Verlorene Zeiten?

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Hans Modrow
„Geschichte, an der ich teilhabe.“ - Hans Modrow, geboren 1928


Ein lebensgeschichtliches Interview mit Hans Modrow? Der 80-jährige hat seine politischen Memoiren ,Ich wollte ein neues Deutschland‘ bereits 1998 verfasst. Nur widerstrebend erklärte er sich zu einem Gespräch bereit. Als Vorsitzender des Ältestenrates der LINKEN hat er einen vollen Terminkalender, möchte in der Gegenwart politisch wirken, anstatt ein weiteres Mal über sein Leben in der DDR zu berichten.

An Modrow als einen Hoffnungsträger in der späten DDR kann ich mich selbst noch aus Diskussionen in meiner Familie während der ,Wende‘ erinnern. Schon vor 1989 galt er als Mann der Perestroika, als deutscher Gorbatschow. In der Revolutionszeit ersetze er die unglaubwürdige SED-Führung unter Egon Krenz und bildete eine ,Regierung der nationalen Verantwortung‘. Er suchte Kontakt zu Oppositionellen und machte Bürgerrechtler zu Ministern. Vor dem Interview bereitet mir diese Erinnerung Unbehagen, könnte sie doch eine fehlende Distanz zu meinem Gesprächspartner erzeugen – eine Distanz, die mir andererseits notwendig erscheint: Schließlich kam Modrow doch selbst aus dem tiefsten Inneren des SED-Regimes. Für seine Karriere in der DDR hatte er den Kontakt zu seiner Familie im Westen abgebrochen. Sein Weg führte über Funktionen in der FDJ, der Berliner SED-Leitung bis hin zum Zentralkomitee der SED. 1973 wurde er Erster Sekretär der Bezirksleitung der SED in Dresden. Als der einflussreichste Lokalpolitiker im Bezirk übte er dabei gelegentlich auch Kritik an den Beschlüssen des Politbüros. Erst 1989 kehrte er wieder nach Berlin und ins Machtzentrum der DDR zurück: Er wurde ihr vorletzter Ministerpräsident.

Aus dem Repräsentanten des untergegangenen Staates ist im vereinten Deutschland ein umstrittener Politiker geworden, der in der Bundesrepublik unter anderem wegen Beteiligung an Wahlfälschungen in der DDR verurteilt worden ist. Seit den ersten freien Wahlen der DDR im Frühjahr 1990 arbeitet Modrow in der linken Opposition, vertritt die Interessen der Ostdeutschen – so wie er sie versteht. Kritik an den Verhältnissen in der DDR begegnet er mit dem Hinweis, dass es auch heute noch Unrecht zu bekämpfen gelte.

Als ich morgens Hans Modrows Wohnung in einem Plattenbau in Berlin-Mitte betrete, geht gerade der erste Gast des Tages. Modrow bittet mich in ein schlicht eingerichtetes Arbeitszimmer. Auf dem Tisch das ,Neue Deutschland‘, Stapel von Papieren und Büchern liegen vor überfüllten Bücherregalen. In einem hängt ein Wimpel mit dem 1989er-Slogan ,Keine Gewalt‘. Wir haben nur knapp zwei Stunden Zeit, und Modrow beginnt zu sprechen: anhaltend und ausdauernd, mit seiner bekannten heiseren Stimme. In der Erzählung nimmt mein Gesprächspartner die eigene Rolle stark zurück: Der ,Pflichtmensch‘ bindet sein Leben an sachliche Umstände. Am Ende bin ich doch überrascht, denn auch als ,Reformer‘ möchte Modrow nicht gesehen werden …

„Zunächst einmal der Krieg.“

Sie sind 1928 in einem kleinen Dorf in Pommern aufgewachsen. Was hat Sie in Ihrer Kindheit und Jugend geprägt?

Zunächst einmal der Krieg. Nachdem man aus der unmittelbaren Kindheit heraus ist, die ganz wenige Erinnerungen hinterließ, war das Erleben bereits vom Krieg geprägt. Der greift natürlich in das Leben auch eines solchen Dorfes ein, zumal es sich in unmittelbarer Nähe eines der größten deutschen Rüstungswerke befand. Das Werk in Pölitz 1 produzierte aus Braunkohle Benzin für den Krieg. Ich selbst gehörte schon mit 14 Jahren zur Jugendfeuerwehr, die natürlich in dieser Zeit eine Hitler-Jugend-Feuerwehr war. Auch meinen Beruf lernte ich in dem Betrieb, der voll auf Rüstung ausgerichtet war. Es gab Luftangriffe, auch Tote im eigenen Dorf. Das alles prägt einen natürlich und trug dazu bei, dass man eine Haltung haben muss. Das war einfach die Haltung, in diesem Krieg auch seinen Beitrag für Deutschland zu leisten. Das ging damals schon mit 14, 15 Jahren los. Das war eine Situation, in der man sich nicht drücken konnte und wollte. Und andererseits – was nicht so bewusst war – dazu beitrug, dass die Kriegsmaschinerie weiterlief und funktionierte.

