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3
Ein sanfter Wind strich um die steinernen Pfeiler des alten Tempels. Die Sonne zauberte markante Linien in die staubige Luft, die sich wie Finger in die verborgenen Ecken und Winkel des Heiligtums vortasteten und die steinernen Wände wie etwas Lebendiges erscheinen ließen – wie ein uraltes Fabelwesen, das langsam zu erwachen begann. John spürte die Spannung, die in der Luft lag. Eine jahrtausendealte Kultstätte bei Sonnenaufgang zu erkunden, das war ein unvergleichliches Erlebnis.
»Wie gut kennst du dich in altägyptischer Geschichte aus?«, wandte er sich an Hannah, während er sie tiefer in das Heiligtum führte. »Genauer gesagt: Was weißt du über Hatschepsut?«
»Nicht viel«, erwiderte sie. »Nur dass sie in der achtzehnten Dynastie lebte, vor etwas weniger als dreitausendfünfhundert Jahren also, und dass diese Zeit durch blühenden Wohlstand gekennzeichnet war. Hatschepsut war die einzige Frau, die jemals die Herrschaft als Pharao innehatte.«
»Bemerkenswert, nicht wahr?«, sagte John. »Kurz nach Antritt ihrer Regentschaft ergriff sie die traditionellen Herrschaftsinsignien, darunter den sogenannten Zeremonialbart. Wahrscheinlich auf Druck ihrer Untergebenen, die die Tatsache, dass sie von einer Frau regiert wurden, als untragbar erachteten. In späteren Bildnissen ließ sie sich deshalb nur noch als Mann darstellen.« Er deutete auf die umliegenden Säulenarkaden. »Das hier ist übrigens das bedeutendste Bauwerk, das in ihrer zweiundzwanzigjährigen Herrschaftszeit entstanden ist. Ihr eigener Totentempel.«
Hannah schlang die Arme um sich. Sie schien sich unwohl zu fühlen bei der Vorstellung, wie viele Jahre die Ägypter damals mit dem Gedanken an den eigenen Tod verbracht hatten. Andererseits war der Tempel zu einer Zeit entstanden, als die Menschen den Tod als etwas Willkommenes erachteten, als etwas, vor dem man keine Angst zu haben brauchte. Doch er konnte sie verstehen. Irgendwie hatten Totenkulte immer etwas Beängstigendes.
»Was muss ich noch über sie wissen?«, fragte sie.
»Hatschepsut führte eine für ihre Zeit ungewöhnliche Expedition durch«, sagte John. »Eine Expedition über Land. Dass sie sich auf diesem Weg in eine unbekannte Gegend vorwagten, war außergewöhnlich. Die Ägypter waren ein Volk von Seefahrern und Schiffsbauern. Trotzdem hat die Pharaonin eine solche Expedition ins Leben gerufen. Ein gewaltiges Unterfangen in jener Zeit.«
»Und wohin führte die Reise?«
»Ins Land Punt, vermutlich das heutige Somalia. Von dort brachte die Expedition neben Gold und Edelsteinen auch Weihrauch, Ebenholz sowie eine Fülle exotischer Pflanzen mit. Die Puntreise gilt als die erste botanische Expedition überhaupt.« Er blieb stehen. »Sieh mal dort hinüber.« Er deutete in Richtung Südwesten, auf eine Halle, die ein Stockwerk unter der ihren lag. »Dort drüben findest du Fresken, die ausschließlich von dieser Expedition handeln. Sehr interessant übrigens die Darstellung der Herrscherin von Punt. Sie ist so überdimensioniert und fett dargestellt, dass die Gelehrten heute noch darüber streiten, ob dies eine natürliche Darstellung sein soll.«
»Und nach zweiundzwanzig Jahren Herrschaft starb sie? Einfach so?«
John warf Hannah einen vielsagenden Blick zu. »Natürlich nicht einfach so. Wir reden hier von den Ägyptern.« Er zuckte mit den Schultern. »Nein, vermutlich wurde sie umgebracht. Sie war zu mächtig geworden, und obendrein war sie ja eine Frau. Das passte vielen Leuten nicht in den Kram. Noch Jahrhunderte später wurden viele ihrer Abbildungen ausradiert. Gelöscht, zerstört, vernichtet, wie du willst.«
»Charmant.«
Sie waren jetzt weit genug in den hinteren Teil des Allerheiligsten vorgedrungen. An diesen Ort fiel kaum noch Tageslicht. John drehte den Kopf, dann nickte er zufrieden.
