Verlorene Zeiten?

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Salomea Genin
„… ich wollte eine deutsche Kommunistin werden.“ - Salomea Genin, geboren 1932


„Ich bin a Jewish woman of the world“, antwortete Salomea Genin jüngst auf die Frage, ob sie mittlerweile ihre ,Wurzeln‘ gefunden habe. 1 1932 in Berlin geboren, musste die damals 6-jährige Salomea gemeinsam mit Mutter und Schwester vor der nationalsozialistischen Judenverfolgung bis ans andere Ende der Welt fliehen: nach Australien. 2 Mit 19 zog es sie zurück nach Deutschland – auf der Suche nach ihren nationalen Wurzeln‘. Als gläubige Kommunistin hoffte sie, diese in der DDR zu finden. Im Rückblick jedoch beschreibt sie sich als „australische Jüdin in der DDR“. 3 Was nun – eine junge jüdische Kommunistin auf der Suche nach ,nationalen Wurzeln‘, ausgerechnet in der DDR? Eine ,australische Jüdin in der DDR‘? Eine jüdische Frau von Welt‘? Oder alles zusammen?

Mich interessierte Salomea Genins Lebensweg und vor allem: Was bedeutete ihr die DDR? Was erhoffte sie sich, dort zu finden, warum verließ sie Australien und wartete neun Jahre, bis man ihr 1963 erlaubte, sich in ihrem Traumland DDR niederzulassen? Zunächst hielt man sie für eine Agentin, dann wollte das MfS sie für die Auslandsaufklärung aufbauen: 1961 wurde sie in Westberlin von der DDR-Staatssicherheit angeworben. 1963 durfte sie dann endlich in die DDR übersiedeln. Sie bekam die ersehnte Staatsbürgerschaft, trat in die SED ein und gründete eine Familie. Bis in die frühen 1980er Jahre blieb Salomea Genin loyal zur Parteilinie und setzte ihre Stasi-Tätigkeit fort. Allerdings mit wachsenden Zweifeln: Sie interessierte sich für Feminismus – ein verpöntes Thema in der DDR. Sie wollte ihre Kinder zu freien Menschen erziehen – die DDR pflegte Autoritätshörigkeit. Die Erinnerung an den Holocaust war ihr wichtig – in der DDR schien er vergessen. Am Ende stand die Erkenntnis, in einem ,Polizeistaat‘ zu leben und sich selbst zutiefst darin verstrickt zu haben. Sie brach die Zusammenarbeit mit der Stasi ab. Im Mai 1989 trat sie schließlich aus der SED aus, um sich im September den Bürgerrechtlern im Neuen Forum anzuschließen.

Wie blickt Salomea Genin heute, zwanzig Jahre nach der ,Wende‘, auf ihr Leben in der DDR zurück? Bereut sie ihre einstige Entscheidung, in die DDR zu gehen? Welche Erfahrungen hat sie mit dem neuen Deutschland gemacht, in dem sie nun seit zwei Jahrzehnten lebt?

Salomea Genin wohnt in einem einst überwiegend jüdischen Viertel in Berlin-Mitte. Neugierig auf die Person, über die ich aus ihren Büchern schon so viel wusste, klingele ich an ihrer Wohnungstür. Mir öffnet eine kleine Frau mit dichtem, sehr kurz geschnittenem Haar. Ich bin überrascht von ihrer Agilität – immerhin ist sie 76 Jahre alt. Kaum haben wir uns in ihrer schönen Altbauwohnung gesetzt, wartet sie aufmerksam auf meine erste Frage.

„… dort wurde ich zum ersten Mal in meinem Leben ernst genommen.“

Können Sie einleitend etwas über Ihren familiären Hintergrund sagen?

Ich bin 1932 in eine jüdisch-russisch-polnische, jiddischsprachige Familie hineingeboren. Meine Eltern waren 1928 von Krakau nach Berlin gekommen – auf der Suche nach einem besseren Leben. Sie hatten den Antisemitismus in Polen gründlich satt. In Berlin haben sich meine Eltern dann getrennt, 1937 wurden sie geschieden. Ich war damals fünf Jahre alt. Meinen Vater habe ich das letzte Mal gesehen, als ich sechs war. Er war gerade nach fünf Monaten aus Buchenwald zurückgekommen – er war ja arbeitslos und als ,asozialer Jude‘ eingesperrt worden. Wenn man 100 Reichsmark einzahlte und eine Möglichkeit zum Auswandern nachwies, konnte man damals aus dem KZ entlassen werden. Man hatte dann einen Monat Zeit, um Deutschland zu verlassen. Trotz Scheidung hat meine Mutter seine Emigration nach Shanghai organisiert. Sie hat ihn vor der Ausreise dann auch noch für einen Monat aufgenommen – er hatte ja keinen Ort, wo er hinkonnte. Das war das letzte Mal, das ich meinen Vater gesehen habe. 4 1939 ist meine Mutter schließlich mit mir und meinen beiden älteren Schwestern zu ihrem Bruder nach Australien emigriert.