Sie haben eine Ausbildung zum Maschinenschlosser gemacht.

Ja, mein berufliches Leben begann mit 14 Jahren. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. In unserem ersten Lehrjahr mussten wir den so genannten Lehrgang „Eisen erzieht“ durchlaufen. Die Gesellen sollten auf uns erzieherisch Einfluss nehmen. Sie forderten vor allem Unterordnung. Und wenn man als Jugendlicher sehr geschurigelt wird, dann ist das – völlig unabhängig von der jeweiligen Ideologie – immer damit verbunden, dass man beginnt, sich zu wehren. Eine Aufmüpfigkeit, die noch gar nichts mit Politik zu tun hatte. Denn mir war völlig klar: „Du musst so oder so in den Krieg. Dann lässt du dir das von dem Gesellen nicht mehr gefallen, dass der dir eine Ohrfeige gibt. Oder den Zollstock in den Nacken schmeißt, damit man ihn aufhebt und zu ihm bringt, um sich dann eine Ohrfeige bei ihm abzuholen.“ Das waren schon Methoden, die auch zu den Erziehungsmethoden der Nazis gehörten. Da begann dann bei mir einfach der Widerstand. Das war nicht im Geringsten gegen die Naziideologie gerichtet. Sondern das war ein Widerstand, den man als junger Mensch demjenigen entgegensetzt, der einen in dieser Weise schurigeln will.

Was hat Sie motiviert, bei der Hitlerjugend mitzumachen?

Das war ganz normal. Das ergab sich ja über die ganze Ideologie, die in der Schule verbreitet wurde. Dazu brauchte man gar nicht extra gebracht werden. Der Lehrer erzog uns im Sinne der Ideologie der Faschisten. Gar keine Frage, dass man sich im Nachhinein davon distanziert, wie man es ja heute erlebt, wenn sich Grass oder Strittmatter an ihre Jugend erinnern. 2 Da vergleicht man sich dann: Wie ist es dem Grass gegangen, wie ist es dem Strittmatter ergangen – und wie wäre es dir ergangen? Ich bin aber nicht bei der SS gewesen, brauch’ da auch keine Lücken zu schließen. Durch meine Freiwilligenmeldung als 16jähriger zur Marine war für andere Einheiten ein Riegel vorgeschoben. Die hatten dann keinen Zugriff mehr auf mich. Und da der Krieg inzwischen dem Ende entgegenging, wurde ich dann nur zum Volkssturm geholt. Für den Volkssturm konnte man binnen zwei Wochen ausgebildet werden, um an einer Handfeuerwaffe oder mit einer Panzerfaust zu schießen – mehr brauchte man nicht.

Sie sprechen viel vom Krieg, aber wenig über Eltern und Familie. Wollen Sie das nicht?

Nein, das macht keinen Sinn. Meine Familie ist ja nach dem Krieg in die Nähe von Hamburg gezogen, und ich habe mich nach meiner Kriegsgefangenschaft entschieden, in der sowjetischen Besatzungszone zu bleiben. Und dadurch, dass ich also ab meinem 17. Lebensjahr mit Eltern und Geschwistern kaum Kontakt hatte, sind die früheren Erlebnisse und Erinnerungen zu sehr überlagert. Das ist weg. Und man beginnt darüber nachzudenken, ob man in der Erinnerung dann dem gerecht wird, was eigentlich damals unmittelbar war. Ich möchte nicht Erinnerungen vermitteln, für die ich selber nicht mehr einstehen kann. Ich weiß wenig über meine Eltern: Meine Mutter kam aus Pommern aus dem Arbeitermilieu; sie hieß Krause, aber mehr weiß ich nicht. Der Vater war, das weiß ich aus dem Erzählen, Bäckermeister. Er ging im Ersten Weltkrieg mit einem Vorpostenboot in der Nordsee unter, wurde aber gerettet. Zu mir und meinem Bruder sagte er: „Ihr werdet Seeleute! Das ist ein Beruf, in dem kann man wirklich die Welt sehen, und da erlebt man was.“

Wenn über Hans Modrow geschrieben wird, dann werden häufig Tugenden erwähnt: Disziplin, Anständigkeit, Fleiß … Woher kommt das?