»Hier sind wir richtig«, sagte er. »Es ist gleich hier drüben, komm.«
Er kramte in seiner Umhängetasche und holte eine Taschenlampe hervor, durch deren abgewetzte Lackschicht das blanke Metall schimmerte. Der Lichtstrahl schnitt wie ein Skalpell durch die Dämmerung. John schritt die linke der hinteren Begrenzungsmauern entlang, während er seine Hand über den Sandstein gleiten ließ. Seine Finger tasteten über Wölbungen und Einbuchtungen, die in jahrelanger Arbeit kunstvoll aus dem Stein geschlagen worden waren. Hatschepsut galt als Gründerin der rundplastischen Abbildung, einer Reliefform, die besonders weich und naturalistisch anmutete. Die Szenen zwischen Menschen und Göttern wirkten wie aus einem Bilderbuch.
»Hier.« Er blieb stehen und deutete auf eine Darstellung, die den Wechsel der Jahreszeiten darstellte. Zu sehen waren der Nil bei Hoch- und bei Niedrigwasser, Aussaat und Ernte, die Wanderung von Sonne und Mond sowie der Wandel der Gestirne. Dazwischen war die Abbildung eines Schiffes zu sehen: einer Sonnenbarke.
Hannahs Augen glänzten, als sie das Relief bestaunte. Die Darstellung zeugte von besonderem Können. Selbst die feine Holzmaserung war zu erkennen.
Hannah holte ihre Fotografie hervor und hielt sie neben den Stein.
»Sie ist kleiner, als ich sie mir vorgestellt habe.«
»Trotzdem ist sie eines der wichtigsten Symbole des alten Ägyptens«, erläuterte John. »Auf ihr tritt der Sonnengott seine tägliche Fahrt über den Himmel an. Er beginnt seine Fahrt als Chepre, das Kind, setzt sie mittags, zum Mann gereift, als Re fort und beendet sie abends als Atum, der Greis – nur, um sich am folgenden Tag wieder zu erneuern, in einem immerwährenden Kreislauf. Übertragen auf die Lebensspanne eines Menschen, gewinnt diese Vorstellung eine tiefe Symbolik, findest du nicht?« Er beobachtete Hannah aus dem Augenwinkel heraus. »Verrätst du mir jetzt, was es damit auf sich hat?«
»Weiß ich noch nicht.« Sie schien irgendwie abgelenkt. Ihre Augen huschten hin und her, als suchten sie etwas.
»Nicht?« John blickte sie verwundert an. »Wolltest du nicht den Beweis für die Verbindung zwischen Ägyptern und Nordeuropäern haben? Hier ist er. Dasselbe Symbol. Sogar die Linien auf der Schiffsseite sind identisch. Hier drüben sind Sonne und Mond dargestellt, hier die Scheibe, da die Sichel, genau wie auf der Himmelsscheibe.«
»Stimmt.«
John runzelte die Stirn. »Ich habe den Eindruck, du suchst gar nicht nach der Sonnenbarke.«
Ein schmales Lächeln huschte über ihren Mund. »Du kennst mich viel zu gut.«
John stemmte die Hände in die Hüften. »Raus mit der Sprache: Was ist es?«
Hannah tippte mit dem Finger auf den Sandstein. »Das hier.«
John trat näher. Er blickte auf eine seltsame Gruppe von Punkten am steinernen Himmel, die wie der Pfotenabdruck eines kleinen Tieres wirkte.
Hannah blies etwas Staub fort, der sich dort angesammelt hatte. »Darf ich mal deine Taschenlampe haben?«
Er reichte sie ihr, und sie ließ den Lichtstrahl über die betreffende Stelle wandern. Dabei blickte sie immer wieder auf die Fotografie. »Sieben«, sagte sie leise. »Es sind genau sieben.«
John nickte. »Die Plejaden? Ist es das, was du gesucht hast?«
Hannah nickte. »Tu einfach so, als hättest du es mit einem total Ahnungslosen zu tun, und erzähl mir mal, was du darüber weißt. Immerhin bist du ja Astroarchäologe.«
Täuschte er sich, oder lag da ein Hauch Ironie in ihrer Stimme? Lächelnd wandte er sich der Felsdarstellung zu. Dann sagte er: »Na gut: Preisfrage. Was haben die Plejaden mit japanischen Autos gemeinsam?«
Hannah runzelte die Stirn. »Willst du mich auf den Arm nehmen?«
»Keine Idee?« Sein Lächeln wurde breiter.