Spielte das Judentum in Ihrer Familie eine Rolle?

Jüdischer als meine Mutter konnte man nicht sein. Dabei war sie nicht religiös. Das Jüdischsein ist eben nicht nur eine Religionsfrage, es ist auch eine Nationalitätfrage, auch eine Mentalitätsfrage. Es ist eine Frage von: Wo steht man in der Geschichte? Meine Mutter hätte sich zum Beispiel nie und nimmer in einen Nichtjuden verliebt. Man tut sich nicht mit einem Nichtjuden zusammen, ja? Wir hatten aber keine religiösen Dinge im Haus, nicht einmal eine Menora. 5 Wir hatten nur diese blau-weiße Büchse vom Jewish National Fund, 6 wo man Pfennige reingab, um Land zu kaufen in Palästina, damit einmal ein jüdischer Staat entstehen kann. Trotzdem hat mich meine Mutter später in die Synagoge geschickt, als ich 12, 13 Jahre alt war. Selber ging sie nicht hin. Aber alles andere an meiner Mutter, die kulturelle Denkweise war jüdisch.

Welche Bedeutung hatte Politik in Ihrem Elternhaus?

Politik hat bei den Ostjuden immer eine Rolle gespielt, denn die waren ja immer verfolgt von Pogromen und Antisemitismus. Das ist ja alles politisch. Und meine Eltern träumten auch von einer schönen, gerechten Welt, in der es keinen Antisemitismus mehr geben würde. Meine Mutter war also politisch interessiert, ohne groß aktiv zu sein.

Mit 12 Jahren wurden Sie Jungkommunistin, mit 17 traten Sie in die Australische Kommunistische Partei (KP) ein. Wie sind Sie zu dieser politischen Richtung gekommen?

Ich war – so nannte mich meine Schwester – a brooding child, ein brütendes Kind. Ich kam nicht aus mir heraus. Und deshalb hat mich Renia, meine acht Jahre ältere Schwester und Ersatzmutter, zum Kommunistischen Jugendverband mitgenommen. Sie war schon Mitglied in der KP. Und dort wurde ich zum ersten Mal in meinem Leben ernst genommen, traf ich Leute, die mir zuhörten. Die reagierten auf das, was ich dachte und fühlte. Das kannte ich gar nicht. Zu Hause spielte ich – die Jüngste – keine Rolle, es ging immer nur um die Gefühle meiner Mutter und Schwestern. Meine Gefühle wurden überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Bis zu meinem zwölften Lebensjahr hatte ich keine Bezugsperson, der ich nicht auf den Wecker fiel. Keine Person, die sich freute, wenn ich da war. Dort fand ich die Ersatzfamilie, die ich schon immer gebraucht hatte. Und ich fand auch eine Ideologie, die meinem Leben eine Richtung wies. Die Sinnfrage war beantwortet. Das ist nichts, was man so leicht aufgibt. Als dann in Australien der ,Kalte Krieg‘ begann und die Kommunisten zum Staatsfeind Nummer Eins wurden, war das für mich nur noch mehr ein Grund, festzuhalten an der Partei und an der Idee.

Wie hat Ihre Mutter auf Ihr politisches Engagement reagiert?

Einmal, am Anfang des ,Kalten Krieges‘, ist die Polizei zu meiner Mutter gekommen und hat ihr gesagt, was ich in meiner Freizeit so treibe. Meine Mutter hat sich für mein Tun ansonsten eigentlich nicht interessiert. Ich war 14, 15 und ging abends tanzen mit Genossen, die fünf und zehn Jahre älter waren als ich. Ich sah ja auch wesentlich älter aus, als ich eigentlich war. Da lernte ich tanzen, Walzer und Tango und Rumba und was es alles so gibt. Aber sie hat das eigentlich nie zur Kenntnis genommen. Ich hatte immer das Gefühl, ich bin meiner Mutter egal. Und nun kam der Polizist, und als sie von meinem Engagement erfuhr, hat sie auf mich gewartet, als ich von irgendeiner Versammlung kam. Sie hatte sichtbar Angst und hat mir gesagt, dass ich so doch nicht weitermachen könne. Es sei ja richtig, dass man sich für Politik interessiert, aber doch nicht auf diese Weise: Zeitungen verkaufen auf der Straße, in der Öffentlichkeit auf Versammlungen reden. Ich sollte mich vielmehr dafür interessieren, einen netten jüdischen Jungen zu finden, damit ich heirate und Kinder kriege. Naja, ich hab’ die verächtlich angeguckt.