Ich denke, das kommt noch aus dem Elternhaus. Wir haben alle unserer Mutter viel zu verdanken. Vater konnte sozusagen mal aus dem Kleister gehen, während Mutter eine sehr ruhige Frau war. Vater war dagegen der Rücksichtslose. Er war Raucher, und abends musste man noch die Zigaretten für ihn kaufen gehen. Und dann pfiff ich los, es war stockdunkel, musste an der Kirche vorbei, wo der Uhu oben saß und heulte, um Zigaretten zu holen. Da habe ich mir geschworen: Wenn du mal Kinder hast, das forderst du von keinem. Auf jeden Fall wurde mir da bewusst, dass man so mit seinen eigenen Kindern nicht umgeht. Meine Mutter hingegen war immer bemüht um das Zusammenleben und Aufrechterhalten einer bestimmten Ordnung innerhalb der Familie. Und noch in den 1990er Jahren, als ich in Ückermünde zu einer politischen Veranstaltung war, trat dort mit einem Mal eine ältere Frau auf, die sagte: „Ich erinnere mich sehr gut an den Hans Modrow. Er war bei uns im Dorf einer von denen, die immer hilfsbereit waren. Wenn ich mal irgendein Problem hatte, Wasser von der Pumpe holen musste, und Hans Modrow war in der Nähe, dann nahm der mir den Eimer ab und trug ihn mir nach Hause.“ Das gehörte so ein bisschen zur Erziehung meiner Mutter: „Ihr habt andern Menschen gegenüber hilfreich zu sein, Ältere brauchen Unterstützung …“ Das war eine Lebenshaltung, die ich mitgenommen habe.

Nach dem Krieg hatten Sie keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie?

Mit meiner Mutter schon. Wenn sie ihre Schwester in Berlin besuchte, nahm sie Kontakt mit mir auf. Aber wie gesagt: Ich hatte mich entschieden, in der sowjetischen Zone zu bleiben, was auch eine Erwartung der Antifa- Schule 3 war, die ich in der Sowjetunion besucht hatte. Die Genossen hier wollten gerne, dass ich zur Kasernierten Volkspolizei und dann später auch in die Armee gehe. 4 Aber da galt für mich der ,Befehl 2‘. Der legte fest: Man kann nicht in den bewaffneten Kräften Dienst tun, wenn man Verwandte ersten Grades im Westen hat.

 

Den Kontakt zu Ihrem Vater haben Sie nicht mehr hergestellt?

Nein, es gab keinen Kontakt mehr. Mein Bruder war zur See, da gab es auch keine Verbindung. Meine Schwester habe ich bei einem Besuch bei der Tante in Berlin ein einziges Mal gesehen – es gab also keine Kontakte.

Hat Sie der Kontaktabbruch zu einem Großteil Ihrer Familie nicht beschäftigt?

Es hat mich einmal sogar direkt beschäftigt. 1957 starb mein Vater, und ich stellte die Frage gegenüber der SED-Bezirksleitung, ob ich zur Beerdigung fahren dürfte. Da wurde mir empfohlen, das nicht zu tun. Da bin ich dann auch der Meinung gewesen: Ich kann nicht Ausnahmen für mich fordern, wenn das anderen gegenüber verweigert wird.

„… zurück in deinen Schlosserberuf!“

Wie kam es bei Ihnen denn zu der Wendung: vom Hitlerjungen und überzeugten Volkssturm-Kämpfer zum Antifaschisten und SED-Mitglied?

Ich glaube, das sind Prozesse, die ungeheuer differenziert abgelaufen sind für jeden Einzelnen. Ich habe diesen Weg im Rahmen meiner sowjetischen Kriegsgefangenschaft genommen. Das erste halbe Jahr meiner Gefangenschaft habe ich in Hinterpommern verbracht, um dort mit einem Erntekommando die Ernte einzubringen. Das war 1944, damals wurde von den Bauern dort ein ganz normaler Erntegang vorbereitet und noch bis ins Frühjahr 1945 hinein bearbeitet – bevor sie dann vor der Roten Armee geflohen sind und nicht von den Polen vertrieben wurden, wie das ja heute aufgemacht wird. Ich war damals unterwegs mit dem Kapitän, der unser Kommando leitete. Ich war sein Fahrer geworden. Sie haben dafür unter den ganz Jungen jemanden ausgewählt, bei dem sie damit rechnen konnten, dass er sich anpasst und gut zu kommandieren ist. Der Kapitän wurde für mich eine wichtige Person. Mit einem Mal erlebte ich den ,Untermenschen‘, der mich aber ganz normal behandelte. Und dann rezitierte der auch noch Heine. Wusste ich, wer Heine war!?

