Verlorene Zeiten?

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Im Hinblick auf die Ereignisse von 1989 betonten Sie auch den patriotischen Aspekt.

Ohne eine solche Position hätte ich nicht sagen können: „Deutschland einig Vaterland“. Denn das war ja die Überschrift, unter der ich am 1. Februar 1990 den Vorschlag einer Drei-Stufen-Entwicklung zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten vorlegte. 15 Aber ich kann auch zurückgreifen, das habe ich Ihnen ja eben schon erzählt: Wenn die andern im LEW damals gesagt haben, ich sei Russe, dann hab’ ich immer entschieden entgegengehalten: „Ich bin wie du ein Deutscher.“ Meine Auffassung war: Wenn du diese Last, die mit der deutschen Geschichte, mit dem Zweiten Weltkrieg verbunden ist, nicht als Deutscher mittragen willst, wirst du dich immer rausstehlen wollen. Du hast dich an der Wiedergutmachung beteiligt und bist nicht schlechthin nur Kriegsgefangener gewesen. Und die Deutschen haben die verfluchte Pflicht, all’ das auch für sich selber anzunehmen. Als dann aber 1989 die Losung ,Wir sind das Volk‘ in ,Wir sind ein Volk‘ überging, da wollte ich nicht dieses Volk, wovon die draußen geschrien haben. Da wollte ich, dass wir als Deutsche mit Souveränität aufeinander zugehen können. Für mich gab es zwei souveräne Staaten. Und nur, wenn die sich gegenseitig akzeptieren und achten – und zwar auch die Leistungen der Menschen in beiden Ländern –, nur dann wird es funktionieren. Das habe ich ja auch bei dieser historischen Pressekonferenz am 13. Februar 1990 in Bonn gesagt: „Lassen wir uns unseren aufrechten Gang als Bürger der DDR nicht nehmen!“ Wenn man sein Selbstbewusstsein nicht behält, muss man alles akzeptieren, was der andere sagt.

Es gibt viele Menschen, die froh sind, dass es die DDR nicht mehr gibt.

Ich erlebe zunächst umgekehrt viel mehr Leute, die mich fragen: „Haben Sie das so gewollt, wie es jetzt ist?“ Die betonen häufig: „Ich war nicht in der SED, Herr Modrow, aber so, wie es jetzt ist, so kann’s doch nicht gut sein. Ich bin nun die Oma und muss für meine Enkel mitsorgen, das war doch in der DDR nicht so.“ Das sind Dinge, die ganz nah am Alltag sind. Da ist nach einem gelebten Leben in der DDR einfach eine Unsicherheit dem gegenüber, womit man jetzt konfrontiert ist. Es gibt auch Menschen, die kommen und sagen: „Herr Modrow, noch mal vielen Dank, mit dem ,Modrow-Gesetz‘ 16 konnte ich mein Haus behalten. Ohne Ihr Gesetz wäre ich aus meinem Haus schon lange verjagt. Über manches andere sind wir nicht in Übereinstimmung – aber das habe ich Ihnen zu verdanken, und das sollen Sie auch wissen.“

Aber de facto gibt es die DDR nicht mehr. War Ihr Einsatz für ein anderes Deutschland also umsonst?

Als ich die ersten Male im Deutschen Bundestag auftrat, bin ich angegriffen worden aus allen Himmelsrichtungen. Da ist mir zunächst erst mal eines wieder beigebracht worden: Klassenkampf muss es doch irgendwie geben! Denn wenn da ein Graf Lambsdorff mich angreift, weil ich dafür Sorge getragen habe, dass die Bodenreform gültig bleibt, 17 kann ich mir nur sagen: „Ja, der hatte im Osten mit seinem Geschlecht irgendwo ein großes Gut; und wir waren zweifellos eine Familie, die auf dem Gutshof hätte arbeiten müssen.“ – Also musst du dich wehren. Du musst dafür argumentieren, dass die Bodenreform richtig war. Das ist immer wieder Geschichte, die mich begleitet. Geschichte, an der ich teilhabe. Geschichte, auf die ich eine andere Sicht habe. Ich weiß auch, wie viele Fragen am Ende in solchen Auseinandersetzungen aufgrund unterschiedlicher Sichtweisen strittig bleiben.

Es gab in der DDR nicht nur soziale Gerechtigkeit. Es gab auch den jungen Punk, der ins Gefängnis gekommen ist oder den Bürgerrechtler, der überwacht wurde. Was sagen Sie denen im Nachhinein?