»John, bitte.«
»Na gut. Subaru. Schon mal gehört? Der japanische Ausdruck für das Siebengestirn.«
Hannahs Gesicht blieb ausdruckslos.
»Die Automarke.«
»John.«
Enttäuscht zuckte er mit den Schultern. Es war unübersehbar, dass sein Humor auf unfruchtbaren Boden gefallen war. »Also schön. Was willst du wissen?«
»Alles. Nur nichts über japanische Autos.«
»Trockene Fakten also«, sagte er. »Ganz wie du willst.« Er musste kurz in seinem Gedächtnis kramen, um die Fakten abzurufen. »Die Plejaden sind ein offener Sternenhaufen im Sternbild des Stiers. Sie umfassen etwa fünfhundert relativ junge Sterne, die in einen blau leuchtenden Nebel eingebettet sind. Die Entfernung zur Erde beträgt etwa vierhundert Lichtjahre. Astronomisch gesprochen, liegen sie also in unmittelbarer Nachbarschaft. In der griechischen Mythologie waren die Plejaden die sieben Töchter des Atlas, die von Zeus an den Himmel versetzt worden sind, zum Schutz vor dem Jäger Orion. Gemeinsam mit den Hyaden bilden sie das Goldene Tor der Ekliptik. Dieser Name rührt zum einen daher, dass sie in ihrer Mitte von der scheinbaren Sonnenbahn durchzogen werden, und zum anderen vom Umstand eines sich verschiebenden Frühlingspunktes. Noch bis etwa zweitausend vor Christus lag dieser Punkt, den man seit jeher mit Wachstum und Fruchtbarkeit gleichsetzte, im Sternbild des Stiers. Im Laufe der Jahrhunderte ist er jedoch nach Nordwesten gewandert.«
»Aha.« Hannahs ratlosem Gesichtsausdruck nach zu schließen, hatte sie nur die Hälfte verstanden. »Würdest du sagen, die umliegenden Sternenbilder hier an der Wand entsprechen in etwa dem Nachthimmel, wie er vor dreitausendfünfhundert Jahren über dem Nil zu sehen war?«
John nahm Hannah die Taschenlampe aus der Hand und trat einen Schritt zurück. »Also hier im Norden ist Auriga, der Fuhrmann, zu sehen, Lepus, der Hase, im Süden, im Osten Gemini, die Zwillinge. Aries, der Widder, im Westen. Ja, alles da, soweit ich das beurteilen kann.«
»Wie würde sich der Himmel einige tausend Kilometer weiter nördlich darstellen?«
»Du meinst dort, wo die Scheibe gefunden wurde?«
»Ja.« Hannah warf ihm einen gespannten Blick zu.
»Genauso. Nur alles in Richtung Süden verschoben.«
»Etwa in dieser Art?« Sie hob die Fotografie in den Lichtkegel.
John verglich die Darstellung der Himmelsscheibe mit dem Relief und runzelte die Stirn. Hier stimmte gar nichts. Nicht ein einziger Stern war da, wo er hingehörte. Während auf der ägyptischen Darstellung die Sternbilder genau rekonstruiert worden waren, herrschte auf der Himmelsscheibe ein einziges Durcheinander, ein beinahe willkürlich anmutendes Chaos. Das war in der Tat höchst ungewöhnlich.
»Jetzt siehst du, vor welchem Problem ich stehe«, sagte Hannah.