„. doch noch meine nationalen Wurzeln zu finden …“

1951 reisten Sie das erste Mal in die DDR, zu den Weltfestspielen der Jugend und Studenten‘. Hatten Sie keine Bedenken, nach Deutschland zu fahren?

Ganz im Gegenteil: Ich wusste, das muss ich jetzt machen. Und da wird mich auch keiner davon abhalten. Das war eine innere Verpflichtung.

Fühlten Sie sich verpflichtet, weil Sie Kommunistin waren?

Nein, nicht deswegen. Vielmehr sah ich dadurch eine Möglichkeit, in das Land zu kommen, in dem ich geboren wurde, und wo ich nun hoffte, doch noch meine nationalen Wurzeln zu finden. Und das wollte ich mir unbedingt anschauen.

Was verstehen Sie unter ,nationalen Wurzeln‘?

Zugehörigkeit zu einem Volk. Ich wusste, dass ich keine Deutsche bin, und ich wusste sehr wohl, dass ich Jüdin bin. Aber das wollte ich nicht sein – Jüdin. Ich glaubte, ich könnte die Identität wählen. Ich wollte Deutsche werden. Ich war schon Kommunistin, ich wollte eine deutsche Kommunistin werden. Das sollte meine Zugehörigkeit zu einem Volk, das sollte meine nationale Identität werden. Ich wollte eigentlich vergessen, dass ich Jüdin bin. Ich hatte den Antisemitismus der Nazis verinnerlicht. Und ich hasste meine Mutter, die das Judentum für mich verkörperte. Ich nannte mich später eine jüdische Antisemitin.

Ihre ,nationalen Wurzeln‘ wollten Sie ausgerechnet in Deutschland finden?

Ich hatte keine Ahnung, dass ich noch von etwas viel Tieferem getrieben war, nämlich von Angst. Die Angst aus der Kindheit vor den Nazis. Die hatten mir nämlich beigebracht, dass ich jüdisches Ungeziefer bin. Ich wollte eigentlich, dass die, die mich früher so angegriffen und abgelehnt hatten, mich in die Arme nehmen und sagen: Du bist doch kein Ungeziefer, du bist ein nettes, liebes Mädchen! Und außerdem fühlte ich mich in Australien nicht zu Hause. Ich fühlte mich als Fremdkörper. Von den jiddisch sprechenden, osteuropäischen Freunden meiner Mutter hatte ich gelernt, dass man nationale Wurzeln braucht wie die Luft zum Atmen: Nur mit nationalen Wurzeln kann man wirklich glücklich sein! Und ich wusste eben auch: Ich bin nicht australisch. Deutsch war ich zwar auch nicht, aber vielleicht könnte ich das werden? Denn ich war ja schließlich in diesem Land geboren, auch wenn das mehr ein Zufall war. Nun gab es diese zwei Deutschlands, eins davon ein sozialistisches. Ich dachte, vielleicht könnte es meine Lebensaufgabe werden, als Lehrerin die deutsche Jugend so zu erziehen, dass sie nicht wiederholen, was ihre Eltern getan haben. Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus. Das war schon auch etwas, was mich getrieben hat.

 

Wie haben Sie Ihren ersten Besuch in ,Berlin, Hauptstadt der DDR‘ erlebt?

Berlin war in diesen drei Wochen im August 1951 eine sehr bunte Stadt. Ich kam mit großer Neugierde. Ich kam mit der Absicht, sechs Monate zu bleiben, um zu sehen: Gehöre ich wirklich hierhin, sind hier wirklich meine nationalen Wurzeln, oder ist das ein Irrtum? Da ich aber kein Visum bekam, um zu bleiben, bin ich abgefahren. Je mehr bürokratische Hürden sich dann zwischen mir und meinem Wunsch, in der DDR zu bleiben, aufbauten, desto klarer wurde für mich: Doch, da sind meine nationalen Wurzeln, und dort will ich leben. So dass ich, als ich wieder in Australien war, wusste: Ich will wieder zurück. Ich will da gänzlich leben.

„… was meine Partei sagte, das war für mich die reine Wahrheit.“

Was empfanden Sie, als zwei Jahre nach ihrem Besuch in Ost-Berlin Stalin starb?