Da kann ich nichts anderes sagen, als dass die Existenz solcher Schicksale in der DDR nichts ist, was man verteidigen kann. Zugleich kann ich nicht sagen, dass es so etwas nur in der DDR gab. Wir selbst haben früher gedacht, diese Dinge laufen bei uns nicht so ab; und wenn, dann haben wir sie entschuldigt, verteidigt und beschönigt. Das sollte man heute nicht mehr tun. Gleichzeitig sollte man daraus aber nicht ableiten, dass der andere Teil der Welt so etwas nicht gemacht hat und nicht immer noch macht! Das passt nicht zusammen.

Gibt es etwas, was Sie an der Bundesrepublik schätzen?

Es wäre falsch zu sagen, dass man an der Bundesrepublik nichts zu schätzen hat. Das wäre völlig irre. Ob die Entwicklungen nach der ,Wende‘ dann wiederum die konstruktivsten waren, da beginnen dann meine Zweifel. Das sind aber Zweifel, die mit der Politik von heute zu tun haben – und die möchte ich bitteschön auch anmelden dürfen!

Das Gespräch führte Alexander Thomas

1 Heute Police, Polen.

2 Die Schriftsteller Günter Grass (*1927) und Erwin Strittmatter (1912-1994) verschwiegen beide ihre Verwicklungen mit der SS. Strittmatter diente seit 1941 bei einer Einheit der Ordnungspolizei, die dann der SS unterstellt wurde; das Regiment war an Kriegsverbrechen in Griechenland beteiligt. In der DDR gehörte Strittmatter mit zahlreichen Romanen zu den meist gelesenen Autoren.

3 Die KPdSU richtete in Zusammenarbeit mit den Emigranten der Kommunistischen Internationale während des Zweiten Weltkriegs Schulen ein, um kommunistisch gesinnte Nachwuchspolitiker für den europäischen Wiederaufbau auszubilden.

4 Den beiden deutschen Staaten war die Aufstellung eigener Streitkräfte nach 1945 von Seiten der Siegermächte nicht erlaubt. Als Vorläufer der NVA, die 1956 gegründet wurde, wurden in der DDR seit 1948 bewaffnete Einheiten der Volkspolizei in Kasernen untergebracht. 1952 entstand daraus die Kasernierte Volkspolizei.

5 Anna Seghers (1900-1983) und Willi Bredel (1901-1964) waren Vertreter der antifaschistischen bzw. kommunistischen Exilliteratur. Der Roman ,Wie der Stahl gehärtet wurde‘ von Nikolai A.Ostrowski (1904-1936) erzählt teilweise autobiographisch vom Kampf eines russischen Revolutionärs. Er erschien zuerst 1932/34 und gehörte in der DDR zur Pflichtlektüre in der Schule.

6 Robert Naumann (1900-1978), ging als Werkzeugmacher und Parteifunktionär 1920 in die Sowjetunion. Er studierte dort Politische Ökonomie; 1930-43 arbeitete er im Sekretariat der Komintern, 1943-1950 als Lehrer und stellvertretender Leiter der Antifa-Schulen; 1950 übernahm er eine Professur für Politische Ökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin und wurde Prorektor der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften. Er war Mitglied des ZK der SED.

7 Lokomotivbau Elektrotechnische Werke.

8 Komsomol - die Jugendorganisation der KPdSU und Pendant zur FDJ.

9 Lawrenti P. Beria (1901-1953), als sowjetischer Politiker lange Zeit berüchtigter Chef des Geheimdienstes NKWD. Beria wurde nach Stalins Tod 1953 erschossen.

10 Erich Honecker (1912-1994), späterer Generalsekretär der SED und Vorsitzender des Staatsrates der DDR, war 1946-1955 Vorsitzender der FDJ.

11 Willy Stoph (1914-1999), zuletzt Vorsitzender des Ministerrates der DDR.

12 Egon Krenz (*1937), seit 1983 Mitglied des Politbüros und dann als Stellvertretender Vorsitzender des Staatsrates der DDR der ,zweite Mann‘ hinter Erich Honecker. Während der ,Wende‘ von Oktober bis Dezember 1989 maßgeblicher SED-Politiker.

13 Das Politbüro des Zentralkomitees der SED war als oberstes Parteiorgan zugleich das Machtzentrum der Politik der DDR. Die staatlichen Ministerien und der Ministerrat hatten dagegen nur untergeordnete Bedeutung, zumal dessen Vorsitzender zugleich Mitglied des Politbüros war.