»Seltsam«, sagte John. »Man dürfte doch annehmen, dass die Erbauer, wenn sie sich schon die Mühe machen, eine Scheibe zu konstruieren, mit der sich der Lauf der Gestirne und der Jahreszeiten festlegen lässt, auch die umgebenden Sternbilder halbwegs korrekt abbilden würden. So schwierig ist das nicht. Die betreffenden Sterne sind mühelos mit bloßem Auge zu erkennen.«
»Nicht nur das«, sagte Hannah, während sie auf das Foto blickte. »Die Erbauer scheinen jegliche Übereinstimmung tunlichst vermieden zu haben. Wir haben das Muster wieder und wieder durch den Computer laufen lassen, vergeblich. Danach haben wir das Programm umgeschrieben, in der Hoffnung, vielleicht irgendwelche Muster zu erkennen. Fehlanzeige. Die Verteilung erscheint völlig willkürlich.«
John legte die Stirn in Falten. »Vielleicht ist genau das beabsichtigt gewesen, auch wenn es keinen Sinn ergibt.«
»Nein.« Hannah schüttelte entschieden den Kopf. »Nichts an dieser Scheibe ist willkürlich. Sie ist bis ins Kleinste durchdacht und gearbeitet. Warum sollten ihre Erbauer ausgerechnet an diesem Punkt schlampig werden? Es gibt ein Muster, das spüre ich. Wir haben es nur noch nicht gefunden.« Sie ließ die Schultern hängen, und mit einem Seufzen sagte sie: »Seit einem Dreivierteljahr sitze ich vor diesem Problem und bin noch keinen Schritt weitergekommen. Es ist zum Verzweifeln.«
»Was hat dir dann die Reise nach Ägypten überhaupt gebracht? Ich meine, abgesehen von der Gelegenheit, mich wiederzusehen.« Er setzte sein charmantestes Lächeln auf. Doch Hannah schien nicht nach Flirten zumute zu sein. »Ich weiß nicht«, sagte sie, und ihre Stimme war durchzogen von tiefer Resignation. »Irgendwie hatte ich gehofft, eine Spur zu finden. Hätten die Ägypter ihren Sternenhimmel ebenfalls als chaotisches Muster dargestellt, so hätte man daraus schließen können, dass diese Art der Darstellung für diese Epoche eben üblich gewesen ist. Jetzt aber muss ich mir eingestehen, dass es, bei aller Ähnlichkeit, eben doch bedeutende Unterschiede gibt. Unterschiede, die das Rätsel um die Scheibe noch größer machen.« Enttäuscht rollte sie die Fotografie zusammen und packte sie zurück in ihre Umhängetasche. »Ich fürchte, ich habe dich völlig umsonst herbestellt. Bitte verzeih mir.«
»Für mich hat sich der kleine Ausflug auf jeden Fall gelohnt. Immerhin durfte ich dich wiedersehen.« Er musterte sie aufmerksam. »Was wirst du jetzt tun?«
Hannah seufzte. »Keine Ahnung. Wie es scheint, werde ich nach meiner Heimkehr wieder bei null anfangen müssen. Ich weiß noch gar nicht, wie ich das meinem Chef beibringen soll.« Ungehalten klemmte sie sich die Tasche unter ihren Arm und wandte sich zum Gehen. »Zerbrich dir nicht den Kopf meinetwegen. Ich komme schon klar. Auf jeden Fall bin ich dir über alle Maßen dankbar, dass du dir die Zeit genommen hast.«
»Du wirst mich doch auf dem Laufenden halten, oder?«, fragte John. »Wenn du ein Problem hast, melde dich bitte. Ich würde dir gerne helfen, wo immer ich kann.«
Hannah zögerte. Tausend Gedanken schienen ihr im Kopf herumzuschwirren, tausend Worte, die unausgesprochen waren. Für einen kurzen Moment glaubte John, es käme doch noch zu der erhofften Aussprache. Doch dann entschied sie sich für die kurze Fassung.
»Danke«, sagte sie. »Danke für alles, und lebe wohl.«
John beobachtete, wie sie den Tempel verließ und auf der großen Prachttreppe in Richtung Fluss ging. Immer kleiner und kleiner wurde sie, während ihr Schatten sich langsam in der unendlichen Weite der Wüste verlor. Eine unerwartete Traurigkeit überfiel ihn. Auf einmal erinnerte er sich an alles, was er ihr noch hatte sagen wollen, all die Fragen, die er noch hatte stellen wollen. Zu spät.
Als sie nur mehr stecknadelkopfgroß war, drehte er sich um und ging in Richtung des Ostflügels. Nicht mehr lange, und die Touristen würden wie die Heuschrecken einfallen, schwatzend, lärmend und von dem Geräusch unentwegt klickender Fotoapparate umgeben. Seinen Schritt beschleunigend, durchquerte er die Ruhmes- und die Krönungshalle, schritt vorbei an dem Brunnen des Lebens und der Pforte des Sonnengottes. Als er die Statue von Thutmosis erreicht hatte, blieb er stehen. Obwohl niemand zu sehen war, wusste er, dass er nicht allein war.