Im März 1953 war ich gerade in Australien, unterwegs in der City. Da kam mir ein Genosse entgegen und sagte: „Stalin ist gestorben“. Ich wollte am liebsten losheulen, konnte es aber nicht. Ich verstand nicht, wieso ich das nicht konnte. Vielleicht, weil man über jemanden, den man persönlich nicht kennt, so nicht trauern kann, dachte ich damals. Ja, das war es, was es in mir ausgelöst hat: Verwunderung über die ausbleibende Trauer.

Wussten Sie von den Parteisäuberungen und Schauprozessen in der UdSSR?

Ja, aber ich habe das alles nicht geglaubt.

Die antijüdischen Affären: die so genannte ,Ärzteverschwörung‘, 7 der ,Slánský-Prozess‘ 8 – wie haben Sie diese Ereignisse eingeschätzt?

Die Slánský-Affäre … Das wird schon mit rechten Dingen zugegangen sein, dachte ich. Ich unterschied sehr wohl, wie die Partei das ja auch sagte, zwischen ,Zionisten‘ und Juden‘. Ich akzeptierte, dass es nicht antisemitisch ist, wenn von ,Zionisten‘ die Rede ist. Was meine Partei sagte, das war für mich die reine Wahrheit. Meine Partei konnte nicht Unrecht haben, wenn sie sagte: „Es gibt im Sozialismus keinen Antisemitismus.“ Als dann 1956 die so genannte ,Geheimrede‘ Nikita Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU publiziert wurde, war meine Reaktion darauf: „Also hat es doch“ – jetzt find’ ich das Wort nicht … Nicht Verbrechen‘, das Wort Verbrechen‘ hätte ich nicht gedacht, also: Verbiegungen im Sozialismus gegeben. Aber jetzt sind sie vorbei! Da es jetzt an die Öffentlichkeit gekommen ist, kann so etwas nicht noch einmal passieren und alles wird wieder gut. Ich war nicht in der Lage, in irgendeiner Weise kritisch mit Parteigeschichte umzugehen.

Wann kamen Sie das nächste Mal in die DDR?

1954 bin ich zunächst nach West-Berlin gegangen. Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten zögerte meine Einbürgerung immer wieder hinaus. Sie waren misstrauisch und wollten sich versichern, dass ich keine Agentin war. Ich bin dann aber immer über die Grenze nach Ostberlin gefahren zu Freunden, die ich bereits in Australien gekannt hatte. Das waren deutsch-jüdische Flüchtlinge, die 1946/47 in die DDR gegangen sind. Denen habe ich gesagt, dass ich gerne in der DDR leben wollte. Zwei haben versprochen, mich zu unterstützen. Der eine hat mich wirklich unterstützt, und der andere hat über mich bei der Stasi berichtet, der hatte den Auftrag, mich als internationale Agentin zu entlarven. Hirnverbrannt war das. Dieser Mann kannte mich seit meinem 10. Lebensjahr; dass ich keine internationale Agentin war, muss ihm doch eigentlich klar gewesen sein. Aber für diesen Mann war die Partei genauso eine Ersatzfamilie wie für mich. Und die Stasi war jetzt der Papa. Und man macht, was Papa sagt. Papa hat ihm gesagt, dieses Mädchen ist eine internationale Agentin, und du musst jetzt den Beweis finden. Und da hat er das versucht.

Als Grenzgängerin von Ost nach West und umgekehrt haben Sie beide Seiten kennen lernen können – welche Unterschiede haben Sie wahrgenommen?

Also die Westberliner waren alle Antikommunisten. Und in Ostberlin waren alle Kommunisten. Ich rede jetzt von meiner damaligen Sicht. Aber ich traf auch auf Leute in Ostberlin, die nicht so begeistert waren von der DDR wie ich. Das waren dann eben die Kleinbürger, die die Notwendigkeiten der Revolution nicht verstanden.

„Ich sehnte mich nach Kontakt zur Partei. Aber das MfS war mir auch recht.“

Sie haben, als Sie in West-Berlin lebten, bereits für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) gearbeitet. Wie kam der Kontakt zustande?

Es fing eigentlich damit an, dass ich bei der Schallplattenfirma Elektrola als Sekretärin gearbeitet habe. Mein Chef hatte unter Hitler die Wunschkonzertsendungen geleitet. Ich wusste, das ist ein alter Nazi. Der hat irgendwann mit VEB Schallplatten Verhandlungen geführt. Ich habe das Protokoll dieser Verhandlungen geschrieben. Und da habe ich gesehen, dass er versuchte, VEB Schallplatten übers Ohr zu hauen. Einer meiner Freunde in Ost-Berlin arbeitete im Ministerium für Kultur. Dem habe ich davon erzählt und gefragt, ob er eine Kopie von diesem Protokoll haben will. Ja, sagte er. Okay, das hat er bekommen. Und so, denke ich, ist das MfS auf mich aufmerksam geworden.

