Читать книгу: «Amalien Jahrhundert», страница 3
Und der besonders schwierige Laut Ы, der im Deutschen einfach nicht existiert, war David inzwischen bestens vertraut. Eines Tages in der Schmiede, als er seinem Vater half, schlug er versehentlich mit dem Hammer auf seinen Finger. Der Nagel, das ist klar, wurde am nächsten Tag schwarz, aber der Schmerz im Moment des Aufpralls war so stark, dass der Junge am liebsten geheult hätte, wie ein Wolf. Stattdessen, mit zusammengebissenen Zähnen und gespannten Lippen, ließ er nur ein dumpfes „Уыыы!“ von sich.
So wurde Ы, das im Deutschen einfach nicht existierte, für David vertraut und sogar eigenartig.
Mit der Zeit gelang es ihm, das Chaos der russischen Sprache in seinem Kopf zu ordnen – mit ihren vielen Fällen, Regeln und unzähligen Ausnahmen. Wie ein erfahrener Meister wählte er die Wörter so sorgfältig aus, wie eine Mutter die Schraube zu einer Mutter.
Doch es blieb eine Schwäche – das deutsche Verb „haben“. Dieses universelle Verb war so tief in seiner Rede verwurzelt, dass David es unweigerlich auch in russische Sätze einfügte.
– Ну, ты haben, давай быстрее!(Nun, du haben, beeil dich!), – konnte er seinem Kameraden sagen.
Diese zufälligen „haben“ ärgerten ihn selbst sehr, aber bei seinen Freunden lösten sie stets Lachen aus.
So behielt David, obwohl er sich redlich bemühte, „ein richtiger Russe“ zu werden, stets einen warmen Schein seiner deutschen Seele in sich.
Mit Technik jedoch hatte David nie Probleme. Jedes Teil eines Traktors konnte er blind, einfach durch Tasten erkennen. Sei es der „Kolomensky“, der „Zaporozhets“ oder der „Fordzon-Putilovets“, alles, was kaputt ging, erlangte in seinen Händen schnell ein neues Leben. Und den Einzylinder-Motor des „Karlik“ zerlegte David so schnell und baute ihn wieder zusammen, dass der kleine Traktor schon am Ende der Arbeitsschicht stöhnte, pfiff, fuhr und sicher pflügte.
Die Kollegen in der Maschinen-Traktor-Station (MTM) hatten längst bemerkt, dass David immer als Erster zur Arbeit kam und das mit unverhohlener Freude. Es war ihm nie nötig, erinnert oder gezwungen zu werden: Er lebte förmlich in der Werkstatt. Abends, wenn die anderen Arbeiter nach Hause eilten, blieb er oft, um das Begonnene zu vollenden oder einfach ein weiteres Rätsel des Eisenmechanismus zu lösen. Kein Mensch, sondern eine echte Maschine.
Die Leiterin, Nina Petrowna, hegte große Zuneigung für den fleißigen und besonnenen Jungen. Sie war besonders beeindruckt davon, dass David im Gegensatz zu vielen anderen Traktoristen im Staatsgut nie mit seinem Wissen und Können prahlte. Er versteckte sich nie hinter Ausreden wie „Das ist nicht meine Arbeit“ oder „Das soll der Spezialist erledigen“. David nahm gerne jede Arbeit an und bot oft seine Hilfe an, wenn er ein Problem bemerkte.
– Er hätte ein Landstreicher oder Bettler werden können, – sagte sie nicht selten mit Stolz. – Aber nein, er hatte genug Willensstärke und Verstand, um seinen Platz im Leben zu finden. Sieh nur, wie er fest auf seinen Beinen steht, wie ein echter Mann.
Die alleinstehende Kommunistin Nina Petrowna nannte David oft ihren Sohn, den sie nie gehabt hatte. Und das waren keine leeren Worte – sie war wirklich stolz auf den Jungen, der es geschafft hatte, sein schwieriges Schicksal in einen Weg des Erfolgs zu verwandeln.
Der Leiter der Werkstatt im Staatsgut, Onkel Anton, der einst für den deutschen Jungen bürgte, zeigte nun ebenfalls Zufriedenheit. David hatte seine Erwartungen voll erfüllt. Mehr noch, er war in seinem Handwerk so weit gekommen, dass Anton ihm das Unterrichten anderer Traktoristen anvertraute, obwohl diese oft älter waren als ihr Lehrer.