14 Harry Tisch (1927-1995), Mitglied des Politbüros und seit 1975 Vorsitzender der SED-treuen Einheitsgewerkschaft FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund)

15 Am 1. Februar 1990 legte Hans Modrow einen Plan für die deutsche Vereinigung vor, der ein gleichberechtigtes Zusammengehen von DDR und BRD vorsah.

16 Ein von der Regierung Modrow am 7. März 1990 erlassenes Gesetz ermöglichte es Eigentümern von Wohnhäusern, die dazu gehörigen Grundstücke rechtmäßig zu erwerben. Auf diese Weise blieben sie vor Restitutionsansprüchen der Vorbesitzer geschützt.

17 Durch die ,Bodenreform‘ auf dem Gebiet der DDR wurden nach 1945 Landbesitzer enteignet. Das Land wurde an Kleinbauern verteilt, die später in die staatlichen LPG überführt wurden. Ein weiteres von der Regierung Modrow erlassenes Gesetz vom 16. März 1990 bestätigte die Enteignungen und verhinderte so die Rückübertragung des Grundbesitzes nach der Deutschen Einheit.

Kurt Pätzold
„Mir kamen stets die Historiker lächerlich vor, die sich über Geschichte beschweren.“ - Kurt Pätzold, geboren 1930


Der ,Erziehungsdiktator‘ – so nennt der Historiker Kurt Pätzold sich selbst in seinen Erinnerungen. 1 Pätzold schlug nach 1989 viel Feindschaft entgegen. An der Berliner Humboldt-Universität wurde er wegen seiner Beteiligung an so genannten Relegationen zwischen 1968 und 1976 heftig angegriffen.

Damals waren junge Menschen wegen ihrer Sympathien mit dem ,Prager Frühling‘ von der Universität geworfen worden. Pätzold hatte jedoch nicht ihren Rauswurf, sondern mit „studienverschärfenden Sondermaßnahmen“ ein fachlich anspruchsvolleres Studium gefordert. Pätzold war stets umstritten – schon während seiner Studentenzeit in Jena. Das Schicksal des Jenenser Historikers Karl Griewank in den 1950er Jahren sorgt bis heute für den Vorwurf, dessen kommunistische Studenten hätten ihn geradezu in den Selbstmord getrieben. 2 Nach 1989 bot Pätzold zahlreiche Angriffsflächen, denn er war nicht nur ein akribischer Wissenschaftler, sondern seit seiner Jugend auch ein scharfzüngiger politischer Agitator. Zudem ging er nach dem Systemwechsel nicht in Deckung, sondern entschuldigte und verteidigte sich beredsam.

 

Pätzold, ein marxistischer Hardliner? Als Historiker ist Pätzolds Spezialgebiet die Zeit zwischen 1933 und 1945 in Deutschland, die Zeit des Faschismus‘. Hier erforschte er insbesondere die Vorgeschichte der Morde an den europäischen Juden. Er versuchte, den Zusammenhang zwischen dem kühlen, imperialistischen Interesse der kapitalistischen Gesellschaft und der wahnhaften Verfolgung und Vernichtung der Juden nachzuweisen. Auch einige westdeutsche, britische und amerikanische Historiker setzten sich mit seiner marxistischen Deutung auseinander, sodass es bei der Deutung des Holocaust zu erstaunlichen Annäherungen zwischen Ost und West kam.

Kurt Pätzold erwies sich als liebenswürdiger, auskunftsfreudiger älterer Herr, der sich bei einer Tasse Kaffee gern lange und intensiv befragen ließ. Schon in seiner Autobiografie hat mich die Bereitschaft beeindruckt, auch Rechenschaft über menschliche Fehler und politische Irrtümer abzulegen – selbst wenn mich angesichts seiner ungebrochenen Freude an provokativen Formulierungen wieder Unbehagen beschlich: Was würden die wütenden Studenten von damals dazu sagen? Da ich mir bewußt war, in dem Gespräch nicht die Wahrheit über diese Vorgänge ermitteln zu können, wollte ich vor allem wissen: Wie wurde man nach 1945 ausgerechnet Kommunist und politischer Kämpfer für eine Partei wie die SED? Und warum wurde Pätzold letztlich doch nicht Politiker, sondern Historiker? – Wir sitzen am Fenster eines Berliner Altbaus, in einem Raum mit Tisch und Stühlen, einem Bett und der unvermeidlichen Menge an Büchern.