Wie ging es mit dem MfS dann weiter?

Nach Elektrola habe ich als Sekretärin bei Schering gearbeitet. Sobald ich von Schering aus in die IG Chemie eingetreten war, ging ich über die Grenze zur IG Chemie der DDR und habe gesagt, ich bitte um eine Zusammenarbeit. Ich wurde nicht geschickt, ich bin von allein gegangen! Dort wurde ich einer Dame namens Lucie vorgestellt, und wir haben uns dann so ein bisschen angefreundet. Sie hat mich zu sich eingeladen und mir Rat gegeben, wie ich dieses und wie ich jenes machen soll. Eines Tages wurde ich auf der Straße von einem Mann angesprochen, der sich als Freund von Lucie vorstellte. Er fragte, ob wir nicht mal Kaffee trinken wollen. Wir haben uns verabredet. Er kam mit noch einem anderen Herrn, der sich als Mitarbeiter des MfS vorgestellt hat. Ja, so wurde der Kontakt hergestellt.

Hat Sie der Anwerbeversuch durch das MfS überrascht?

Nein, das hat mich nicht überrascht. Ich habe darüber auch gar nicht nachgedacht, muss ich sagen. Ich war ziemlich einsam und, mein Gott: Irgendein Mann, der zwar nicht attraktiv, aber ein Freund von Lucie ist, mich einlädt zum Kaffeetrinken, nett zu mir ist und respektvoll – warum soll ich darüber nachdenken? Es war ganz einfach gut, mit ihm da Kaffee zu trinken und sich zu unterhalten.

1963 sind Sie nach Ost-Berlin umgezogen. Sie verpflichteten sich damals, für den Inlandsgeheimdienst zu arbeiten. War das für Sie eine logische Fortsetzung Ihrer bisherigen Tätigkeit für das MfS?

Genau so. Ich fühlte mich einfach etwas verloren ohne diesen Kontakt. Ich sehnte mich doch nach Kontakt zur Partei! Aber das MfS war mir auch recht. MfS und Partei, das war eine Soße für mich. Als Ausländerin konnte ich nicht in die Partei eintreten. Erst als ich 1965 die Staatsbürgerschaft bekam, konnte ich in die SED eintreten. Und da – endlich! – hatte ich das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein!

Wie erlebten Sie Ihre erste Zeit in der DDR?

Zunächst arbeitete ich bei EAW Treptow. 9 Ich wollte an die Basis, mich mit der Wirklichkeit vertraut machen. Aber das dauerte nur vier Monate. Und da war ich nicht gerade glücklich. Die Arbeit hat mich zu Tode gelangweilt, und dann hatte ich auch eine etwas merkwürdige Beziehung zu den Kolleginnen. Ich war sozusagen etwas weltfremd, und die haben ziemlich schnell begriffen, dass ich eine absolut rote Socke war. Also redete bald keine mehr mit mir. Ein Beispiel: In West-Berlin verdiente ich 750 Mark im Monat und ein Paar Nylonstrümpfe kostete 1,50 Mark. In der DDR hatte ich 440 Mark und musste 13,50 Mark für Perlonstrümpfe bezahlen. Als meine Kolleginnen sich über den Preis für Strümpfe beschwerten, sagte ich: „Also, ich verstehe euch nicht. Die DDR baut doch gerade die Schwerindustrie auf. Bei den Strümpfen bezahlt ihr eine Steuer, die gebraucht wird, um unsere Schwerindustrie aufzubauen.“ Ich habe solche Sachen eben immer mal wieder von mir gegeben. Die müssen mich als sehr merkwürdig empfunden haben. Als meine Weststrümpfe dann kaputt waren und ich selber 13,50 Mark bezahlen musste, merkte ich, dass das wirklich ziemlich teuer war. Vielleicht hatten die ja doch Grund, sich zu beschweren.

Sie arbeiteten nur vier Monate bei EAW – wie ging es danach beruflich für Sie weiter?