– Ich sagte doch, dass aus ihm etwas wird, – wiederholte Onkel Anton oft und schaute auf den fleißigen Jungen. – Sieh, wie die Jungs zu ihm aufschauen. Ein echter Fund.
Doch hinter all dieser "Erwachsenheit" des Teenagers schimmerte immer noch seine Kindheit hindurch. Besonders nachts, wenn er sich mit der Decke bis zum Kopf bedeckte und die Augen fest zuschloss, hatte er das Gefühl, seinen Vater zu sehen. In seiner Vorstellung saßen sie nebeneinander wie in alten Zeiten, und David erzählte stolz von seinem neuen Leben im Staatsgut. Er teilte jeden Erfolg mit: wie er den Traktor repariert hatte, wie er die neue Technik erlernt hatte, wie er bei der Ernte geholfen hatte. Es schien, als hörte der Vater aufmerksam zu und nickte zustimmend.
Natürlich sehnte sich David auch nach seiner Mutter. Ja, sie hatte ihn fortgeschickt. Ja, sie hatte ihn verraten. Aber sie war schließlich seine Mutter. Das Blut der Mutter konnte man nicht auslöschen, nicht ausmerzen. Es floss in ihm, brannte, rief ihn auf, zu verstehen und zu vergeben. „Ich muss sie unbedingt besuchen“, entschloss er sich eines Tages, die Fäuste ballend.
Wann aber? Und wie? Das Leben im Staatsgut war bis auf die Minute durchgeplant: mal die Aussaat, mal die Ernte, mal die Traktoren reparieren, mal eine neue Aufgabe übernehmen. Und all das lag auf ihm, dem jungen Komsomolzen. Keine Fehler, nichts versäumen. Und dazu noch das Studium – er musste sowohl Traktorist werden als auch seine Ausbildung nicht vernachlässigen.
Aber selbst wenn er freie Zeit gefunden hätte, wäre es nicht einfach gewesen, ins Dorf Müller zu gelangen. Direkt über die Wolga – ein Katzensprung, aber es gab keine Transportverbindung zwischen den Ufern. Fischer? Die musste man erst finden und überreden, sie hinüberzusetzen. Es blieb der lange Küstenweg.
Zuerst musste er stromaufwärts zur Stadt Pokrowsk fahren – hundert Kilometer bis zur Stadt, die in diesem Jahr zu Ehren von Friedrich Engels umbenannt worden war. Jetzt war sie die Hauptstadt der deutschen autonomen Republik. Von Engels aus musste er mit der Fähre über die Wolga nach Saratow übersetzen. Und dann wieder stromabwärts, noch hundert Kilometer, zu seiner Heimat.
David seufzte. An einem Tag würde es sicher nicht zu schaffen sein. Diese Reise schien ihm unendlich lang und anstrengend. Aber irgendwo tief in seinem Inneren glomm der Gedanke: „Ich werde einen Weg finden. Bestimmt finde ich einen.“
Hauptsache, der Wille ist da, und er wird einen Weg finden. Und es geschah etwas völlig Unerwartetes, von dem David nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Ende September 1932 organisierte das Staatsgut „Kuznets des Sozialismus“ ein Erntefest zum Abschluss der Herbstarbeiten. Das Staatsgut hatte in allen Bereichen die ersten Plätze im Selmaner Kanton erreicht. Die Zeitungen lobten die Erfolge der Schützlinge – der Waisenkinder, die durch Arbeit und Fürsorge zu echten Baumeistern des Sozialismus herangewachsen waren. Alle Interessierten wurden eingeladen, die Ausstellung zu besuchen, um mit eigenen Augen zu sehen, wie das fortschrittliche Staatsgut arbeitete.
David bereitete sich auf das Fest vor, polierte seine neu gekauften Schuhe bis zum Glanz, bügelte die maßgeschneiderten weiten schwarzen Hosen und das ordentliche Kittelhemd. Lange stand er vor dem Spiegel und versuchte, seine widerspenstigen Locken zu bändigen, die in alle Richtungen abstanden, als wollten sie sich über seine Bemühungen lustig machen. Der ganze Prozess wurde begleitet von einer Rede, die er auf der Versammlung halten sollte. Schließlich gab er der widerspenstigen Frisur nach, setzte die Mütze auf und vergaß dabei völlig, dass Redner normalerweise vor der Tribüne den Hut abnehmen.
