Читать книгу: «Makabrer Augustfund im Watt», страница 4

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Sonnabend. Nach unserem obligaten Morningjogging und der darauffolgenden labenden Dusche genossen wir zusammen mit Ferdl und Robert das Frühstück mit den von Habiba mitgebrachten frischen Brötchen, die wir dick mit der von Abuelita in dieser Woche eingekochten leckeren Erdbeerkonfitüre bestrichen. Danach verzogen wir uns in das Arbeitszimmer im Obergeschoss zur Lagebesprechung. Zunächst erfuhren wir, wie die Vernehmung von Mihalis Marinakis verlaufen war. Nachdem dieser sich meiner Freundin Kitt anvertraut hatte, legte er in Anwesenheit der Itzehoer Kollegen sowie Staatsanwältin Frau Dr. Bach ein volles Geständnis ab, dessen Protokollabschrift uns vorlag. Wie er ausgesagt hatte, fühlte er sich so hilflos und war auch von unserer Gerichtsbarkeit derart allein gelassen und deshalb verärgert, dass er meinte, sowieso nichts mehr verlieren zu können. Er hatte diesen Verzweiflungsakt geplant, um den vermeintlichen Verursacher seiner Misere zu bestrafen, indem er dessen Sohn eine Entführung anhängen und damit die Familie in Misskredit bringen wollte. Sein achtzehnjähriger Neffe Orestis studiert an der Norddeutschen Fachschule für Gartenbau in Elmshorn und jobbt zwecks eines kleinen Zuverdiensts stundenweise in einem Internetcafé. Dieser habe ihm bei der Recherche geholfen und durch einen Zeitungsartikel in der Hamburger Mopo erfahren, dass ein gewisser HPM vor zehn Jahren von einer Auszubildenden einer Privatbank wegen sexueller Belästigung angezeigt worden sei. Kurz darauf sei die Anzeige allerdings zurückgezogen worden. Dieser HPM könne kein anderer als Harrison P. Mainforth gewesen sein, weshalb es für ihn ein gefundenes Fressen war, seinen Verderber mit einer ähnlich gelagerten Tat anzuschwärzen. Dafür ließen sie sich auf das Spoofing14-Abenteuer ein und stießen zufällig auf die naive und ahnungslose Anneke Schrader, die im Internet auf der Suche nach einer Bekanntschaft war und auf der Chat-Site namens ›boyfriend‹ surfte. Der pfiffige Orestis missbrauchte dafür die Daten und einige Fotos vom Instagram-Account von Mainforths Sohn Kenneth und setzte dessen gefaktes Profil unter dem Chatnamen ›Kenny‹ ein, um mit Anneke anzubandeln und sie schließlich bis zum Cyber-Grooming anzuködern. Marinakis konnte glaubhaft versichern, dass er niemals beabsichtigt habe, dem Mädchen irgendeinen Schaden zuzufügen oder sie gar sexuell zu nötigen. Er wollte sie lediglich drei Tage lang im Versteck festhalten und danach den Behörden gefälschte Hinweise liefern, die sowohl auf Mainforths Sohn als auch auf das Versteck des Mädchens hinwiesen.

Dass der Junge gegenwärtig in den USA studiert, konnte er nicht wissen. Ebenso konnte er nicht voraussehen, dass sich das junge Mädel vorzeitig befreien und ihn für kurze Zeit außer Gefecht setzen würde.

Übrigens hatten inzwischen auch Timo Bohn und unsere ZAC-Analytiker die Chats auf Annekes Tablet untersucht. Über IP- und MAC-Adressen konnten sie den Computer des Internetcafés ausmachen, von dem aus der falsche ›Kenny‹ mit Anneke gechattet hatte. Wir waren dem bereits geplanten Zugriff auf den Neffen nur deswegen zuvorgekommen, weil Ferdl und ich zusammen mit den Elmshorner Kollegen Mihalis Marinakis angetroffen und ihn kurzerhand festgenommen hatten. Der junge Orestis hat sich allerdings in diesem Zusammenhang ebenfalls schuldig gemacht und muss sich vor der Jugendkammer dafür verantworten. Meine Freundin Kitt erreichte erfreulicherweise beim Haftrichter die vorübergehende Freilassung des Festgenommenen bis zur Gerichtsverhandlung, da er voll geständig gewesen sei und weder Verdunklungs- noch Fluchtgefahr bestehe. Ich rief bei Kitt Harmsen in Kiel an, um mich bei ihr für ihren beherzten Einsatz zugunsten des armen Teufels zu bedanken. Sie erzählte mir, dass der ›ehrenwerte‹ Mister Mainforth die Stirn besessen habe, durch seinen Rechtsanwalt Dr. Allwardt (oh mein Gott, bitte nicht wieder dieser widerliche Rechtsverdreher!) zivile Nebenklage wegen versuchter Rufschädigung und übler Nachrede als sogenanntes Adhäsionsverfahren zu erreichen, was der Haftrichter – nach Würdigung von Kitts ausführlichen Erläuterungen über die wahren Hintergründe von Marinakis’ Verzweiflungstat – mit dem Hinweis abschmetterte, der sich verunglimpft fühlende Bänker solle sich doch lieber darüber Gedanken machen, dass er und seine Bank die eigentlichen Verursacher des gesamten Schlamassels gewesen seien. Da kann ich nur ganz laut Bravo rufen!