Sie kamen später auch in die Sowjetunion.

Ja, aber zunächst musste ich in das so genannte Pferdekommando; musste also zusammen mit zwei Rotarmisten Pferde 30, 40 Kilometer weit wegbringen. Da war man gut drei Wochen unterwegs, und ich lebte nun alleine mit zwei Rotarmisten. Ich saß auf einem Pferd und hatte links und rechts jeweils noch ein Pferd. Wenn da die Panzer vorbeifuhren, dann gingen erstmal meine Pferde durch (lacht). Danach ging es über das Kriegsgefangenenlager Breslau in die SU. Hier wurde ich als Waldarbeiter eingesetzt, und von dort aus ging ich dann nach Moskau für den Winter 1946/47. Ich arbeitete dort in einem Heizwerk, vor allem machte ich Nachtschicht. Dort steckten uns die Frauen immer mal ein Stück Brot zu. Aber ich war dort dann körperlich doch sehr entkräftet. Eine Ärztin entschied dann, dass ich in das Kommando Brotfabrik eingeordnet werde. Da gab’s auch mal einen Kanten Brot zusätzlich. Das war eine humane Entscheidung dieser Ärztin.

Diese Erlebnisse haben bei Ihnen einen Reflexionsprozess ausgelöst?

Das alles bringt einen ja doch dann in eine Situation, wo man über sich und das Leben anders nachdenkt. In den größeren Kriegsgefangenenlagern waren auch immer Komitees der Antifaschisten. Die waren natürlich um uns bemüht. Wir hatten Bibliotheken zur Ver- fügung, Bücher von Anna Seghers und Willi Bredel, oder auch ,Wie der Stahl gehärtet wurde‘. 5 Da begann man zu lesen, zunächst einfach aus Langeweile.

Was waren das für Genossen, die in diesen Komitees arbeiteten?

Das waren Ältere. Das waren Überläufer von der Wehrmacht, die nun das Vertrauen der sowjetischen Seite hatten und die dann wieder unter den Kriegsgefangenen Leute suchten, die in das Antifa-Komitee mitgingen. Die mussten nicht zum Arbeitseinsatz. Deren Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass sich im Lager antifaschistische Debatten aufbauten. Ich gehörte zu denen, die sich politisch zu interessieren begannen, die auch teilnahmen an Debatten. Und dann wurde mir die Frage gestellt, ob ich interessiert wäre, in so eine Antifa-Schule zu gehen. So kam ich nach Rjasan, nicht weit von Moskau. Dort gab es Seminare und Lektionen, die unsere eigentliche Einführung in eine antifaschistische Bildung wurden. Da waren Lehrer – eine ganz kleine Gruppe – die als Widerstandskämpfer gegen den Faschismus aus Deutschland in die Sowjetunion geflohen waren. Der Leiter unserer Schule war Robert Naumann, 6 der ja später zurückging an die Humboldt-Universität. Wir lernten dort – sehr verknappt – den wissenschaftlichen Kommunismus, politische Ökonomie, materialistische Philosophie und, und, und …

Sie haben diskutiert und gestritten, das haben ja wahrscheinlich die meisten gefangenen Soldaten nicht gemacht. Woher kam die Motivation, sich in dieser Weise zu engagieren?

Da spielt mein unmittelbarer Lehrer eine Rolle, Doktor Fritz Rink. Er war promovierter Arzt und nahm sich meiner sehr gründlich an. Ganz offensichtlich war unsere Beziehung für ihn wie ein Vater-Sohn-Verhältnis. Er hatte die Überzeugung, hier ist ein Junge vom Dorf, der zwar nicht gebildet ist, aus dem man aber durch Bildung etwas machen kann. Also musste ich Aufsätze schreiben – was sonst überhaupt nicht zur Antifa-Schule gehörte. Das war so ein Mist, dass ich Aufsätze schreiben musste! Der Rink drückte mir die auf, dann kriegte ich sie korrigiert zurück. Dann wurde ich der Redakteur unserer Zeitung in der Antifa-Schule – ich, der eigentlich gar nicht richtig schreiben konnte, mit meiner Achtklassenschule! Diese Wandzeitung spielte im Antifa-Kurs eine riesengroße Rolle. Einfach deshalb, weil da zum ersten Mal die Kursanten begannen, selber öffentlich zu schreiben. Ich bin kein ausgebildeter Pädagoge, aber ich hab’ dort begriffen, dass ein so direkter, unmittelbarer Zusammenhang für die eigentliche Erziehung eine große Rolle spielen kann. Und der Rink sagte dann auch: Du bleibst bei mir als Assistent! Wir wurden ja nicht gefragt: Willst du nach Hause oder willst du nicht nach Hause. Sondern das wurde entschieden.