David wusste bereits, dass sein Porträt gestern auf der Tafel der Arbeiter des Monats vor dem Verwaltungsgebäude des Staatsgutes erschienen war. Auf dem Weg durch die Straße bemerkte er immer wieder, wie ihn die Dorfbewohner begrüßten und ihm gratulierten. Die Verlegenheit ließ seine Wangen erröten, aber er nickte nur und versuchte, seine Freude zu verbergen. Doch sein Herz pochte im Takt eines triumphierenden Marsches – es schien fast aus seiner Brust zu springen vor überschäumendem Stolz.
Er wusste, was er erreicht hatte. Noch vor kurzem war er ein einfacher deutscher Junge, aus dem Haus vertrieben, und nun war er der Held des Tages. David verstand, dass seine Arbeit, seine Ausdauer und sein Durchhaltevermögen ihm mehr eingebracht hatten, als er je zu hoffen gewagt hatte. Doch trotz des überwältigenden Stolzes versuchte er, seine Gefühle nicht zu zeigen. Er wollte nicht, dass jemand dachte, er sei überheblich geworden.
Plötzlich blieb er stehen, als stieß er auf eine unsichtbare Barriere. Auf der breiten Straße mit dem verdichteten Lehmboden kamen ihm seine Mutter und der Stiefvater entgegen.
Ein Moment schien stillzustehen. Alle drei standen wie versteinert. Einst hatte sich David diese Begegnung ganz anders vorgestellt. In seinen Träumen war er stark, schön und selbstbewusst zurück in das Heimatdorf Müller gekommen. Die Dorfbewohner liefen hinter ihm her, riefen:
– David! David ist zurück!
Er stellte sich vor, wie er in das Elternhaus gehen würde, einen ganzen Sack mit Bonbons, Bagels und Lebkuchen auf den Tisch kippen würde und seiner Mutter einen teuren Schal über die Schultern legen würde, den er längst für sie gekauft hatte. Und der Stiefvater und die Stiefbrüder würden abseits stehen, gequält von Neid und Scham.
Aber alles war ganz anders.
– Mama!, – rief David schließlich.
Er stürzte auf Maria zu, nahm sie in seine kräftigen Arme und drückte sie fest an sich. Seine Mutter, die sich noch nicht von dem Schock erholt hatte, stand regungslos da, als fürchtete sie, sich zu bewegen. David hielt sie lange, sehr lange, als hätte er Angst, sie könnte wieder verschwinden wie ein Traum.
Der Stiefvater, auch wenn er versuchte, keine Miene zu verziehen, war offensichtlich nicht besonders erfreut über die Begegnung mit seinem Stiefsohn. Heimlich musterte er David, als würde er ihn von Kopf bis Fuß bewerten. Drei Jahre – das war eine lange Zeit, und in dieser Zeit hatte sich der Junge merklich verändert: er war gewachsen, kräftiger geworden und sah ziemlich gepflegt aus. Die gut sitzende Kleidung und die selbstbewusste Haltung ließen eindeutig darauf schließen, dass das Leben im Staatsgut ihm gutgetan hatte.
Das unangenehme Schweigen dehnte sich, und Detlef riss vorsichtig seine Frau am Ärmel, als wollte er alle zurück in die Realität holen:
– Nun, nun, wir müssen gehen, sonst ist die Ware schon weg, – sagte er mit leicht hastiger Dringlichkeit.
Diese Worte rissen David plötzlich aus seinen Gedanken. Er ließ seine Mutter los, trat einen Schritt zurück und blickte Detlef streng an. Doch anstelle des gewohnten kindlichen Ärgers war sein Blick ruhig, fast erwachsen. Als Zeichen des Respekts nickte David und streckte dem Stiefvater die Hand entgegen.
Mayer war verwirrt. Er hatte mit dieser Geste nicht gerechnet und reichte ihm langsam die Hand zurück. Die Hand seines Stiefsohns war stark, vielleicht sogar zu stark für einen Teenager, aber David blickte ihm ruhig und direkt in die Augen. Detlef spürte, dass der Junge nicht darauf aus war, seine Stärke zu demonstrieren – im Gegenteil, in diesem Händedruck lag etwas Versöhnliches. Ein freundliches, etwas verlegeneres Lächeln auf Davids gebräuntem Gesicht sprach von Vergebung.