Mein ganz ursprünglicher Berufswunsch war einmal gewesen, Dirigentin zu werden. Weil ich Musik so liebe. Aber das hätte ein Studium bedeutet, was in Australien zu viel Geld gekostet hätte. Da habe ich den Wunsch aufgegeben. Mein nächster Wunsch war Journalistin. Bald nach meinem Umzug in die DDR kam ein Freund auf mich zu, ein Remigrant aus England, und hat mich gefragt, ob ich für Radio Berlin International (RBI) 10 arbeiten möchte – als Journalistin, Sendungen machen auf Englisch, was ja meine Muttersprache war. Da habe ich sofort zugesagt. Nach kurzer Zeit wurde ich aber nur noch als Sprecherin und Übersetzerin eingesetzt. Journalismus ließ mich niemand mehr machen, weil ich immerzu sagte: „Aber der Kaiser ist doch nackt!“ Ich selber habe das gar nicht gemerkt, so naiv war ich. 1970 ging ich dann zu Intertext 11 und habe dort als Übersetzerin gearbeitet. Allerdings war die Arbeit dort auch sehr unbefriedigend.

Später haben Sie sich selbständig gemacht und studiert.

Ja, ich habe dann freiberuflich als Übersetzerin gearbeitet und nebenher ein Philosophie-Fernstudium gemacht. Damals fing ich auch an, mich für Feminismus zu interessieren. Besucher aus dem Westen brachten mir amerikanische feministische Literatur mit. Andere Sachen gingen in der DDR ja ohnehin herum – zum Beispiel Klaus Theweleits ,Männerphantasien‘ 12 , das hab’ ich verschlungen. Ich habe gelernt, dass Frauen dazu erzogen sind, ihre eigenen Bedürfnisse zu ignorieren und nur immer die Bedürfnisse der anderen zu befriedigen. Da merkte ich: Genau so bin ich auch. Und wie entfremdet ich durch meine sonstige Konditionierung von mir selbst war. Die DDR war außerdem genau so eine Männerwelt, sogar noch viel mehr, als die, in der wir heute leben. Zum Beispiel wäre eine Generalsekretärin der SED niemals denkbar gewesen. In diesen feministischen Büchern wurde eben erklärt, warum wir in einer Männerwelt leben und Frauen nie in höhere Positionen rücken. Diese Literatur hat mir historische Hintergründe auf eine Weise erklärt, wie ich es noch nie gelesen hatte. Für mich war das eine Art Befreiung.

„Eigentlich kamen meine Realitätserkenntnisse über meine Kinder.“

Sie lebten in dieser Zeit als allein erziehende Mutter mit zwei Kindern. Wie kamen Sie mit dieser Situation zurecht?

Schwer. Ich kam nicht damit klar. Ja, die Doppelbelastung war eine Doppelbelastung. Allerdings war ich im Vergleich zu anderen allein stehenden Müttern in der DDR in einer privilegierten Situation. Als Freiberufliche war ich nicht an Betriebszeiten gebunden. Auch finanziell war ich besser gestellt: Ich bekam eine VdN-Rente 13 , noch bevor ich pensioniert war. Ich hatte ein Einkommen von etwa 2000 Mark im Monat, was sehr viel Geld war. Das wusste ich aber nicht, weil ich nicht viele normale Leute kannte.

Ihre Kinder, wie kamen die zurecht?

Ich habe meine Kinder anders erzogen als die normalen Mütter in der DDR. Ich bin nun mal in Australien aufgewachsen und habe meine Kinder daher freier erzogen. 14 Was mir aber nicht so bewusst war damals. Irgendwann war ich dann etwas enttäuscht, dass die Kinder sich nicht wohl fühlten in Krippe, Kindergarten und in der Schule. Letztlich waren es meine Kinder, die meine Sicht auf die DDR erstmals in Frage stellten. Wenn mir jemand anderes etwas über die DDR erzählte, was mir nicht passte, dachte ich immer: Der versteht das eben nicht, oder lügt sogar! Bei meinen Kindern wusste ich, die erzählen mir die Wahrheit. Und die pädagogische Haltung der Lehrer hat mich ziemlich entsetzt. Diese Erziehung durch Angst und das Angepasstsein, was in Deutschland auch früher üblich war. Das hatte ich ja nicht erwartet.

 

Können Sie für diese Art der Erziehung ein Beispiel nennen?