„Von Anfang an wurde mir bedeutet: Das ist nicht unser Krieg.“

Drei Jahre nach Ihrer Geburt kamen die Nationalsozialisten an die Macht, als Sie neun Jahre alt waren begann der Zweite Weltkrieg. Was hat Sie in dieser Zeit geprägt?

Am stärksten das Familienumfeld in Breslau. Mein Vater, ein Maschinenschlosser, war vor 1933 in der Sozialistischen Arbeiterpartei. 3 Meine Eltern waren keine Widerstandskämpfer, aber sie haben in diesen Jahren versucht, mit Anstand zu leben und diesem Regime keine Konzessionen zu machen. Durch sie erhielt ich einen begrenzten Einblick in die Arbeitswelt jener dreißiger Jahre. Mein Vater arbeitete in einem Betrieb für Schwermaschinenbau, meine Mutter als Aufräumfrau – in Berlin nannte man das wohl ,Putze‘.

Inwiefern haben sich die damaligen Verhältnisse auf Ihren Alltag ausgewirkt?

Innerhalb der Familie herrschte eine gewisse Arbeitsordnung und -teilung. Wenn ,große Wäsche‘ war, hatte ich mich zwei Nachmittage im Waschhaus einzufinden. Es war auch selbstverständlich, dass ich meiner Mutter an ihren Arbeitsstellen die Kohleeimer hoch schleppte und in unserem Haushalt half. Mein Vater – ein aufgeklärter Mann – sagte: „Wenn deine Mutter die ganze Woche bei anderen Leuten den Dreck wegräumt, muss sie das am Wochenende nicht auch noch bei uns in der Wohnung machen. Jetzt sind wir dran!“ – So gewann ich ein Verhältnis zu praktischer Arbeit, wenn ich auch nie ein geschickter Handwerker geworden bin. Ich habe es über Fahrradreparieren, Tapezieren und Gartenarbeiten hinaus nicht zu sehr viel gebracht. Aber es gab eben klare Forderungen, woran ich mich zu beteiligen habe. Gleichzeitig genoss ich die größten Freiheiten. Ich konnte aufs Fahrrad steigen und mich mit einem Freund irgendwo in der Umgebung der Stadt im Grünen rumtreiben, Unsinn machen. Meine Welt waren Schwimmbäder und Fahrradtouren. Außerdem habe ich viel gelesen. Unter dem Strich: Die Geschichte meiner Privilegien beginnt mit der Atmosphäre in meiner Familie in diesen Zeiten.

Sie haben gerne gelesen. Woher bekamen Sie die Bücher?

Die Stadtteilbibliothek war ziemlich gut bestückt, unsere eigene hingegen lächerlich gering. Mein Vater hatte seine linke Literatur 1933 auf dem Gelände eines Schrebergartens vergraben. Sie verdarb jedoch. Zu meinem eigenen Bücherbestand, der auf einem Bord Platz gehabt hätte, gehörte Don Quijote, den ich wieder und wieder gelesen habe, außerdem deutsche Sagen, die irgendwie ins Haus gekommen waren. Und schließlich eine Lektüre, die nicht für mich gedacht war: Ehe man Ehemann wird – ein Aufklärungsbuch, in dem ich heimlich las.

Wie standen Sie zum Nationalsozialismus?

Da war eine Distanz. Zuhause haben wir in den Kriegsjahren BBC gehört. Jeden Abend hockte ich mit meinem Vater mit einer Decke über dem Kopf vor dem Radio, bis Mutter dann sagte: „Wann kommt ihr denn endlich essen?“ Von Anfang an wurde mir bedeutet: Das ist nicht unser Krieg. Ich erinnere mich noch, dass mein Vater 1941 unmittelbar nach dem Überfall auf die Sowjetunion mit mir in das Gasthaus ging, das seine Mutter betrieb. Es war schon vor 1933 ein Nazi-Treffpunkt gewesen. Ich vermag nicht zu sagen, was Vater da geritten hat. Möglicherweise hat er sich gesagt: „Na, da wollen wir uns die Nazis mal angucken, wie sie darauf reagieren – das ist ja der Anfang ihres Endes.“ Die waren jedoch schon alkoholisiert und feierten die Sondermeldungen. Als mein Vater nicht mitmachte, sagte sein Schwager zu ihm: „Dich bringen wir auch noch da hin, wo du hingehörst.“ Darauf verließen wir das Lokal. Glücklicherweise blieb die Episode folgenlos.