Bevor Detlef etwas sagen konnte, erklang hinter David eine vertraute Stimme:
– Daviduschka, mein Sohn, ich habe dich gesucht! Ich bin schon ganz durcheinander!
Nina Petrowna, die Leiterin des Staatsgutes, eilte auf ihn zu. Ihr unverwüstliches rotes Kopftuch stach im Gegensatz zur eleganten Uniform hervor: ein Hemd mit Rock statt des gewohnten Overalls. Auf ihrer Brust prangte der Orden des Roten Banners, doch an ihren Füßen trug sie immer noch die einfachen Stiefel, als wäre sie gerade von der Arbeit zurückgekehrt.
– Ich grüße euch! – sagte sie freundlich und wandte sich an Detlef und Maria. –Seid ihr auch auf dem Markt? Woher kommt ihr?
– Das ist meine Mutter, – antwortete David hastig und etwas verlegen. – Aus Müller, von der anderen Seite.
– Wie das?, – fragte Nina Petrowna erstaunt und zog eine Augenbraue hoch. – Du hast doch gesagt, du bist ein Waisenkind.
David errötete, da er wusste, dass er es besser früher hätte erzählen sollen:
– Mein Vater ist nur gestorben… und meine Mutter hat geheiratet… Mayer.
– Na, dann ist es klar, – lächelte Nina Petrowna sanft, ohne einen Vorwurf zu zeigen. Sie nahm Maria und Detlef freundschaftlich unter die Arme. – Kommt, ich zeige euch etwas.
Natürlich führte die Leiterin des Sowchos sie sofort zur Ehrenwand. An der hell erleuchteten Wand prangten die Porträts der besten Arbeiter: Melkerinnen, Mechanisatoren, Agronomen. Unter ihnen stach das Foto eines jungen Mannes hervor, mit der Unterschrift: „Sieger des sozialistischen Wettbewerbs, Traktorist, Komsomolez David Schmidt.“
Maria, wie verzaubert, strich vorsichtig über das Glas, hinter dem das Bild ihres lächelnden Sohnes lag. Dann schaute sie, mit einer Mischung aus Besorgnis und Stolz, zu David, als wollte sie fragen:
– Bist du das wirklich?
David wurde verlegen, klatschte sich mit der Hand an die Stirn und lachte:
– Na so was! Nina Petrowna, – wandte er sich fast flüsternd an die Leiterin, – sie können ja nicht auf Russisch lesen. Und sie verstehen nicht alles. Sie brauchen eine Übersetzung.
Nina Petrowna lächelte, nickte verständnisvoll und erklärte Maria und Detlef in verständlicher Sprache den Inhalt der Inschrift.
Anschließend führte sie sie zum Gemeinschaftswohnheim. Der Raum war sauber und hell, mit zwei Etagenbetten. Entlang des Ganges stand eine ordentliche Reihe gleicher Hocker, und der Holzboden glänzte von gründlicher Reinigung. An den Fenstern hingen kurze, bunte Vorhänge, die für eine gemütliche Atmosphäre sorgten.
David erinnerte sich plötzlich an etwas Wichtiges. Er rannte zu einem der Betten, schob die Hand unter die Strohmatratze und zog ein sorgfältig eingewickeltes Papierbündel heraus. Als er es entrollte, nahm er mit Sorgfalt ein graues Kaschmir-Tuch heraus. – Es ist sehr weich und warm, – sagte David schüchtern, als er das Tuch über die Schultern seiner Mutter legte. – Aus Ziegenwolle.
Maria, als ob sie es nicht fassen konnte, setzte sich an den Rand des unteren Bettes. Sie strich lange und mit offensichtlicher Ehrfurcht über das zarte Tuch auf ihren Schultern. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber sie sagte kein Wort, aus Angst, diesen Moment zu zerstören.
Detlef, der dies sah, trat einen Schritt zurück, setzte sich auf einen der Hocker und zündete sich eine Zigarette an. David warf einen flüchtigen Blick auf seinen Stiefvater, dachte nach und dann, als hätte er eine Entscheidung getroffen, griff er in die Tasche seiner Hose und zog ein kleines Taschenmesser heraus.