Haben Sie sich damals schon Gedanken über Ihre Zukunft in Deutschland gemacht?

Das spielte für uns, die wir als Assistenten zum Lehrkörper gehörten, ohne Zweifel eine große Rolle. Es gab ja auch Anfragen aus Deutschland: Wir brauchen diese und jene Leute mit diesen und jenen Fähigkeiten, wer könnte sich da eignen? Mit mir wurde damals besprochen, dass ich als Lehrer auf die Jugendhochschule gehen sollte. Da gab mir aber Rink die Empfehlung mit: Alles, was besprochen ist, mag eine Perspektive sein. Aber wenn du nach Deutschland zurückkommst, dann geh zuerst in einen Betrieb, zurück in deinen Schlosserberuf! Nur so lernst du das Leben kennen. Als ich dann nach meiner Rückkehr 1949 mein Kadergespräch‘ beim Parteivorstand der SED hatte, blieb ich dann auch stur und habe gesagt: „Ich bin nicht bereit, ausschließlich in der FDJ oder irgendwo in der Partei zu arbeiten!“ Ich wurde dann zunächst Schlosser im LEW 7 in Henningsdorf bei Berlin.

„Es macht keinen Sinn, da als ,Diplompolitiker‘ rumzulaufen.“

Haben Sie als Schlosser dann Kontakt zum ,Leben‘ bekommen?

Ja, und zwar ganz faustdick. Für alle anderen in der Werkstatt hieß ich nur ,der Russe‘. Für die war völlig klar: Da kommt einer aus der Gefangenschaft und zieht nicht über die Russen her, also muss der selbst quasi ein Russe sein. Man nahm mich dann in die Parteileitung des Betriebes auf, weil ich ja als gebildeter Marxist galt. Ich konnte nun selber Vorträge halten. Am Wochenende nahm ich meine Aufzeichnungen von der Antifa-Schule, bereitete mich auf ein Thema vor und hielt einen Vortrag. Damit war ich natürlich mit meinen gerade mal 21 Jahren in dem Betrieb und in der SED-Organisation ein angesehener junger Mann.

Sie waren einer von vielen jungen Leuten, die sich für eine neue Gesellschaft einsetzten.

Das war so, und ich denke im Nachhinein, dass das damals am ehesten noch Otto Grotewohl begriffen hat. Der hat 1947 auf einem FDJ-Parlament gesagt: Die deutsche Jugend sei noch immer ein Wanderer zwischen zwei Welten – sie habe die faschistische Zeit noch nicht ganz hinter sich gelassen und die neue Zeit noch nicht gewonnen. Meine Generation versuchte, sich von der Vergangenheit zu lösen. Der Krieg hat uns ja Erlebnisse gebracht, die wollte keiner mehr. Und Krieg war eben mit Faschismus verbunden.

Eine ,neue Zeit‘ zu gewinnen, war wahrscheinlich auch nicht so einfach.

Da war auch eine ablehnende Haltung gegen die Siegermächte. Im Betrieb waren wir damals 1949 als FDJler nicht etwa in der Mehrheit, wir waren die Minderheit. Unser Ansehen gewannen wir nicht durch unsere großartige Ideologie, sondern dadurch, dass wir am Wochenende im Betrieb Haushaltsporzellan produzierten. Und das machten wir FDJler. Dann wurde dieses Haushaltsporzellan im Betrieb verkauft. Das hatte nicht immer alles nur mit Ideologie zu tun. Insofern vergess’ ich auch nicht: Als ich mir in Potsdam meinen ersten kleinen Haushalt aufgebaut habe, hatte ich eben ein von mir selbst gemachtes Haushaltsporzellan. Das sind doch Dinge, die irgendwo zum Leben gehören. Und die anderen jungen Leute sind mit einem Mal nicht gegen uns. Nicht etwa, weil wir die FDJ sind oder die blaue Fahne tragen. Sondern weil wir unter der blauen Fahne der FDJ das Porzellan gemacht haben. Und sie haben’s kaufen können.

Gab es damals auch ideologischen Dissens unter den Arbeitern im Werk?