»Ist sie fort?«
Die Stimme kam hinter der nächsten Säule hervor. Eine kräftige dunkle Männerstimme mit einem seltsamen Akzent. John bemerkte eine Bewegung im Sand. Einer der Schatten hatte seine Position verändert. Für einen kurzen Moment war er versucht, zu dem Besucher hinüberzugehen, verwarf den Gedanken aber wieder. Es gab sicher einen Grund, warum er unentdeckt bleiben wollte.
»Ja«, entgegnete John. »Sie ist gegangen.«
»Gut. Es ist besser, wenn sie von meiner Anwesenheit nichts erfährt. Haben Sie das Gespräch aufgezeichnet?«
John tastete nach dem verborgenen Aufnahmegerät. »Ja. Müsste geklappt haben.«
»Sehr gut. Und die Fotografien?«
John überprüfte den Sitz der Mikrokamera an seinem Kragenknopf. Der Auslöser war mit seiner Armbanduhr gekoppelt. »Ich habe getan, was Sie mir gesagt haben. Das Relief, die Fotografie und natürlich Hannah selbst. Alles drauf, vorausgesetzt, Ihre Technik hat funktioniert.«
»Seien Sie unbesorgt.« Der Mann gab ein Lachen von sich, das wie ein Räuspern klang. »Die Geräte haben noch nie versagt.«
Eine Pause entstand, und dann sagte John: »Wenn Sie mich fragen, ich glaube, Hannah ist da auf eine hochinteressante Sache gestoßen.«
»Die Verteilung der Sterne?«
»Allerdings«, sagte John. »Hannah hat recht. Ich glaube auch nicht, dass das Zufall ist. Wenn ich zurück bin, würde ich die Sache gern überprüfen.«
»Tun Sie das. Nehmen Sie sich ein ganzes Team, wenn es nötig ist. Und wenn Sie recht haben, zögern Sie nicht, Frau Peters die Informationen zuzuspielen. Vermutlich genügt ein kleiner Hinweis, um die Sache ins Rollen zu bringen.«
John nickte. »Ich hoffe nur, dass wir sie damit nicht in Gefahr bringen. Ehrlich gesagt, mir ist nicht ganz wohl dabei. Wenn es stimmt, was Sie mir an Informationen gegeben haben, ist an der Scheibe mehr dran, als wir ahnen.«
»Lassen Sie das meine Sorge sein. Wenn ich recht habe – und ich irre mich selten –, dann könnte das einer der bedeutendsten Funde werden, an dem Sie und ich, und vor allem Frau Peters, jemals beteiligt waren. Und ich glaube, sie kann einen Erfolg in der jetzigen Situation gut brauchen.«
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4
Donnerstag, 17. April
Die Frau schritt in Begleitung einer kräftig gebauten Beamtin durch den mit grünem PVC ausgelegten Gang der Landesvollzugsanstalt Halle an der Saale. Sie trug keine Handschellen oder vergleichbare Fesseln. Auch ihre Kleidung ließ nicht darauf schließen, dass sie bereits viele Jahre hinter Gittern verbracht hatte. In Trainingshose und Sweatshirt gekleidet, die Füße in abgewetzten Sportschuhen steckend, hätte man sie nie für eine Mörderin gehalten. Doch genau das war sie. Eine Killerin. Sie hatte jemanden umgebracht. Kalt, geplant und mit tiefer innerer Überzeugung.
Ihr Stiefvater war ein Schwein gewesen. Ein Säufer und Choleriker, wie er im Buche stand, mit einem Hang, sich vorzugsweise an Wehrlosen zu vergreifen. In diesem Fall an einer Mutter und ihren beiden Töchtern. Cynthia war zum Zeitpunkt der Tat gerade vierundzwanzig geworden und somit dem vollen Strafmaß ausgesetzt gewesen. Fünfzehn Jahre, so hatte das Urteil gelautet. Es hätte genauso gut siebenhundert Jahre lauten können, ihr wäre es egal gewesen. Damals hätte sie den Schlüssel am liebsten für immer fortgeworfen, hätte sich am liebsten für immer hinter Beton, Glas und Stahl versteckt. Nie wieder wollte sie in die normale Welt zurückkehren, das hatte sie sich geschworen.