Schließlich berichteten Ferdl und ich von den doch etwas mageren Ergebnissen unserer Rundfrageaktion bei den betroffenen Familien. Waldi meinte dazu, er teile mein Gefühl, dass die drei Fälle einen gemeinsamen Nenner gehabt haben müssen. Wir fragten uns daraufhin allesamt, wie man aus den Fakten irgendeinen roten Faden erkennen könne. Ferdl schlug vor, sämtliche relevanten Daten, die wir gesammelt hatten, in eine Excel-Tabelle zu übertragen. Während sich die anderen daranmachten, ging ich hinunter in die Küche, um gemeinsam mit Abuelita mein Makrelengericht vorzubereiten. Zusammen mit Habibas orientalischem Gemüsereis wurde es, gelinde gesagt, ein voller Erfolg.

Nach einer Verdauungssiesta schlürften wir alle einen Becher Tee im Garten und sahen uns dabei Ferdls Excel-Tabelle an. Die räumliche Nähe der Wohnorte sowie der Zeitraum, in dem die drei Kinder als vermisst gemeldet worden waren, verblieben als auffälligste Gemeinsamkeiten. Waldi räsonierte, dass ihm bei nochmaliger Durchsicht der Akten aufgefallen sei, dass die Berichte der zuerst zuständigen Polizeidienststelle in Glückstadt eher spärlich und lückenhaft daherkamen. Nachdem ich ihn daran erinnert hatte, dass damals Ähnliches anlässlich der Ermittlungen im Fall Glückstädter Doppelmord vorgekommen sei, stimmte er zu, dass ich am Sonntagabend nicht nach Kiel zurückfahren, sondern zunächst Montag früh den Kollegen in der Königstraße von ›Lucky-Town‹ einen erneuten Besuch abstatten solle. Bevor Robert Ferdl zum Bahnhof brachte, genossen wir alle gemeinsam das Abendessen auf der Deichterrasse im Elbmarschen Hof und erlebten dabei ein wunderschönes Abendrot.

Sonntag. Morgenjogging mit Waldi und Robert in Richtung Holstenhof. Beim traditionellen Familientreffen zum ›Morgenmittag‹ bei Onkel Oliver und Tante Madde war die am nächsten Wochenende stattfindende Wattolümpiade in Brunsbüttel15 das Hauptthema. Mein jüngster Vetter und größter Fan Oskar ist aktives Mitglied im hiesigen Sportverein und soll während dieser Veranstaltung zusammen mit seinem Matschhandballteam ›Moorbutschers‹ um den Siegerpokal kämpfen. Natürlich wollen wir deswegen alle dabei sein und ihn und seine Mannschaft lautstark unterstützen. Schließlich verbrachten wir angenehme Plauderstunden im Familienkreis und ich hatte endlich genügend Zeit, all dies bei dir, liebes Tagebuch, ausführlich festzuhalten.

PS: Ich notiere dies nur noch rasch, bevor ich zu Bett gehe. Nachdem Waldi und Robert nach Kiel aufgebrochen waren, sah ich noch einmal sämtliche Akten durch. Ich druckte Ferdls Excel-Tabelle aus und kennzeichnete die übereinstimmenden Orte und Daten mit Markern unterschiedlicher Farbe. Dabei gelangte ich zunehmend zu dem Ergebnis, dass wir nach einem Täter suchen müssen, der sich zeitlich und wahrscheinlich auch beruflich im unmittelbaren Aktionsradius der Familien der Opfer bewegte. Ich bin doch sehr neugierig, ob ich morgen bei den Glückstädter Kollegen mehr darüber erfahren werde!