Den gab’s allemal. Aber die anderen spürten auch, dass sie mit mir keinen Dussel vor sich hatten. Und es war dann ein Streit auf einem bestimmten Niveau. Das war auch etwas, was die wollten. Es war ja nicht der pure Antikommunismus: „Jetzt muss ich dem Modrow eins auswischen!“. Sondern das war ein geistiger Streit. Die hatten ja ihre Zeitung, die hatten ja ihr Erleben mit Westberlin. Und dort in Hennigsdorf, an der Grenze zu Westberlin, ausgerechnet da kommt nun einer und verteidigt den Osten gegen den Westen. Das war doch geradezu verrückt! Da entstanden die Auseinandersetzungen, und mir machten diese Diskussionen auch Spaß, das will ich ganz offen sagen.

Können Sie verstehen, dass andere in Ihrem Alter skeptisch waren: Schon wieder neue Organisationen, neue Uniformen …

Das kann ich nicht nur verstehen, das habe ich ja x-mal erlebt, weil ich ja politisch tätig war. Ich wollte diese Leute ja gewinnen und habe das auch immer wieder und noch mal gemacht! Das war damals auch damit verbunden, dass wir uns mit einem gewissen Mut öffentlich zeigten. Dann sind wir mit unserer S-Bahn von Henningsdorf nach West-Berlin gefahren, sind ausgestiegen und sangen unsere FDJ-Lieder: „Raus gegen uns, wer sich traut!“ Das war unsere Haltung, mit der wir dort auf dem Bahnsteig standen. Und dann riefen die anderen: „Ihr Scheiß-Kommunisten, was wollt ihr hier?“ Und es kam zu Schlägereien. Das war eine regelrechte Kampfzeit! Und für uns war es eine Bewährung.

Wie standen Sie damals zur Sowjetunion? Wann haben Sie zum ersten Mal von den ,Säuberungen‘ gehört, und wie haben Sie darauf reagiert?

Ich war ja 1952/53 ein Jahr auf der Komsomol-Schule 8 in Moskau gewesen. Ich erlebte dort, wie Stalin starb – ich stand an der Bahre von Stalin. Ich bemerkte, dass mit einem Mal das Bild von Beria 9 in der großen Galerie der Politbüro-Mitglieder fehlte – aber keiner wusste eigentlich, was dahinter steckt. Im Mai 1953 empfanden wir in Moskau eine Unsicherheit – da waren Diebe, einem von uns wurde die Uhr geklaut. Dann redeten wir wieder mit den Komsomolzen, die wussten auch nichts, das gleiche Spiel. Wir kamen erst im August zurück nach Deutschland. Da war auch der Aufstand vom 17. Juni in der DDR schon wieder zwei Monate vorbei. Von den Verbrechen Stalins hörte ich erst drei Jahre später nach der Übermittlung durch Nikita Chruschtschow, mit den Gesprächen, die es danach gab. Da spielte für mich eine besondere Rolle Alfred ,Ali‘ Neumann, damals SED-Bezirkssekretär in Berlin. Er war vor den Nazis in die Sowjetunion geflüchtet, ging dann aber nach Spanien. Er erzählte uns seine Geschichte und sagte: „Ich bin nicht nur nach Spanien gegangen, um dort im Bürgerkrieg zu kämpfen. Ich bin auch nach Spanien gegangen, um nicht nach Sibirien zu müssen.“ Da spürte man zum ersten Mal, was alles tabu gewesen war.

Rückblickend gefragt: Ist in der Kriegsgefangenschaft, in der Antifa-Schule der Berufspolitiker Modrow‘ geboren worden – oder widerstrebt Ihnen diese Formulierung?