Konnten Sie diese Distanz zum Nationalsozialismus auch in der Schule halten?

Zu meinen Klassenkameraden gehörte einer, mit dem ich mich ein wenig befreundete. Er war der einzige, der nicht dem Jungvolk angehörte, weil er eine medizinische Bescheinigung besaß, dass er ,den Dienst‘ nicht machen könne. Mit dem habe ich mittags schon mal englischen Rundfunk gehört. In der Schule konnte man sich dem Mitmachen kaum entziehen, noch dazu, wenn man einigermaßen reden konnte. Einmal musste ich in der Schule einen Vortrag halten, anlässlich des Jahrestags der NSDAP-Gründung oder eines ähnlichen Jubiläums. Als ich mich wieder in die Bank setzte, fragte mich dieser Freund: „Haste was geglaubt von dem, was du da gerade erzählt hast?“ Da haben Sie in einzelnen Bildern ein wenig von der Atmosphäre, in der ich aufwuchs. Das hatte nichts mit Widerstand zu tun, überhaupt nicht. Aber es war diese Distanz zum Regime da.

Dennoch waren Sie in der Hitler-Jugend und sind als Sanitäter auch HJ-Führer geworden.

Ja, diese Sanitätseinheit war vorwiegend auf das Fachliche ausgerichtet. Wir sind dort auch geschliffen‘ worden, wie man damals sagte. Aber insgesamt waren diese Nachmittage am Mittwoch und Samstag ausgefüllt mit ernsthaften Unterweisungen. Die Armee brauchte Sanitäter, wir wurden dafür zu so genannten Feldscheren vorgebildet. Ich bin 1944 drei Wochen zu einem Lehrgang für Feldscher-Führer geschickt worden, in dessen Verlauf auch Ärzte unsere Ausbildung bestritten. Das war etwas anderes als das ewige Marschieren und Exerzieren in den regionalen HJ-Organisationen, lief aber auf die gleichen Zwecke und Ziele hinaus.

„Heute gruselt es mich vor Auffassungen, die ich damals vertreten habe.“

Sie wurden nicht im Krieg eingesetzt und waren bei Kriegsende 15 Jahre alt. Mit Ihrer Mutter sind Sie aus Breslau ins heutige Sachsen-Anhalt geflüchtet und später nach Weimar gekommen. Wie standen Sie als Jugendlicher zum Kommunismus?

Also, ,Kommunismus‘ wäre für mich damals ein Fremdwort gewesen. Mein Vater tauchte im August 1945 überraschend wieder auf – bis dahin wussten wir nicht, ob er in der sogenannten ,Festung Breslau‘ überlebt hatte. Er sagte zu mir: „Weißt du, die Arbeiterparteien müssen zusammengehen.“ Er selbst ging in die KPD, und damit es auch in der SPD ein paar Leute gibt, die diese Notwendigkeit begreifen, sollte ich in die SPD eintreten. Die haben dann in Staßfurt auch einen 15-jährigen aufgenommen.

Sie sind in der SPD geblieben?

In Weimar habe ich mich bei der SPD gemeldet, die machten mir aber eher einen trüben Eindruck. Also schloss ich mich der Antifa-Jugend 4 an. Dort lernte ich Leute kennen, die mehrheitlich Kommunisten waren. Aber die Frage ,Kommunismus‘ stellte sich auch dort in diesen Tagen nicht. Über die Antifa bekam ich eine Einladung zu einem Internatslehrgang für junge Kommunisten und Sozialdemokraten. Die Schulung in Camburg galt im Wesentlichen Fragen wie: Was war nach 1933 in Deutschland geschehen? Und was ist Antifaschismus? Prägend wurde für mich damals in Weimar vor allem anderen die Begegnung mit ehemaligen Häftlingen, die das KZ Buchenwald überlebt hatten: Kurt Goldstein, Stefan Heymann, Ernst Busse, Walter Wolf. 5 Die Fixierung auf Personen trat später mehr und mehr in den Hintergrund. Die Überzeugungskraft der Theorie besetzte einen höheren Platz. Das ist der Gang der Dinge.

Sie meinen, mit der Zeit stieg der intellektuelle Anspruch?