Nili zieht das Verbindungskabel mit der externen Festplatte vom USB-Port ihres Laptops und deponiert diese im Geheimfach des Schreibtisches neben den beiden älteren Datenablagen ihres Tagebuches. Ist doch Wahnsinn, denkt sie, als sie die drei unterschiedlichen Geräte miteinander vergleicht, wie sich im Laufe der Jahre diese Festplatten zwar in der Größe verkleinert, in ihrer Speicherkapazität jedoch um ein Vielfaches erweitert haben! Sie hatte sich heute wieder einmal ihr Tagebuch vorgenommen, um darin die letzten Ereignisse festzuhalten. Sie tut es damit ihrer Abuelita Clarissa gleich, die schon in ihrer frühen Jugend die bedeutenden und intimsten Gedanken ihren Tagebüchern anvertraut hatte und gelegentlich Tochter und Enkelin daraus vorliest. Nili erfährt dadurch immer wieder interessante Begebenheiten aus ihrer Familiengeschichte. Sie selbst hatte während ihres ersten Gymnasialjahres in Hamburg mit den Einträgen begonnen und in unregelmäßigen Abständen all jene erwähnenswerten Erlebnisse festgehalten, die ihr bedeutend erschienen. Nach Antritt ihrer polizeilichen Karriere in Hamburg hatte sie das Tagebuchschreiben für längere Zeit unterbrochen und erst Jahre später, bereits zur Kriminaloberkommissarin befördert und nach Oldenmoor zurückgekehrt, wieder damit begonnen. Inzwischen hält sie auch ihre interessantesten Fälle fest.

Während Nili das Geheimfach abschließt, fällt ihr Blick auf den Totenschädel, der sie von der linken Schreibtischecke makaber anzugrinsen scheint. Bei dem Schädel handelt es sich um ein Relikt aus Onkel Suhls Zeiten, in deren ehemaligem Arbeitszimmer sie sich befindet. An diesem Schreibtisch saß schon vor mehr als einem Jahrhundert der neckische Alte und brachte seine pseudowissenschaftlichen Thesen zu Papier.

Als engster Freund ihrer Urgroßeltern vermachte er das Haus, das bis heute seinen Namen trägt, ihrer Abuelita Clarissa und ihrem Opa Heiko zu deren Hochzeit. Irgendwie scheint sein Geist immer noch in diesen Wänden präsent zu sein.

Ein kurzer Schauder überfällt Nili, als sie erneut auf den Schädel blickt: »Du brauchst mich gar nicht so blöd anzugrinsen!«, sagt sie laut. »Ich weiß ja, dass du nicht der Mörder bist!«

4. Mia, Pascal und Alina

Nach einer längeren Trockenperiode erweist sich dieser Augustmorgen als trübe und feucht. Ein kurzes und starkes Wärmegewitter entlud während der frühen Morgenstunden fast zwanzig Liter Regen pro Quadratmeter über Oldenmoor und vertreibt damit für eine Weile die angenehme Wärme der vorangegangenen Tage. Das laute Prasseln der Regentropfen gegen die Fenster ihres Zimmers erleichtert der noch im Halbschlaf versunkenen Nili den Entschluss, an diesem Tag auf das Joggen zu verzichten.

Abuelita und ihre Ima sind noch nicht aufgestanden, als Nili mit Habiba frühstückt, bevor diese sich zur Arbeit auf dem Eulenhof verabschiedet. Ehe Nili ebenfalls aus dem Haus geht und in den Dienstwagen steigt, ruft sie Polizeihauptkommissar Sönke Jürgens in der Glückstädter Königstraße an, um sich anzumelden. Bei ihrer Ankunft wird sie zunächst von der sympathischen Sandra Nöhrenberg – inzwischen von der Anwärterin zur Polizeimeisterin avanciert – in Empfang genommen. »Schön, Sie wiederzusehen, Sandra, und herzlichen Glückwunsch zur Beförderung!«, begrüßt sie die Kollegin, während diese sie ins Büro des Stationsleiters führt. Auch Sönke Jürgens zeigt sich über das Wiedersehen erfreut, zumindest bis zu dem Augenblick, als Nili ihm den Grund ihres Besuches eröffnet: »Bei der erneuten Durchsicht der damaligen Berichte der drei Vermisstenfälle ging uns auf, dass diese einige wichtige Fakten vermissen lassen, sehr geehrter Herr Kollege! Vor allem aber finden wir darin keine Protokolle über die Befragung möglicher Zeugen. Bitte fassen Sie dies nicht als Vorwurf auf, aber ich wüsste gern, warum es unterlassen wurde oder ob es, wie bereits einmal geschehen, dem offensichtlichen Unvermögen eines damaligen Beamten zuzuschr…«

