eine Stunde, dann würde es hier so hell sein, dass seine Augen ihm unerträgliche Schmerzen bereiten würden. Viel Zeit blieb ihm also nicht.
Ein paar keuchende Atemzüge, dann machte es sich auf den Weg.
Бесплатный фрагмент закончился.
Начислим
+14
Покупайте книги и получайте бонусы в Литрес, Читай-городе и Буквоеде.
Участвовать в бонусной программе