Ja, aber ich habe Schwierigkeiten, mich an den Übergang zum Marxismus-Leninismus zu erinnern. Das geschah wohl erst an der Universität, die ich 1948 bezog. Vorher haben wir diese broschürten Ausgaben von Marx-Engels-Schriften gelesen, die der Dietz- Verlag herausgab: ,Lohn, Preis und Profit‘, Lohnarbeit und Kapital‘, vielleicht auch schon die ,Deutschen Zustände‘ von Engels. Ich meine, dass ich während meiner Schuljahre von Stalin nur den Sammelband mit seinen Reden ,Über den Großen Vaterländischen Krieg‘ las. 6 An der Universität studierten wir dann im Parteilehrjahr den ,Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B)‘, 7 der war gerade in der deutschen Übersetzung erschienen.

Was hat Sie an einem Text wie dem ,Kurzen Lehrgang‘, mit seiner Rhetorik der Gewalt, der Einfachheit und Schlichtheit der Gedanken beeindruckt?

Diese Frage bringt mich absolut in Verlegenheit. Weil es mir schwer fällt, mich in meine damalige gedankliche wie emotionale Situation zurückzuversetzen. Das alles Überwölbende war für uns damals die Rolle der Sowjetunion und ihrer Armee im Krieg. Ihr Sieg bildete die Vorraussetzung, bei allen auch persönlichen Verlusten – wie den der schlesischen Heimat –, für einen Neubeginn des eigenen Lebens. Und zwar für einen Neubeginn, zu dem man ,Ja!‘ sagen konnte. Das ergab die Grundstimmung. Wie es um die Urteilskraft stand, das habe ich mich wieder gefragt, als mir vor drei oder vier Jahren in einem Bücherregal in unserem Garten zufällig diese kurze Stalin-Biografie in die Hände fiel. Wie man das über die erste Seite hinaus lesen konnte! Ist mir absolut schleierhaft! Eine dermaßen märchenhafte, im Stil unsägliche Darstellung. Und dann waren und blieben wir in meinen Studienjahren schlicht ahnungslos, was den aktuellen Zustand der Sowjetunion und ihre Geschichte anging. Unsere Verehrung Stalins rührte aus einer falschen Vorstellung von seinen Verdiensten als oberster Feldherr. Was die Geschichte der KPdSU anlangte, zumindest wie sie im ,Kurzen Lehrgang‘ beschrieben wurde, so ist vielleicht das Nachteiligste, was man davon aufnahm, die absolut dogmatisierte, verfälschte Darstellung der inneren Auseinandersetzungen in der Sowjetunion.

Welche ,Auseinandersetzungen‘ in der Sowjetunion meinen Sie?

Die Auseinandersetzungen der 1920er Jahre. Wer da alles um des richtigen Weges willen gesäubert werden musste, wer da überwunden werden musste! Diese These, die Partei wachse durch harte innere Kämpfe, diese würden geradezu eine Gesetzmäßigkeit ihrer Höherentwicklung bilden usw. Ich glaube, das hat verheerend gewirkt. Ein kritisches Verhältnis zur sowjetischen Geschichte, ganz zu schweigen vom stalinistischen Terror in der Partei und Gesellschaft, war so nicht zu gewinnen. Warum aber haben wir zu dieser Darstellung der innerparteilichen Kämpfe, nicht nur denen in der KPdSU, nicht wenigstens ein misstrauisches Verhältnis gewonnen? Manche von diesen Kämpfen besaßen ja eine erkennbare Substanz. Sie waren ebenso notwendig wie die Auseinandersetzungen zwischen Revisionismus und Revolutionarismus. 8 Wie sie jeweils geführt wurden und ausgingen, das war eine zweite Frage. Heute gruselt es mich, denke ich an Auffassungen, die ich damals vertreten habe. Allerdings ließen sich manche der seinerzeit bezogenen Standpunkte vollständig erst erklären, nicht rechtfertigen, wenn nicht außer Acht gelassen wird, dass wir in der ganzen großen Auseinandersetzung zwischen Ost und West ja stets die Schwächeren waren.

„Wir wollten die bürgerlichen Professoren mitnehmen …“

Warum haben Sie sich für ein Geschichtsstudium entschieden?

 

Ich wollte Lehrer werden, Deutsch und Geschichte. Eine Vorstellung davon, was mir im Einzelnen da an Ausbildung bevorstehen werde, besaß ich nicht. Wie ich darauf verfiel? Ich habe sicher den mehr sagen- und märchenhaften Geschichtsdarbietungen in der Schule gerne zugehört. Doch zunächst waren Geschichtsbücher nicht meine bevorzugte Kindheitsund Jugendlektüre, die bildeten Bücher über geografische Entdeckungen, Abenteuer von Seefahrern und ähnliche. Auf irgendeine Weise hat die Herausforderung des Umbruchs nach 1945 mein Interesse für Geschichte geweckt und entscheidend zu meinem Studien- und Berufswunsch beigetragen.