Die Frau, die an diesem Donnerstagmorgen durch den Gang schritt, hatte mit der Cynthia von einst nichts mehr gemeinsam. Die ersten Jahre im geschlossenen, später im offenen Vollzug hatten aus ihr einen neuen Menschen gemacht. Nicht unbedingt einen besseren, nur einen anderen. Schritt für Schritt war sie wieder ins Leben zurückgekehrt, hatte Personen getroffen, die sie mochte und denen sie etwas bedeutete, hatte eine Ausbildung zur Pflegerin gemacht und seit kurzem damit begonnen, schwerstbehinderte Kinder zu betreuen – eine Aufgabe, die sie mit tiefer innerer Zufriedenheit erfüllte. Zwischen acht und achtzehn Uhr leitete sie eine Gruppe, die sie liebevoll »Downies« nannte, Kinder, die unter Trisomie-21 litten. Sie spielte mit ihnen, bastelte, machte Ausflüge, ging mit ihnen zum Essen, brachte sie auf die Toilette – kurzum, sie war wie eine Mutter zu ihnen. Dass man ihr eine solch verantwortungsvolle Stelle angeboten hatte, zeigte, für wie vertrauenswürdig man sie hielt. Die Tatsache, dass sie über Nacht wieder zurück in den Bau musste, änderte nichts daran. Cynthia hatte sich in all den Jahren nicht das Geringste zuschulden kommen lassen, galt als intelligent, aufmerksam und zurückhaltend. Dass sie nebenher ihren ersten Dan im Taekwondo abgelegt hatte, bereitete niemandem Kopfzerbrechen. Es unterstrich ihren Ehrgeiz, ins normale Leben zurückkehren zu wollen. Noch drei Jahre, dann hatte sie es geschafft, dann war sie wieder ein freier Mensch.
»Cynthia Rode?« Der Wachhabende, der vor dem Besucherraum stand, war neu hier. Ein junger, gutaussehender Bursche von vielleicht fünfundzwanzig Jahren und, wie es schien, noch grün hinter den Ohren.
»So ist es.«
Der Mann nickte und zeichnete auf seinem Klemmbrett etwas ab. »Sie dürfen eintreten. Man erwartet Sie bereits.«
Sie verabschiedete sich von der Beamtin, die sie begleitet hatte, und betrat den Besucherraum. Es war ein spartanisch eingerichtetes Zimmer, das jedoch geradezu anheimelnd wirkte, verglichen mit den Besucherzellen im geschlossenen Vollzug. Hier standen ein Tisch mit vier Stühlen, ein paar Bücherregale sowie eine modern wirkende Ledercouch, die das Zimmer von der rechten Seite aus dominierte. Ein Mann saß darauf. Knappe vierzig, hochgewachsen, das dunkle Haar ordentlich gescheitelt. Er trug eine teuer aussehende Brille mit dunklem Rand und musterte sie eingehend. Sein markantes Gesicht wurde von einer Narbe dominiert, die sich von seiner Oberlippe bis kurz unter das rechte Auge zog. Er erhob sich, als die Frau das Zimmer betrat.
»Cyn.« Er ging auf sie zu, die Hand zum Gruß ausgestreckt. »Es tut mir leid, dass ich einfach so hier hereinplatze, aber ich muss für ein paar Tage verreisen und wollte dir vorher die frohe Botschaft unbedingt persönlich mitteilen.«
Die Hand ignorierend, schlang die Frau ihre Arme um ihn und drückte sich an ihn. Der Mann, irritiert über so viel stürmische Wiedersehensfreude, zögerte kurz, erwiderte dann aber die Umarmung.
Als er Tränen an seinem Hals spürte, löste er sich wieder von ihr. »Was ist denn los?«, fragte er. »Warum so emotional heute?«
Sie wischte sich über die Augen. »Ach nichts. Irgendetwas liegt in der Luft. Ist vielleicht der Mond. Ich heule heute wegen jeder Kleinigkeit. Und dich wiederzusehen … es ist so unerwartet.«
»Ja, ich weiß, ich hätte mich viel früher blicken lassen sollen, aber der Job frisst mich momentan auf. Das vergangene Jahr war die Hölle. Ein Termin jagte den anderen. Ständig musste ich zwischen den USA und Deutschland hin- und herreisen. Aber was erzähle ich? Bitte entschuldige, du bist hier drin und ich draußen. Jammern auf hohem Niveau nennt man das, glaube ich. Das war wirklich blöd von mir.« Er bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln.