Es war das Messer seines leiblichen Vaters – das einzige Erinnerungsstück, das er noch hatte. David hütete diesen Gegenstand sehr, aber jetzt dachte er, dass der Moment Opfer erforderte. Er trat zu Detlef, reichte ihm das Messer und sagte: – Das ist für dich.
Detlef erschrak und ließ fast seine Zigarette fallen. Vorsichtig nahm er das Messer, als ob er fürchtete, es zu zerbrechen oder diesen Moment zu entweihen, und legte seine Arme um David.
– Danke… – flüsterte er ihm ins Ohr. Dann atmete er aus und fügte hinzu: – Entschuldige mich.
David umklammerte nur fester seine Hand und zeigte damit, dass alle Groll der Vergangenheit angehörte.
Nina Petrowna stand im zentralen Gang der Gemeinschaftswohnheim, mit verschränkten Armen, als versuche sie, sich vor zu viel Emotionalität zu bewahren. Sie beobachtete David und seine Mutter, ihre berührende, wenn auch zurückhaltende Begegnung. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Stolz, Rührung und leichter Strenge – jene Wärme, mit der sie ihre Schützlinge normalerweise umgab.
Sie hatte schon alles verstanden. Ihr scharfer Verstand und ihre Erfahrung hatten schnell ein Bild zusammengesetzt: warum dieser Junge in ihren Kolchos gekommen war, warum er mit solchem Eifer jede Arbeit übernommen hatte und wie er trotz aller Schwierigkeiten mehr erreicht hatte, als viele Erwachsene es sich hätten erträumen können. Und jetzt, als sie Maria vor sich sah, fühlte Nina Petrowna nicht nur Mitleid, sondern auch ein Gefühl von Gerechtigkeit.
„Wie konnte die Mutter nur so etwas zulassen?“, dachte sie. „Dass ihr eigenes Kind gezwungen war, sich ein Leben fern von seiner Familie zu suchen?“
Doch äußerlich blieb sie zurückhaltend. Ihre Stimme klang beschwingt, aber mit einer leichten Note der Erziehung: – Hast du deine Rede für das Treffen schon gelernt? – fragte sie David, als wolle sie ihn aus dem Strudel der Emotionen zurück zu den alltäglichen Dingen führen.
– Natürlich! – nickte David mit aufrichtiger Überzeugung und richtete seine Mütze.
– Na, dann pass mal auf! – hob Nina Petrowna die Stimme etwas, während sie mit dem Finger auf ihre Medaille tippte, als wollte sie an die Disziplin erinnern. – Du bist heute unser Hauptdarsteller. Du hast doch sicher gesehen, wie viele Leute gekommen sind, um dich zu bewundern. Enttäusche uns nicht!
Die Worte der Leiterin klangen wie eine leichte Ermahnung, aber in ihnen war ein aufrichtiges Vertrauen in den Jungen zu spüren. Sie sah, wie David sich bei ihren Worten aufrichtete, offensichtlich die noch größere Verantwortung spürend.
Doch ihr Blick fiel wieder auf Maria, die immer noch am Rand des Bettes saß, mit dem geschenkten Tuch um die Schultern, als ob sie sich unter dem Schutz ihres Sohnes befände. Es schien, als würde die Frau kaum glauben, was geschah, als könnte sie nicht fassen, dass vor ihr nicht mehr der Junge stand, den sie einst vertrieben hatte, sondern ein starker, selbstbewusster junger Mann, der für andere zum Vorbild geworden war.
„Wie sehr wünsche ich mir, dass sie versteht, was sie verloren hat“, dachte Nina Petrowna, während sie sie aufmerksam beobachtete. „Dass sie sich selbst für den Schmerz bestraft, den sie diesem Jungen zugefügt hat. Aber wenn man in ihre Augen sieht, scheint es, als ob sie es bereits versteht. Nicht alle Fehler kann man rückgängig machen, aber vielleicht ist es noch nicht zu spät, einen neuen Anfang zu wagen?“
Maria hob den Blick zu Nina Petrowna, als hätte sie ihre Gedanken gespürt. Ihre Blicke trafen sich, und in diesem kurzen Moment des Schweigens schien die Leiterin ihr ein unsichtbares Vorwurf, aber auch Hoffnung – eine Chance zur Sühne – zu übermitteln.