Sie sind sehr jung Parteisekretär der Universität Jena geworden, nämlich mit 19 Jahren.

Ja, das war ein Abenteuer. Naja, meine Genossen an vergleichbaren Plätzen waren auch nicht viel älter als ich. Ach, großer Gott, ich kam an die Universität, wurde Leiter einer Zehnergruppe von SED-Studenten im ersten Studienjahr, hatte vorneweg drei Wochen SED-Lehrgang. So ging das auf einer Tippel-Tappel-Tour zu mehr Verantwortung und Arbeit. Da wurde eine oder einer gebraucht, von dem man meinte, der könnte den Versuch mittragen, geistigen Einfluss auf die Mehrheit der Studenten zu gewinnen, der wir damals nicht viel zu sagen hatten.

Die ideologischen Grabenkämpfe an der Jenaer Universität haben sich damals vor allem um den Historiker Karl Griewank gedreht, der sich schließlich das Leben genommen hat.

Kurz bevor ich nach Jena kam, gab es die Auseinandersetzung mit dem Philosophieprofessor Leisegang, 9 der daraufhin rausgeschmissen wurde. Das war aber ein Sonderfall. Wir ,Neuen‘ haben die bürgerlichen Professoren wegen ihres Wissens bewundert und auch verehrt. Ich sagte mir ohnehin: „Das geistige Niveau, das diese Wissenschaftler besitzen, wirst du sowieso nie erreichen – dazu hast du zu spät angefangen.“ Die haben als Kinder schon Sprachen gelernt, sind in bürgerlichen Haushalten zwischen Büchern aufgewachsen. Aber gleichzeitig ließ man sich mit denen auf ein intellektuelles Kräftemessen ein.

Und nun zu Griewank. Es existieren zwei Quellen, die radikale Positionen bezeugen und über eine streitbare Diskussion hinausgehen: Ein Historikerstudent hat auf einer Parteisitzung gesagt: „Griewank muss weg!“ Und ähnlich lautete eine Äußerung des Universitätsrektors. Beides steht aber nicht für die vorherrschende Meinung. Denn schon auf pragmatischer Ebene war zu fragen: Wer soll denn dann den ,Laden‘ weiterführen? Hochschullehrer, wie beispielsweise der Historiker Hugo Preller, 10 bewegten sich in einer anderen Klasse und einem niedrigeren inhaltlichen Angebot.

Worum ging es Ihrer Ansicht nach bei diesen Auseinandersetzungen?

Es ging letzten Endes um unseren totalen Anspruch: Geschichtswissenschaft beginnt mit dem Historischen Materialismus, mit der Wertung der großen Kämpfe der Vergangenheit als Klassenkämpfe. Heute diskutieren wir: Was fehlt im Marxismus? Was bedarf der Ergänzung oder der Korrektur? Derlei Fragen waren uns damals fremd. Und: Wir wollten die bürgerlichen Professoren mitnehmen nach dem Motto: Wenn die Arbeiter den Sozialismus begreifen können, müssten ja diese klugen Leute ihn auch begreifen können und von ihm zu überzeugen sein. Griewank wehrte sich gegen unseren Absolutheitsanspruch aus seiner religiösen Überzeugung heraus und auch mit stichhaltigen Argumenten. Doch er stellte sich der Diskussion mit Leuten, deren Art und Weise, sich in ihre Studien zu stürzen, er auch schätzte. Er wie andere bürgerliche Lehrer – so fern wir ihren und sie unseren Lebenserfahrungen waren – blieben nicht unbeeindruckt von der Intensität und Ernsthaftigkeit von uns ,Neuen‘. Selbst wenn unsere Attacken ungerecht waren und Griewank sie so empfinden musste, hat er sie nie vergolten.