Cynthia kramte in ihrer Trainingshose und förderte ein benutztes Taschentuch zutage. Nachdem sie sich ausgiebig die Nase geputzt hatte, sagte sie: »Sie behandeln mich gut hier, wirklich. Essen ist okay, ich habe eine Arbeit, und an den Resozialisierungsseminaren nehme ich mittlerweile mit viel Humor teil. Also alles im grünen Bereich.«
Der Mann setzte sich wieder und klopfte neben sich auf das Polster. »Die Arbeit mit den Kindern gefällt dir, oder?«
»Oh ja. Es gibt nichts, was ich lieber täte.« Cynthia wischte sich die letzte Träne aus dem Augenwinkel und setzte sich neben ihn. »Es ist wirklich ein ganz besonderer Job. Sie sind so … so ehrlich, verstehst du? Ich habe noch nie so aufrichtige und herzliche Menschen kennengelernt. Keine Falschheit, keine Lügen, keine niederen Absichten. Nur offene Gesichter. Wenn sie Angst haben, suchen sie Schutz, und wenn sie jemanden nicht mögen, dann sagen und zeigen sie das sofort. Klar muss man aufpassen, manchmal gibt es Streit, und wenn sie in die Pubertät kommen, kann es schon mal schwieriger werden. Manche von ihnen haben dann nur noch Sex im Kopf, aber das habe ich im Griff. Wir machen ein paar Witze oder unternehmen etwas, das bringt sie auf andere Gedanken. Außerdem ist nichts Verwerfliches dran. Wir reden drüber und lachen, und es ist in Ordnung so.« Sie faltete ihre Hände zwischen den Knien. »Danke, dass du mir diesen Job besorgt hast. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich getan hätte.«
»Wenn dir an dem Job so viel liegt, habe ich eine gute Nachricht für dich. Die Heimleitung hat sich bereit erklärt, die Probezeit in eine unbefristete Anstellung umzuwandeln.«
»Was?« Cynthia hob die Augenbrauen. »Dazu müsste ich im Heim wohnen, und das ist, wie du weißt, unmöglich. Wenn ich nicht pünktlich um neunzehn Uhr hier wieder auf der Matte stehe, bekomme ich mächtigen Ärger.«
»Das wird künftig anders sein«, sagte der Mann, und ein feines Lächeln umspielte seinen Mund. Er griff in die Tasche und förderte einen Stapel sehr amtlich aussehender Dokumente zutage. »Die Berufungsverhandlung war erfolgreich. Deinem Antrag auf vorzeitige Entlassung wegen guter Führung wurde stattgegeben. Am Montag kommst du hier raus. Auf Bewährung, versteht sich.«
»Eine Berufung? Was für ein Antrag?«
Sein Lächeln wurde breiter. »Habe ich dir nicht davon erzählt? Wie unachtsam von mir.« Er schüttelte den Kopf in gespielter Selbstzerknirschung. »Nein, im Ernst: Ich habe das für dich geregelt. Wäre es schiefgegangen, hättest du davon nichts erfahren. Aber wir hatten Glück. Sie haben dem Antrag stattgegeben. In vier Tagen bist du hier raus. Wie findest du das?«
»Wie ich das finde …? Mein Gott.« Cynthia glaubte, ihr Herz würde aussetzen. Sie schlug die Hände vor den Mund. Sie würde rauskommen. Drei Jahre früher als erwartet.
»Ich kann das nicht glauben. Seit wann weißt du es?«
»Die Dokumente kamen Mittwoch mit dem Kurier. Da ich aber ab Montag unterwegs war und mich keiner aus der Kanzlei benachrichtigt hat, habe ich sie erst gestern Abend gelesen. Zu spät, um dich noch anzurufen. Aber ich dachte, es wäre ohnehin besser, dir diese Nachricht persönlich mitzuteilen.«
Sie sprang auf und schlang erneut ihre Arme um ihn. Diesmal war er vorbereitet. Er erwiderte die Umarmung.
»Danke.« Das war alles, was Cynthia in diesem Moment über die Lippen kam.
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