– Aber wir gehen noch nicht zum Treffen, Maria, – unterbrach Nina Petrowna schließlich das Schweigen. – Hier im Kolchos gibt es etwas Interessantes. Ich denke, es wäre gut für dich zu sehen, wo und wie dein Sohn so große Erfolge erzielt hat. Und zugleich werden wir… über etwas Wichtiges sprechen.
Sie ergriff Maria beim Arm und nickte leicht Detlef zu, um ihn einzuladen, ihnen zu folgen. David blieb im Gang stehen und verfolgte sie mit seinem Blick. Er wusste: Nina Petrowna hatte etwas im Sinn. Und obwohl er sich nicht sicher war, was genau, fühlte er sich leichter. Mit ihrer Fürsorge konnte er sich sicher sein, dass seine Mutter endlich sehen würde, was er erreicht hatte, und vielleicht begreifen würde, was für ein Mensch er trotz aller Prüfungen geworden war.
Nina Petrowna führte Maria mit sicherem Schritt über die breite Straße des Sowchos und sprach dabei:
– David ist ein erstaunlicher Junge. Ich sage es ganz offen: Solche fleißigen und anständigen Menschen trifft man selten. Ich erinnere mich noch gut, wie er hierher kam, hungrig und obdachlos. Klein, dünn, ängstlich, aber mit so einem Feuer in den Augen… Ich wusste sofort, dass ich mit ihm arbeiten musste, ihm helfen, sich zu entfalten.
Maria hörte schweigend zu, ihr Herz zog sich bei jedem Wort zusammen. Sie hielten vor einem niedrigen Gebäude mit einem weiten Dach – es war das örtliche Waisenhaus, in dem Davids neues Leben begann.
– Hier, Maria, hat Ihr Sohn auf eigenen Füßen gestanden. Hier hat er gelernt, stark und selbstständig zu werden. Kommen Sie, ich möchte Ihnen etwas zeigen.
Im Inneren war das Gebäude gemütlich, mit geräumigen Zimmern, bunten Teppichen auf dem Boden und Wänden, die mit Fotos geschmückt waren. Nina Petrowna blieb vor einer der Tafeln stehen und deutete auf ein Schwarz-Weiß-Foto. Darauf war David, noch ein kleiner Junge, in einem viel zu großen Overall, mit einem ernsten, aber entschlossenen Blick, der neben einem Traktor stand.
– Das war das erste Jahr bei uns, – erklärte Nina Petrowna. – Da konnte er nicht einmal richtig den Schlüssel in der Hand halten. Und jetzt schauen Sie ihn sich an – Mechaniker, Vorbild, und auch ein Beispiel für die anderen Jungs.
Maria fuhr langsam mit ihren Fingern über das Foto. Sie konnte ihren Blick nicht von dem Gesicht ihres Sohnes abwenden. In diesem Moment durchfuhr sie ein Schmerz: all die Jahre, in denen er hier heranwuchs und erwachsen wurde, war sie nicht bei ihm.
– Aber das ist noch nicht alles, – fuhr Nina Petrowna fort und führte sie weiter.
Sie betraten einen geräumigen Raum, der wie eine Werkstatt aussah, aber statt Traktoren gab es hier Zeichnungen, Pläne und Modelle.
– Hier bringt David den anderen Jungs das Handwerk bei. Sehen Sie? Das sind seine Ideen. – Die Leiterin zeigte auf die sorgfältigen Aufzeichnungen und Skizzen an der Tafel.
Maria schüttelte den Kopf, unfähig, ihren Augen zu trauen.
– Ihr Junge, Maria, hilft den anderen, besser zu werden. Das ist nicht nur Fleiß, sondern auch ein gutes Herz. Wissen Sie, viele von uns könnten verbittert werden, aber er hat einen anderen Weg gewählt.
Maria konnte nicht mehr an sich halten. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und weinte stumm.
– Ich verstehe alles, – flüsterte sie durch die Tränen. – Ich habe einen Fehler gemacht, einen schrecklichen Fehler…
Nina Petrowna legte sanft ihre Hand auf ihre Schulter.
– Ja, Sie haben viel verloren, – sagte sie, ohne zu trösten. – Aber solange David noch mit Hoffnung auf Sie schaut, haben Sie die Chance, es zurückzubekommen. Alles liegt bei Ihnen.
In diesem Moment öffnete sich die Tür und David blickte hinein.