»Sie haben vollkommen recht, Frau Masal«, unterbricht sie der peinlich berührte PHM Jürgens. »Genau das ist bedauerlicherweise damals passiert, tut mir so leid! Sie wissen ja, dass sich mein Vorgänger, Hauptmeister Diethelm Pohl, sagen wir mal ›krankheitsbedingt‹, nicht immer auf der Erfüllungshöhe seiner Amtspflichten befand. Er war derjenige, der von unserer Seite maßgeblich die Ermittlungen in diesen Fällen führte. Ich denke, Obermeister Frank Nissen kann Ihnen mehr darüber berichten. Soweit mir bekannt ist, stand dieser dem Kollegen Pohl gelegentlich zur Seite. Von der Kripo in Itzehoe war damals ein gewisser Kriminaloberrat Werner Thumann für die Fallbearbeitung zuständig. Ihm assistierten zwei seiner Kommissare. Ich bin erst vor einem Jahr für Pohl hierhergekommen, nachdem dieser nach Horst versetzt worden war. Mein Stand der Dinge ist, dass er vorzeitig aus dem Dienst ausgeschieden ist und sich in einem Pflegeheim befindet.«

Nili berichtet, dass sowohl Thumann als auch dessen damalige Mitarbeiter Gehrke und Neumann inzwischen verstorben seien. Dann bittet sie Jürgens: »Könnte ich den Kollegen Nissen sprechen und wären Sie bitte so nett, bei der Horster Dienststelle nachzufragen, ob sie uns sagen können, in welchem Heim Pohl untergebracht ist?«

Das anschließende Gespräch mit POM Frank Nissen bestätigt die Ungereimtheiten des ehemaligen Leiters der Polizeistation. Dieser habe zwar in der Gegend herumgefragt sowie einige Zeugen vernommen, wo allerdings dessen Berichte abgeblieben seien, wisse auch er nicht. Er glaube eher, Pohl habe sie in den meisten Fällen nicht einmal zu Papier gebracht, entweder weil er wegen seines Alkoholkonsums die eingesammelten Fakten rasch vergaß oder weil er, wenn überhaupt, bis zuletzt Berichte und Protokolle stets auf seiner alten Olympia-Schreibmaschine tippte, statt die kurz zuvor angeschafften Computer zu nutzen. Erinnern kann sich Nissen eigentlich nur an einen Lkw-Fahrer, den er selbst vernommen hatte. Dieser war zur fraglichen Zeit der Entführung der kleinen Mia bei derselben Großdruckerei in Heiligenstedten tätig, bei der ihr Vater arbeitete. Nili konsultiert Ferdls Diagramm und stellt fest, dass dies zutrifft: Der Drucker Alfred Martens verdiente damals seinen Unterhalt bei der Mediaprint. Nach dem Namen des Truckers gefragt, kann sich Nissen nicht mehr an diesen erinnern, dagegen aber an einen Rüffel seines Vorgesetzten, der ihm befahl, diesen Mann doch in Ruhe zu lassen, weil er den Fiete schon seit der Schule kenne und der so etwas niemals getan haben könne.

Nili bedankt sich und verabschiedet sich von den Kollegen in der Gewissheit, hier nichts mehr von Bedeutung zu erfahren. Dabei überreicht ihr Sandra Nöhrenberg einen Zettel mit der Anschrift des Alten- und Pflegeheims Zur Eiche in Horst.

*

Nachdem sie wieder in den X3 gestiegen ist, surft Nili auf ihrem Laptop im Internet und findet heraus, dass der Vorname Fiete ›Friedebringer‹ bedeutet und dass dieser die niederdeutsche Kurzform von Namen ist, die mit ›Fried‹ gebildet werden, zumeist ›Friedrich‹. Sie diktiert einen kurzen Vermerk in ihr iPhone und ergänzt drei Fragen: Wo und wann ging Diethelm Pohl zur Schule? Wie hieß ein Klassenfreund mit Vornamen Fiete, Friedrich oder so ähnlich mit Nachnamen? Und: Wer kann uns Auskunft über Personalfragen bezüglich der ehemaligen Mediaprint Druckerei in Heiligenstedten geben?