Einmal kam eine Hortnerin zu mir. Zunächst war ganz offensichtlich, dass sie mich verehrte, weil ich VdN war. Sie hatte Probleme mit meinem damals 10-jährigen Sohn: „Der Junge kippelt in der Klasse und kann nicht richtig arbeiten.“ Ich solle doch auf ihn einwirken, dass er richtig sitzt. Ich sagte: „Wissen Sie, wenn der Unterricht wirklich interessant ist für den Jungen, dann wird er nicht kippeln. Umgekehrt muss man das sehen.“ So was hatte sie scheinbar noch nie gehört. Dann die Westklamotten, die wir aus Australien geschickt bekamen, einschließlich Jeans. Die hab’ ich bei den Kindern hochgekrempelt. „Die Jeans, also das sieht nicht so gut aus, Frau Genin“, meinte die Hortnerin. „Könnten Sie nicht mal diese Hosen einnähen?“ Ich dachte, ich hör nicht richtig: „Wenn man im Westen solche Jeans einnäht, da macht man sich lächerlich. Jeans krempelt man nur hoch.“ Am Schluss sagte ich: „Wir werden uns einigen müssen, nicht einig zu sein. Let’s agree to disagree.“ Da merkte ich: Die weiß gar nicht, wovon ich rede. Von dem Konzept, dass man mal nicht die gleiche Meinung hat, hatte sie offensichtlich noch nie gehört. Das war für mich eine sehr bedeutende Begegnung: Ab da hörte ich auf, Lehrer als Autorität für die Erziehung meiner Kinder anzusehen. Bis dahin hatte ich immer die Perspektive der Lehrer eingenommen.

Wann kamen Ihnen zum ersten Mal richtige Zweifel am Realsozialismus?

Das war kein bestimmter Moment. Es war eine Ansammlung von verschiedenen Erlebnissen. Im Laufe der Jahre habe ich dieses und jenes erlebt, was ungerecht war. Aber ich war nie bereit, das als systemimmanent zu betrachten, sondern immer nur als die Fehler einzelner. 1981 war aber ein Wendepunkt, als mein 15-jähriger Sohn in der Schule an die Tafel schrieb „Lech Walęsa 15 – unser Vorbild“. Er wurde deswegen verhört – vom Parteisekretär und der Schuldirektorin. Die Direktorin wollte das in seinen Schulabschlussbericht schreiben. Ich wusste, das würde eine Karriere in der DDR völlig unmöglich machen. Ich habe ihn davor bewahrt, indem ich meinen Führungsoffizier bat, das zu verhindern. Das tat er auch. Und nachdem das alles vorbei war, kam mir zum ersten Mal die Erkenntnis, dass ich das nur verhindern konnte, weil ich Remigrantin war, Kommunistin, Altkommunistin – und Jüdin mit Kontakt zum MfS. Als Lieschen Müller wäre ich dem völlig ausgeliefert gewesen. Da begriff ich zum ersten Mal, dass Menschen in der DDR Angst haben – und dass diese Angst berechtigt ist. Eigentlich kamen meine Realitätserkenntnisse meistens über meine Kinder. 16

„Die Leute vergaßen den Mord an den Juden.“

Was hat Sie dazu bewogen, 1971 in die Ost-Berliner Jüdische Gemeinde einzutreten?

Meine Umgebung hat mich ständig daran erinnert, dass ich Jüdin bin. Aber vor allen Dingen, und das war wahrscheinlich, was mich trieb, merkte ich nach acht Jahren in der DDR: Die Leute vergaßen den Mord an den Juden. Er war dabei, im Alltag vergessen zu werden. Das hat mich sehr, sehr gestört. Das hat sich jedes Mal, wenn ich das merkte, angefühlt, als würde jemand ein Messer in meinen Bauch reinschieben und umdrehen.

In der DDR gab es eine deutlich antifaschistische Gedenkkultur – wie verträgt sich das mit dem Vergessen, von dem Sie gesprochen haben?

Mitte der 1970er Jahre habe ich zum Beispiel bei Gedenkstättenbesuchen ausländischer Gäste gedolmetscht. Es war entweder in Buchenwald oder in Sachsenhausen, dass mir einmal eine Liste auffiel, wie viele Menschen in welchen Ländern durch den Krieg umgekommen sind. Diese Liste enthielt sechs Millionen Polen. Da wurde ich ärgerlich, denn ich wusste, dass von diesen sechs Millionen Polen drei Millionen Juden gewesen waren. Das stieß mir auf. Vor allem aber hatten die Menschen, mit denen ich zu tun hatte, keine Ahnung von der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Wenn ich irgendeine Kleinigkeit aus meiner eigenen Geschichte erwähnte, hatten die oft keine Ahnung wovon ich rede. Ich musste dann erst mal anfangen, Sachen zu erklären, die mir selbstverständlich waren – und die guckten mich an: Wovon redet die denn? Das hat mich zutiefst gestört. Irgendwann hörte ich dann den Satz von George Santayana 17 : „Wer seine Vergangenheit vergisst, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ Diesen Satz habe ich dann immer wieder gesagt. Ich bin also in die Gemeinde aus zweierlei Gründen eingetreten: Erstens, weil ich nach einer Gemeinschaft suchte, wo ich auf dieses Vergessen nicht stoßen würde. Das war unter Juden nicht möglich. Und zweitens vermisste ich die politische Arbeit, die ich aus Australien kannte. Ich wollte, dass die jüdische Gemeinde politische Arbeit macht, so wie die christliche Friedenskonferenz.