– Mama, – seine Stimme war leise, aber voller Liebe, – ist alles in Ordnung?
Maria hob ihre weinenden Augen und nickte.
– Ja, es ist in Ordnung, mein Junge. Jetzt – ja.
Sie stand auf, wischte sich die Tränen ab und umarmte ihn fest. Zum ersten Mal seit langem spürte sie, dass ihr Herz Frieden fand.
Es waren noch zwei Stunden bis zum Treffen, und David zog seine Mutter und seinen Stiefvater in die Werkstatt des Kolchos. Maria war sichtlich verlegen, denn immer wieder kamen Arbeiter der Werkstatt zu ihrem Sohn, drückten ihm die Hände, klopften ihm lobend auf die Schulter und sagten etwas auf Russisch. Nur ein großer erwachsener Mann mit einer zusammengerollten Zeitung unter dem Arm sprach ihn auf Deutsch an:
– Der Traktor von Prochor springt nicht an. Sieh dir das bitte mal an, – sagte er.
– Onkel Anton, lass es jetzt bitte, – bat David, – meine Eltern sind hier.
– Gut, aber vergiss es nicht, bitte, – Anton betrachtete die Gäste aufmerksam.
David, der bemerkte, wie seine Mutter und sein Stiefvater sich ansahen, sagte fröhlich:
– Seht ihr, was ich hier zu tun habe? Sogar Onkel Anton kann nicht ohne mich!
Er lächelte, aber in seiner Stimme war Stolz zu hören. Der Junge ging selbstbewusst zum nächsten Traktor und klopfte auf sein massives Rad.
– Dieser Traktor, den haben wir letzte Woche zusammen mit den Jungs repariert. Er ist ganz alt, aber jetzt läuft er wie neu!
Maria fühlte eine bittersüße Freude, als sie ihren Sohn ansah. Sie verstand: Er war so geworden, dank seines Kampfes, seiner Arbeit, aber ohne sie. Der Stiefvater, nicht wissend, was er sagen sollte, nickte nur, obwohl er offensichtlich aufrichtig beeindruckt war.
David fuhr fort zu erzählen und zeigte verschiedene Details der Werkstatt: Werkzeugsets, ordentlich an den Wänden aufgehängt, ein großes Regal mit Ersatzteilen. Irgendwann holte er ein zusammengerolltes Blatt Papier aus seiner Tasche.
– Und das hier, – sagte er, entfaltete das Blatt und zeigte einen Plan, – ist mein Projekt. Wir wollen einen alten Pflug umbauen. Wenn alles klappt, wird er leichter und schneller.
Maria sah den Plan an, verstand die Details nicht, aber bewunderte, wie sicher ihr Sohn darüber sprach.
– Hast du das selbst erfunden? – fragte sie leise.
David lachte.
– Nicht ganz. Nina Petrowna hat mich angestoßen, aber dann – Bücher, Praxis. Hier muss man mit dem Kopf arbeiten, nicht nur mit den Händen, wenn man etwas erreichen will.
Die Mutter schüttelte den Kopf und sah ihn an. In ihren Augen war Bewunderung, vermischt mit Schmerz.
– Kann ich helfen? – fragte plötzlich Detlef und zeigte auf den Plan.
David sah überrascht zu seinem Stiefvater.
– Sie verstehen etwas von Plänen?
– Naja, ein bisschen. Mein Vater hat mich als Kind unterrichtet… – Detlef lächelte unsicher.
– Dann los! – David wurde lebendig. – Die Teile sind da drüben.
Detlef, den freundlichen Ton seines Stiefsohns spürend, war sofort dabei.
Maria setzte sich auf eine Holzbox und beobachtete, wie ihr Sohn und Ehemann etwas am Werkbank besprachen. Zum ersten Mal seit langem fühlte sie einen schwachen, aber klaren Funken der Hoffnung.
„Vielleicht ist noch nicht alles verloren“, dachte sie und hielt den Plan in den Händen, den ihr Sohn ihr gegeben hatte.
Dann ging die kleine Gruppe direkt in die Kantine. David wollte seine Eltern unbedingt mit seinem Freund Achat bekannt machen.