Wie haben Sie auf die Nachricht von Griewanks Selbstmord reagiert, der ja von manchen durchaus mit dem politischen Druck der SED und einiger Studenten in Verbindung gebracht wurde? 11

Ich entsinne mich, wann ich die Nachricht erhielt, Griewank habe sich das Leben genommen. Sofort begann das Rätselraten über die Ursachen seiner Tat. Den Gerüchten, die Sie meinen, trat auch seine Familie entgegen, die sich gegen die Politisierung seines Todes wehrte. Ich erinnere mich keiner Auseinandersetzung mit einem der Professoren während der fünfziger Jahre, die mit einer Vertreibungsabsicht erfolgt wäre. Auch wenn der gute Vorsatz und seine Ausführung mitunter auseinander fielen: Ziel und Stil unseres Auftretens waren darauf gerichtet, Menschen zu gewinnen, ob sie Studenten oder Professoren waren! Und wir waren von unserer Anziehungskraft sehr und manchmal zu sehr überzeugt!

Für Griewank hat es wahrscheinlich so ausgesehen, dass hinter den Angriffen der Studenten die mächtige SED stand. Insofern hatte er dann mit Ihren Polemiken auch für seine Person größere Befürchtungen zu verknüpfen?

Ich bin mit Kollegen, mit denen ich mich gelegentlich über Vergangenes unterhalte, der Meinung: Karl Griewank wäre nicht in der DDR geblieben. Das ist eine Vermutung, für die vieles spricht. Die Festlegung auf den Historischen Materialismus empfand er als eine geistige Einschränkung, wenn nicht Vergewaltigung. Aber dass er in diesem ,Kalten Krieg‘ und seinen ideologischen Auseinandersetzungen zerrieben worden ist, wie es später dargestellt wurde, das abstrahiert von sehr persönlichen und privaten Gründen seines Endes. Später erst wurde bekannt, dass Griewank in jungen Jahren schwer erkrankt war und an Depressionen litt. Ich bewahre ihm mehr als ein bloßes Andenken. Mit Walter Schmidt, meinem Kollegen und Freund, bin ich im Jahr 2000 zu Griewanks Ehrung in dessen Geburtsort Bützow in Mecklenburg gefahren, als dort seines 100. Geburtstages gedacht wurde. 12 Sein Gutachten für meine Abschlussarbeit, das ich erst vor Jahren lesen konnte, war fair und wohlwollend! Das war lange nach unseren Diskussionen geschrieben und in seiner Kritik wohlfundiert. Ich habe hoffentlich meine späteren Studenten genauso für voll genommen wie er mich …

„Die Judenverfolgung war nicht nur Produkt eines irrationalen Wahns.“

Als Historiker haben Sie sich seit Mitte der 1960er Jahre auf Faschismusforschung spezialisiert. Wie kam es zu diesem Forschungsinteresse?

Die Spezialisierung ist relativ zufällig vor sich gegangen. Ich ging in das Deutsche Zentralarchiv in Potsdam. Dort begann ich, mich mit den Überlieferungen für die Jahre 1933/34 bekannt zu machen. Da ging mir auf, dass in meinen eigenen Vorstellungen und wohl auch in den bis dahin verbreiteten Darstellungen die Rolle des Antisemitismus für die Judenverfolgung, jedenfalls für diese Frühphase der Diktatur, unterbewertet oder gar nicht belichtet wurde. Es war zunächst einfach Neugierde, die ja jeder als Historiker mitbringt, und das Gespür, auf eine Fährte geraten zu sein.

Antisemitismus und Judenverfolgung als eigenständige historische Themen spielten in der Diskussion um den Faschismus nicht gerade eine zentrale Rolle.

Man kann streiten, ob das Thema Juden‘ damals im Geschichtsdenken den angemessenen Platz besetzte. Übrigens nicht nur in der DDR, sondern auch in der BRD und in anderen Ländern. Zweifelsfrei ist jedoch, auf wie vielen Ebenen von Kunst und Literatur das Thema in der DDR ,lebte‘ – bald wird darüber endlich eine bibliografische Übersicht erscheinen. Mein Interesse wurde damals gefördert durch das Zusammentreffen mit Juden, vorwiegend Kommunisten, denen ich in jungen Jahren Orientierung verdankte. Das gilt insbesondere für Stefan Heymann und dessen früh erschienene Abhandlung. 13 Filme wie ,Ehe im Schatten‘, ,Die Buntkarierten‘ und andere haben das Schicksal der Juden ins Bewusstsein vieler gerückt. 14 Heute wird davon kaum Notiz genommen. Jedenfalls war ich Mitte der sechziger Jahre, als ich mich mit der Judenverfolgung forschend zu befassen begann, nicht in der Situation, dass ich irgendeinen Durchbruch hätte erzielen müssen.

Ihnen ging es damals auch darum, die Auffassungen eines Kollegen zu widerlegen …

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