Sie hatten auch Kontakt zur evangelischen Kirche. Wie ist es dazu gekommen?

Das MfS hatte mich in den 1960er Jahren in die Evangelische Akademie 18 geschickt. Dadurch habe ich Kontakt zur evangelischen Kirche bekommen. Nach meinem Bruch mit der Stasi 1982 19 fehlte mir ein Ventil, um über die Dinge zu sprechen, über die ich in der normalen Gesellschaft nicht reden konnte. Da ging ich wieder in die Akademie und hab’ diesen Kontakt weiter ausgebaut. Dort konnte ich über die feministischen Fragen reden, die mich beschäftigten. Dort konnte ich auch Jüdin sein, ohne diese merkwürdigen Reaktionen zu bekommen. Allerdings habe ich dort den Philosemitismus kennen gelernt – das hat mich etwas genervt. Aber das war immer noch besser als dieses Messer dauernd in den Bauch reingesteckt zu kriegen. Das war dort nicht so, die hatten ein Bewusstsein von der Shoah. Die meisten zumindest.

„Aha, die alte Scheiße ist wieder dabei, einzuziehen …“

In welcher Situation traf Sie die Nachricht von der Maueröffnung?

Ich war ja im Mai 1989 aus der Partei aus- und im September 1989 ins Neue Forum eingetreten. Im Oktober bin ich dann nach Australien gefahren, um meine Schwestern zu besuchen. Ich erfuhr es aus den Nachrichten. Meine ehemaligen Genossen hatten mich zu einer Versammlung eingeladen, wir waren ja immer noch befreundet. Sie haben mir gute Ratschläge mit auf den Weg gegeben, wie wir jetzt den wirklichen Sozialismus aufbauen sollen … Aber ich wusste, dass vieles, was die wollten, völlig unrealistisch war. Aber gut, ich hab’ mir das angehört und mir auch gedacht: „Ja, das will ich genauso wie die.“ Ursprünglich wollte ich drei Monate in Australien bleiben, bin dann aber nur vier Wochen geblieben. Ich fuhr von Tegel aus durch das Loch in der Mauer in der Wollankstraße. Die veränderten Gesichter und die Haltungen der Grenzer erinnerten mich sehr an das Brecht’sche Gedicht über die Maske vom bösen Teufel an seiner Wand: „Wie anstrengend es ist, immer böse zu sein.“ 20 Die waren so erleichtert! Und auch ich empfand Erleichterung und Freude. Die große, fiebrige Aufregung habe ich allerdings verpasst. Aber was danach kam, war ja auch nicht ohne …

Wie erlebten Sie das knappe Jahr bis zur Deutschen Einheit?

Mitte Dezember 1989 ging mir ein Satz von Marx drei Wochen lang nicht aus dem Kopf: Dass man den Sozialismus nur aufbauen kann, wenn die Entwicklung der Produktionsmittel und der Produktivität auf einer genügend hohen Ebene sind. Wenn man es versucht, bevor es so weit ist, dann – ich zitiere – „… fängt die alte Scheiße wieder von vorne an.“ Ich weiß noch, ich ging an einem Freitagnachmittag ins Bett – mit einer tiefen Depression. Weil ich wusste: Die alte Scheiße wird wieder von vorn anfangen. Als ich am Montag wieder aufstand, hatte ich verinnerlicht, was ich früher als Teenager als bürgerlichen Quatsch abgelehnt hätte: „Lieber Herrgott, gib mir den Gleichmut, nicht ändern zu wollen, was ich nicht ändern kann; den Mut, zu ändern, was ich ändern kann; und die Weisheit, zwischen beidem zu unterscheiden.“ (lacht) Das hat mir viel Stress erspart. Mir war dabei bewusst, dass ich es leichter haben würde als viele andere Leute in der DDR. Ich wusste ja, wie der Kapitalismus funktioniert: Dass meine Miete niemals mehr 58 Mark für 56 Quadratmeter kosten würde; nicht mehr zehn Prozent meines Einkommens, wie es in der DDR üblich war, sondern zwischen einem Viertel und der Hälfte. Dass das Fahrgeld nicht mehr 20 Pfennig für eine Fahrt in ganz Berlin betragen würde, und so weiter. Aber ich wusste eben auch, dass die DDR-Bürger das nicht wussten, dass viele einen Schock bekommen würden.

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