Sie ruft in ihrem Büro an und bittet Robert, der das Gespräch entgegennimmt, die Fragen an Ferdl und Timo weiterzugeben. Robert berichtet, die beiden seien gegenwärtig zusammen mit Otmar Krey in der ZAC damit beschäftigt, auf den einschlägigen Kinderpornoseiten im ›Tatort Internet‹ eventuelle Hinweise auf die vermissten Kinder zu finden. Dann teilt er mit, dass sich Margrit soeben abgemeldet habe, da ihre Mutter in der vergangenen Nacht im Hospiz ihrem MS-Leiden erlegen sei. Er habe Waldi bereits darüber informiert. Nili ist zutiefst betroffen von der Nachricht und regt an, sofort nach ihrer Rückkehr gemeinsam zu beraten, wie man der Kollegin in dieser argen Stunde beistehen könne. Sie wolle auch gleich nach dem nächsten Besuch die Rückfahrt antreten.

Als sie nach kurzer Fahrzeit in der Gemeinde Horst eintrifft, hält sie vor einem kleinen Ladengeschäft in der Schulstraße an, um die Wegbeschreibung zu besagtem Pflegeheim in Erfahrung zu bringen. Den Erläuterungen der Verkäuferin folgend, erreicht sie schließlich ihr Ziel im Ortsteil Moordiek. Sie parkt den BMW vor einem älteren lang gezogenen zweistöckigen Backsteingebäude mit zahlreichen Fenstern inmitten einer gepflegten Gartenanlage. Der junge Mann an der Anmeldung bittet sie höflich, sich im Besucherregister einzutragen und einen Moment Platz zu nehmen, er müsse zunächst die Frau Professor von ihrem Besuch in Kenntnis setzen. Es dauert nicht lange, bis eine dürre und kleinwüchsige, in einen weißen Kittel gekleidete Gestalt durch eine der Türen tritt und Nili mit strenger Stimme fragt, wer sie sei und weshalb sie Herrn Pohl zu sprechen wünsche. Nili zeigt ihr ihren Dienstausweis und erklärt, es handle sich um eine Auskunft betreffend Pohls früherer beruflicher Tätigkeit. Die Frau Professor nickt. »Ich kann Sie gern zu Herrn Pohl begleiten lassen, bezweifle aber, dass er in der Lage sein wird, Ihre Fragen zu beantworten. Der arme Mann ist seit einem Jahr zunehmend dement und hat nur noch selten klare Augenblicke.« Da Nili ihr zu verstehen gibt, dass sie es dennoch versuchen wolle, spricht die Heimleiterin kurz in ihr Handy und wendet sich ihr dann wieder zu. »Bitte warten Sie hier, unser Pfleger Reza Nasseri wird Sie zu Herrn Pohl bringen.« Sie wünscht Nili viel Glück, reicht ihr zum Abschied die Hand und entschwindet eilig durch jene Tür, durch die sie zuvor gekommen war.

Kurz darauf begleitet sie ein sympathisch wirkender dunkelhaariger Mann mittleren Alters in einen an der Rückseite des Gebäudes befindlichen und mit großen Fenstern ausgestatteten Wintergarten. Auf dem Weg dorthin erzählt Reza, er sei zusammen mit seiner Frau und ihrer gemeinsamen Tochter vor drei Jahren aus dem Iran geflüchtet, weil sie als Moslems zum Christentum konvertiert seien und dies gemäß der dort geltenden Schari'a mit dem Tode bestraft werde. Unverständlicherweise sei sein Asylantrag negativ beschieden worden und er sei verzweifelt, wolle man ihn und seine Familie doch bald zurück in den Iran abschieben. Der von seinem Anwalt gestellte Beschwerdeantrag gegen den negativen Bescheid sei ihre letzte Chance, diesem Todesurteil zu entkommen.

Ein unhaltbar trauriger Zustand, sinniert Nili, ohne es auszusprechen. Einerseits wird händeringend Pflegepersonal für Alte und Kranke gesucht, andererseits bereits gut integrierten und durchaus berechtigten Asylantragsstellern der Aufenthalt verweigert. Da weiß ja nicht einmal der Zeigefinger, was der benachbarte Daumen tut!

*

Diethelm Pohl sitzt leicht vornübergebeugt in einem Rollstuhl und präsentiert sich Nili als ergrautes, kahles und zusammengefallenes altes Männlein, das mit verlorenem Blick in die Ferne schaut. Kaum zu ahnen, dass diese jämmerliche Figur früher einmal der Dienststellenleiter eines Polizeireviers gewesen ist. Als Nili sich mit einem freundlichen Gesichtsausdruck neben ihn auf eine Bank setzt, erhellt ein erfreutes zahnloses Lächeln sein Gesicht: »Schön, dass du mich endlich wieder besuchen kommst, Marlene«, lallt der Alte und greift nach ihrer Hand. Von Reza erfährt Nili, dass es sich dabei um Diethelm Pohls vor einigen Monaten verstorbene Ehefrau handelt, die ihn bis dahin regelmäßig besucht hat.