Die widerstrebt mir insofern, weil ich selbst eine ganz andere Vorstellung von meiner beruflichen Zukunft hatte. Da spielt sogar die Frau von Walter Ulbricht eine Rolle. Lotte Ulbricht lernte ich im April 1949 beim Jungaktivistenkongress in Erfurt kennen. Der offizielle Teil war zu Ende, wir saßen am Tisch, da kam sie dazu und sagte: „War ganz interessant, was du vorher gesagt hast, woher kommst du denn?“ – Hab’ ich gesagt: „Ich komm’ aus dem LEW, und davor war ich auf der Antifa-Schule“. Da sagte sie zu mir: „Weißt du, du musst studieren, du musst Diplomingenieur werden. Wir brauchen Werkleiter, die politisch gebildet, aber auch in der Lage sind, große Werke zu leiten.“ Also Modrow war danach überzeugt: Er muss Werkleiter werden! – Dann kam aber 1950 im Sommer die nächste Kaderaussprache mit Erich Honecker. 10 Erich Honecker sagte, was ich mein Leben nicht vergessen werde: „Es gibt Leute, die sorgen dafür, dass andere Leute studieren. Und es gibt welche, die selbst studieren. Du gehörst zu denen, die dafür sorgen, dass andere studieren!“ (lacht). Damit wiederum war völlig klar: Dein Weg bleibt in der FDJ. Allerdings war ich damals auch noch mit sowjetischen Jugendoffizieren in Kontakt. Und einer sagte dann zu mir: „Vergiss eines nicht, du brauchst neben der politischen Ausbildung eine fachliche Ausbildung. Sonst musst du denen immer dankbar sein, die dich auf dem Stuhl lassen, auf dem du sitzt.“ – Also habe ich nicht nur mein Fernstudium an der Parteihochschule der SED gemacht und mit einem Diplom für Gesellschaftswissenschaften abgeschlossen, sondern an der Hochschule für Ökonomie auch mein Examen als Volkswirt. Mit der festen Überzeugung, dann auch einen Betrieb leiten zu können. Und ich habe dann ja auch noch ein gutes halbes Jahr in der Planung des größten Ostberliner Betriebes gearbeitet. Meine Haltung war immer: Du brauchst eine Grundlage, eine bestimmte Kompetenz – auch wenn du in der Politik bist und bleibst. Es macht keinen Sinn, da als ,Diplompolitiker‘ rumzulaufen.

 

„… das Etikett ,Reformer‘“

Sie arbeiteten seit 1953 in der SED in Berlin als Parteifunktionär. Dann gingen Sie 1973 nach Dresden, als Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung. Wie sah dort Ihr Alltag aus?

Nun, zunächst einmal prägte den Alltag in Dresden einfach Folgendes: In der DDR fiel in den einzelnen Bezirken eigentlich alles und jedes in den Verantwortungsbereich des jeweiligen Ersten Sekretärs. Das war eine Struktur, die nach meiner Meinung die Effizienz der Gesellschaft immer eingeschränkt hat. Ich war der Auffassung, dass der Staat eine größere Verantwortung haben muss, weil man aus der Partei heraus keine Wirtschaft führen kann. Meine Haltung führte ja auch zu einem Streit am 18. Oktober 1989, als es um die Ablösung von Honecker ging. Stoph 11 hat sich dann mit den ersten Bezirkssekretären und Mitgliedern des Politbüros beraten. Dort habe ich gesagt, ich hielte es für falsch, wenn auf Egon Krenz 12 als Parteifunktionär nun wieder auch die staatliche Leitung übergeht. 13 Das wird mir bis heute so ausgelegt, als ob ich unbedingt Generalsekretär der SED hätte werden wollen. Denn als ich das als Problem aufwarf, fragte der damalige Gewerkschaftsvorsitzende Harry Tisch: 14 „Und welche Funktion willst du haben?“ Danach herrschte in dem ganzen Kreis Schweigen. Keiner diskutierte, alle dachten stillschweigend: „Aha, der Modrow will in diesen Machtkreis rein!“ – was mich damals überhaupt nicht bewegt hat.

In meiner Jugend galten Sie als Reformer und Hoffnungsträger. Haben Sie sich auch selber so empfunden?

Nein, habe ich nicht und sehe ich auch heute nicht so. Wie andere mich sehen, müssen die miteinander ausmachen. Die Sache mit dem ,Reformer‘ begann ja so: Die KPdSU holte den Gesandten Valentin Koptelzew zurück nach Moskau. Vor seiner Abreise kam er noch mal nach Dresden und sagte: „Wir bleiben in Kontakt“. Und Koptelzew wurde dann von einem Korrespondenten des Spiegel gefragt: „Wen könnte sich Gorbatschow als Nachfolger von Honecker in der SED vorstellen?“ Und der sagte: „Ich glaube Hans Modrow.“ Das war 1986 der Beginn dieser Debatte um Modrow. Da ging es erstmal gar nicht um einen ,Reformer‘, sondern um Spekulationen, wer wird oder könnte der Nachfolger von Honecker werden.

Sie gehörten damals nicht dem Politbüro an, als die Nachfolge Honeckers diskutiert wurde.

Ich war der Einzige, der von außerhalb des Politbüros ins Spiel kam. Ich kam als absoluter Außenseiter in die Debatte. Und es gab ja diese Philosophie: Der Gorbatschow will Reformen, und der Honecker will keine. Und ein Mann, den Gorbatschow empfiehlt, will doch vielleicht auch Reformen. Und da musste man ja für einen solchen ,Hoffnungsträger‘ noch irgendwie eine Art Beschreibung im Westen haben – und da passte dann am besten das Etikett ,Reformer‘. Aber ich will sehr deutlich sagen: Spätestens ab Ende 1987 war ich überhaupt nicht mehr der Überzeugung, dass das, was Gorbatschow macht, auch gut für die DDR wäre.