Nili lässt den Mann gewähren und sagt nach einer Weile: »Wie geht es Ihnen, Herr Polizeihauptkommissar?«

Der Alte bedenkt sie mit einem misstrauischen Blick. Augenblicklich verschwindet das Lächeln aus seinem fahlen Gesicht und er entzieht ihr ruckartig die Hand. »Wer sind Sie?«, will er wissen. »Was wollen Sie von mir?«

»Ich bin eine Kollegin von Ihnen, Herr Pohl. Genauer gesagt KHK Nili Masal und Sonderermittlerin im Kieler LKA. Ich bin zu Ihnen gekommen, weil wir einen alten Fall noch einmal aufgenommen haben, für den Sie damals zuständig waren. Wir benötigen Ihre Hilfe!«

Irgendwie scheinen diese Worte Wirkung zu zeigen, denn plötzlich geht so etwas wie ein Ruck durch Pohls kauernden Körper und er nimmt Haltung an. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Frau Kriminalhauptkommissarin?«, fragt er mit geschäftig klingender Stimme. Nili dankt ihm für die freundliche Unterstützung und erzählt ihm, um welche Fälle es sich handelt.

»Ja, die kleine Mia aus Krempe, an die erinnere ich mich. Und auch an Pascal, jawohl!«, sagt er. »In Elskop wohnte der Junge, richtig? Ich habe damals intensiv recherchiert und in jedem Winkel nach den Vermissten gesucht. Es wurde genauestens protokolliert, wen wir alles befragt haben und was wir von denen erfahren konnten. Das können Sie sicher sämtlich in den Akten nachlesen. Dann haben sich auf einmal Thumann und seine Leute aus Itzehoe eingemischt und die Ermittlungen an sich gerissen. Diese Klugscheißer von der Kripo ließen uns gar nicht mehr agieren. Es sei ihr und nicht mehr unser Fall, hieß es. Sie suchten von da an monatelang völlig umsonst nach den beiden Kindern. Nichts haben sie herausgefunden, die Banausen, absolut nichts! Und mir gaben sie die Schuld. Ich musste mich dann auch noch versetzen lassen. Und als ob das nicht gereicht hätte, verschwand schließlich die kleine Alina aus Herzhorn. Auch bei ihr haben sie auf der ganzen Linie versagt!« Seine Stimmlage drückt spürbar die Frustration aus, die ihm dieser Misserfolg damals zugefügt haben muss.

Nili weiß nicht, wie sie diese Aussage werten soll, steht sie doch im krassen Widerspruch zu dem, was aus der Aktenlage hervorgeht. Entspricht das, was Diethelm Pohl gerade erzählt hat, den Tatsachen oder sind sein Gedächtnis und sein Denkvermögen angesichts der frustrierenden Ereignisse und seiner fortschreitenden Krankheit ermattet? Sie erinnert sich auch an das bei ihren eigenen vormaligen Glückstädter Recherchen festgestellte plötzliche Fehlen einer wichtigen Zeugenaussage. Es erscheint ihr zwecklos, den Mann nach dem Verbleib seiner angeblichen Berichte zu befragen. Sie wagt einen neuen Ansatz: »Sie haben recht, so wird es wohl gewesen sein. Deswegen bearbeiten wir jetzt im LKA die Fälle erneut. Können Sie mir vielleicht sagen, lieber Herr Kommissar, da war doch noch Ihr alter Schulfreund, der Fiete. Besucht er Sie noch?«

»Jaja, der Fiete, dieser Hund! War doch ein guter Kumpel, aber was wohl in den gefahren sein mag?« Der Alte schüttelt den Kopf und sein eben noch klarer Blick verfinstert sich. Mit wehmütiger Miene sieht er Nili an, dann lächelt er traurig: »Besuchst du mich bald wieder, Emmy?« Nili begreift, dass Pohls lichter Augenblick vorüber ist, und drückt ihm kurz die Hand.

»Ja, mein lieber Diethelm, ich komme bald wieder«, sagt sie, steht auf und winkt ihm von der Tür aus zu. Pohls Blick verliert sich erneut ins Leere.