Was waren Ihre Überlegungen für die DDR im Gegensatz zu Gorbatschow?

Meine Überlegung war erstens: Ja, wir brauchen in der DDR eine Umgestaltung. Die konnte aber nicht dem Modell Gorbatschows folgen. Einfach deshalb nicht, weil das Maß der Sowjetunion und das Maß der DDR nicht zusammenpassten. Wenn der Wirtschaftsminister Günter Mittag alle seine Generaldirektoren zusammenholen wollte, dann drückte er früh aufs Telefon und am Abend saßen die alle bei ihm am Tisch. Und wenn das einem in Moskau einfallen würde, dann brauchten die eine Woche (lacht). Das heißt, man kann die Politik eines Landes, das in anderen Maßstäben zu regieren ist, nicht einfach auf ein kleines Ländle übertragen. Und zweitens: Die Dinge, die Gorbatschow vorschwebten, schienen mir für die DDR überhaupt nicht die Frage zu sein. Mein Problem war vielmehr: Wir sind in der Wirtschaft der DDR an einem Punkt, an dem wir die Eigenständigkeit der Betriebe in einem Maß einschränken, dass nichts mehr funktioniert. Wo die Zentralisierung ein Ausmaß angenommen hat, dass es nicht mehr läuft. Wo das Wort vom Volkseigenen Betrieb‘ keinen Inhalt mehr besitzt. Ich habe das dann 1988 auf einer ZK-Tagung auch im Plenum gesagt: Wir sagen ,Volkseigener Betrieb‘, aber wir füllen diesen Begriff nicht mehr aus. Und damit war auch klar, dass ich gegen Honecker stand.

Ihnen ging es also weniger um Gorbatschows Perestroika als um wirtschaftspolitische Reformen, wie sie schon Walter Ulbricht in den 1960er Jahren versucht hatte?

Zu den 1960er Jahren sehe ich eine eindeutige Beziehung. Durch einen Aufenthalt in Moskau wusste ich auch, wie in der Sowjetunion die Entscheidung für Gorbatschow gefallen war. Gorbatschow war der Jüngste von drei Kandidaten für das Amt des KPDSU-Generalsekretärs. Die Entscheidung für ihn fiel wegen seines Alters, nicht wegen seiner überragenden Führungsfähigkeiten. Später hat es sich gezeigt, dass er die nicht besessen hat.

Im November 1989 wurden Sie Ministerpräsident der DDR – an sich ein Karrieresprung?

Nein, ich habe etwas anderes empfunden: Mir kam es darauf an, dass die Regierung gegenüber der SED die Verantwortung erhält, die ihr zusteht. Daher kam meine Bereitschaft, das Amt des Ministerpräsidenten zu übernehmen.

„Klassenkampf muss es doch irgendwie geben!“

Sie hatten in der DDR als Politiker den Ehrgeiz, die Gesellschaft zu gestalten. War das das Einzige, was Sie getrieben hat?

Ich denke, das war schon sehr viel. Bei Politikern gehe ich unbedingt davon aus: Wenn der Ehrgeiz vor allem darin besteht, immer die Stufenleiter vorneweg zu laufen, um wieder eine höhere Funktion zu übernehmen – dann kann man in Wirklichkeit diese Verantwortung irgendwann nicht mehr tragen. Das erlebte ich in hohem Maße bei Gorbatschow, das war bei Kohl zu spüren, das ist bei Honecker zu spüren gewesen: Die sitzen auf ihren Positionen und werden Verkünder. Ich selbst bin immer davon ausgegangen: Egal welche Verantwortung du hast – du musst sie ausfüllen, du musst den Ehrgeiz aufbringen, den diese Tätigkeit dir abfordert. Zum Beispiel hatte ich ja ab ungefähr 1985 jedes Jahr die Ehre, mit einem Rechenschaftsbericht beim Politbüro des ZK der SED zu erscheinen. Da hatte ich immer nur einen Ehrgeiz: Die können untersuchen so viel sie wollen; aber die können nicht nachweisen, dass du unfähig bist, deine Arbeit zu machen! Rausschmeißen wegen Unfähigkeit können die dich nicht! Mit dem Ehrgeiz habe ich also auch dagegenhalten können, wenn ich die Politik der Parteiführung kritisiert habe. Das war für mich der Trieb und Ehrgeiz.

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