Während Reza Nasseri sie wieder hinausbegleitet, fragt Nili, ob er wisse, wer diese Emmy sei, denn bei der Ankunft hat Pohl sie ja als Marlene begrüßt. Der Pfleger verneint, eine zweite Frau namens Emmy habe ihn seines Wissens nie besucht, eben nur die Ehefrau. Als sie dem jungen Mann am Empfang erneut ihren Dienstausweis zeigt und ihn bittet, im Besucherregister nachsehen zu dürfen, stellt sie fest, dass Marlene Pohl tatsächlich bis vor sechs Monaten die einzige Besucherin des ehemaligen Polizeihauptmeisters war. Nach ihrem Tod habe er keinen Besuch mehr erhalten, erfährt sie. Am Ausgang bedankt und verabschiedet sie sich von ihrem Begleiter und wünscht ihm viel Glück für den erfolgreichen Ausgang seiner Aufenthaltsbewilligung. Dann folgt sie einem inneren Impuls und überreicht ihm ihre Karte: »Halten Sie mich auf dem Laufenden. Rufen Sie mich an, wenn es hart auf hart kommen sollte, was ich nicht hoffe. Ich kann nichts versprechen, aber ich werde dann auf jeden Fall versuchen, Ihnen zu helfen. Machen Sie’s gut, Herr Nasseri!« Bevor der verdutzte Mann antworten kann, eilt sie zum X3 und fährt los.

*

Als Nili wieder am Polizeizentrum Eichhof eintrifft, hat die Mittagspause bereits begonnen, sodass sie direkt in die Kantine geht. »Was hast du heute Leckeres auf dem Plan, Rosi?«, fragt sie die Küchenfee, die das Mittagessen ausgibt.

»Moin, Nili! Du kannst einen Caesar-Salat mit oder ohne Putenstreifen wählen, ansonsten gibt es ein leckeres Champignonomelett sowie ’ne gebackene Karbonade mit Bratkartoffeln und Gurkensalat.«

Nili entscheidet sich für das Omelett und nimmt den Gurkensalat sowie ein Glas Rhabarberschorle dazu. Sie geht mit ihrem Tablett an den Tisch, an dem Waldi und ihre Mitarbeiter sitzen. Diese beraten gerade, wie man der trauernden Kollegin am besten beistehen könne. Robert erzählt, dass Margrit angerufen und vom Ableben der Mutter berichtet habe. Sie habe gefasst gewirkt, aber wie Ferdl kolportiert, »steckt ma ja ned im andren drin, wans denn so a Malheur passieren tät«.

Zurück an ihrem Arbeitsplatz, ruft Nili Margrit zu Hause an, vermag aber nur ihr Mitgefühl auf dem Anrufbeantworter auszusprechen und sie zu bitten, sie möge sie entweder im Büro oder nach Feierabend auf ihrem Handy anrufen. Dann berichtet sie ihren Kollegen, was sie in Glückstadt und in Horst in Erfahrung bringen konnte. Dabei betont sie, dass ihr die eigenartigen Aussagen des Ex-Kollegen Pohl, nachdem sie ihn auf diesen Fiete angesprochen hatte, besonders zu denken gäben.

Während Timo wieder zum Kollegen Krey in die Cyberzentrale geht, um gemeinsam mit ihm die Suche nach Hinweisen auf Kinderpornoseiten fortzusetzen, macht sich Ferdl an seinem PC erneut auf die Suche nach einer Auskunftsstelle über das Personal der ehemaligen Mediaprint in Heiligenstedten. Er berichtet Nili und Waldi von einer Neuigkeit. In der Früh sei er gerade damit beschäftigt gewesen, nach der Druckerei zu suchen, und habe dabei wiederholt deren Namen laut ausgesprochen, als der Bote Hugo Treumann hereinkam, um die Hauspost zu verteilen. Der schnappte den Firmennamen auf und erzählte, dass sein Schwager Günter bis zur Rente in deren Personalabteilung gearbeitet habe. Das Unternehmen habe ehemals bekannte Illustrierte für einige große Verlage sowie die Seiten der Lokalausgabe für ein weitverbreitetes Boulevardblatt gedruckt. Als die Tageszeitung beschloss, diesen Bereich in die eigene Druckerei zu verlagern, und darüber hinaus eine der hier in Großauflage hergestellten Zeitschriften vom Verlag eingestellt worden war, wurde die Mediaprint durch einen Großkonzern aufgekauft. Bereits kurze Zeit später wurde das Werk in eine andere Stadt verlagert und der hiesige Standort aufgegeben. Dadurch wurden die meisten Mitarbeiter arbeitslos. Während sie Ferdls Ausführungen verfolgen, hat Nili eine Idee. »Waldi, tust du uns bitte den Gefallen und beantragst bei der Staatsanwaltschaft die Erlaubnis zur Einsicht in die Personalakte von Polizeihauptmeister a.D. Diethelm Pohl? Vielleicht erfahren wir auf diesem Wege etwas mehr über ihn und eventuell gleichzeitig von diesem geheimnisvollen Kumpel Fiete.«

Waldi nickt ihr zu und geht hinaus.

Ferdl zeigt Nili einen Zettel, auf dem er sich den Namen und die Anschrift von Treumanns Schwager notiert hat: »I hab a sei Telefonnummer rausgfunden. Was meinen’s, Frau Chefin, wollns den ned anrufn?«

Nili blickt auf den Zettel und nickt. »Gute Arbeit, Ferdl! Einen Versuch ist es jedenfalls wert, nicht wahr?« Sie wählt den Itzehoer Anschluss und schaltet den Lautsprecher ein. Kurze Zeit später meldet sich eine tiefe Männerstimme. Nili stellt sich vor und fragt, ob sie mit Herrn Günter Frei, dem Schwager ihres LKA-Kollegen Hugo Treumann, verbunden sei. Nachdem dieser bejaht und Nili ihm ihr Anliegen vorgetragen hat, sagt er, er könne sich an einen Arbeitskollegen erinnern, auf den der Name Fiete zutreffe. »Wir hatten bei der Mediaprint einen größeren Lkw-Fuhrpark und ich bin mir sicher, dass wir unter den Fahrern einen gewissen Fritjof hatten, den alle ›Fiete‹ nannten. Ich habe mir das gemerkt, weil dieser Vorname nicht gerade alltäglich ist. Aber wie hieß der noch mit Nachnamen?« Er überlegt: »Koch oder Kock? Ich denke eher Kock, Frau Kommissarin. Tut mir leid, ich bin mir nicht mehr ganz sicher, aber es muss einer von diesen beiden gewesen sein. Was hat der denn angestellt?«

»Das können wir Ihnen noch nicht sagen. Sein Vorname tauchte bei uns im Rahmen einer Ermittlung auf und wir wollen versuchen, diese Person ausfindig zu machen, um sie als Zeuge zu befragen. Können Sie uns genauer sagen, wann Fiete bei der Mediaprint beschäftigt war?«

»Warten Sie mal, hm.« Er überlegt. »Ich ging Ende 2008 in Rente, da war er schon circa ein Jahr bei uns. Und der Betrieb schloss meines Wissens 2009, da wurden alle entlassen. Also schätzungsweise von 2007 bis 2009. Er war etwas ruppig, ansonsten aber ein zuverlässiger und guter Fahrer. Ich hoffe, ich konnte Ihnen damit behilflich sein.«

Nili bedankt sich für die Auskunft und legt auf. »Na also!«, ruft sie. »Sehen Sie mal zu, mein geschätzter Herr Fachinspektor, ob und was Sie über diesen gewissen Fritjof Kock oder Koch herausbekommen!«

*

Da sich Margrit bis kurz vor Feierabend noch nicht gemeldet hat, ruft Nili sie erneut an, diesmal aber auf ihrem Handy. Margrit entschuldigt sich, sie habe Nilis Anruf zwar registriert, habe aber heute allerlei Behördengänge erledigen und ein längeres Gespräch mit dem Bestattungsunternehmen führen müssen. Nili lädt sie zum Abendessen ein, denn sie vermutet, dass ihrer Mitarbeiterin am besten geholfen ist, wenn sie nach all dem Trubel ein wenig Entspannung und Zuspruch erfährt. Nach einigem Zögern willigt Margrit ein, dass Waldi und Nili sie gegen achtzehn Uhr zu Hause abholen. Auch mit der Teilnahme der Kollegen ist sie einverstanden, und vor die Wahl gestellt, entscheidet sie sich für das Ristorante da Massimo, denn sie liebt die italienische Küche. Waldi ruft sogleich Laura, die Tochter des Sternekochs Rivoli, in der Feldstraße an, um einen Tisch für sechs Personen zu reservieren, ist doch erfahrungsgemäß das begehrte Lokal stets ausgebucht. Weil er ein langjähriger und geschätzter Bekannter des Gastronomen ist, gelingt es ihm gerade noch, die letzten Plätze zu ergattern. Nachdem er sich herzlich bei ihr bedankt hat, versichert ihm Laura, er sei allzeit bei ihnen willkommen.

Noch bevor sie losgehen, berichtet Waldi: »Übrigens, Frau Doktor Bach schickt uns morgen per Fax die schriftliche Genehmigung zur Einsicht in die Personalakte Pohl bei der Polizeidirektion Itzehoe. Wer soll da hin, Nili?«

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