Leider gelang es ihnen nicht, sich zu unterhalten. In der Küche herrschte heute ein riesiges Durcheinander: Sie kochten, brieten und dämpften nicht nur für die eigenen Leute, sondern auch für die zahlreichen Gäste des Marktes. Koch Nazariy, der sich eine Minute Zeit nahm, setzte sich mit einem Teller noch heißer “Piroschken” (Kartoffelpasteten) und drei Bechern Kompott zu den Schmidts.
– Lass euch schmecken, ich habe das selbst gemacht, – schlug er vor, in russischer Sprache mit starkem ukrainischem Akzent, und wischte mit dem Handrücken den Schweiß von seinem erhitzten Gesicht.
– Der Teig ist Ihnen aber sehr gut gelungen, – sagte Maria auf Deutsch.
David übersetzte, streichelte die Hand seiner Mutter, sah ihr in die Augen und fügte leise hinzu:
– Na Mama, bei deinen Strudeln gelingt der Teig besser. Stimmt's!?
– Oh! – brüllte der Odessaer, als er das bekannte Wort hörte. – Strudel! Ich kann sie auch backen. Ist doch einfach: Äpfel, Mehl und Zimt.
– Welche Äpfel? – fragte David verwundert.
– Na, welche! Die, die in der Rolle sind. Apfelkuchen.
– Nein, nein! – erwiderte David lachend. – In unseren Strudeln riecht es gar nicht nach Äpfeln. Er lenkte das Gespräch zu seinen Eltern, und alle drei lachten herzlich.
– Strudels sind geschmortes Fleisch mit Sauerkraut, Kartoffeln und darauf gedämpfte Röllchen aus Teig, – erklärte David und stellte sich vor, wie seine Mutter ihm sein Lieblingsgericht serviert. Die Erinnerung war so lebendig, dass er fast den Duft des frisch vorbereiteten Strudels in der Luft zu riechen glaubte. – Man kann es ohne Brot essen. Statt Brot sind die Strudels.
– Ein Jahrhundert leben, ein Jahrhundert lernen! – sagte Nazarij zum Abschied, als er sich vom Tisch erhob. – Frag mal deine Mutter nach dem Rezept für diese Strudels, wir machen sie für den ganzen Sowchos.
Maria lächelte, leicht verlegen von diesem Vorschlag, aber tief im Inneren freute es sie, dass das Lieblingsgericht der Familie nun Teil des Lebens ihres Sohnes und seiner neuen Freunde werden konnte.
Während sie am Tisch saßen und die Köstlichkeiten des Kochs mit Rührung aßen, bemerkte David, dass sein Stiefvater nervös war und auf seinem Platz hin und her rutschte.
– Etwas ist nicht in Ordnung? – fragte er direkt und sah ihm ins Auge.
– Wir müssen auf dem Markt noch etwas kaufen, – zögerte der Stiefvater, kratzte sich aus Gewohnheit am Knie. – Ich befürchte, es wird weg sein, solange wir hier sitzen. David lächelte und winkte ab, als wollte er die Sorge vertreiben:
– Keine Sorge! Das Jahr war ertragreich, es wird für alle reichen. Wenn es in den Läden nicht mehr ist, finden wir es im Lager. Da gibt es keine Probleme.
Der Stiefvater nickte nüchtern, aber die Spannung in seinen Schultern ließ etwas nach. Maria, die diese Szene beobachtete, sah nachdenklich ihren Sohn an. Sie bemerkte, wie sicher David sich verhielt – ganz wie ein erwachsener Mann, nicht nur stark, sondern auch bereit, sich um die Familie zu kümmern.
– Gehen wir nach dem Mittagessen, – fügte David hinzu, als wollte er den Punkt abschließen. – Ich helfe euch, das Beste auszuwählen. Hier kennt mich jeder, also werden wir keine Probleme haben.
Maria und der Stiefvater warfen sich einen Blick zu. Selbst solche einfachen Worte ihres Sohnes waren von Fürsorge und innerer Zuversicht durchzogen, was sie erneut spüren ließ, wie sehr David sich verändert und gewachsen war.
Nach einem kleinen Imbiss eilten David, Maria und der Stiefvater zum Verwaltungsgebäude, wo sich bereits die Dorfgemeinschaft und die Gäste des Marktes versammelt hatten. Auf der provisorischen Bühne stand schon die ganze Leitung des Kolchos.
Als sie David sah, winkte ihm Nina Petrowna demonstrativ zu:
– Komm, steig hier hoch!
Sie gab dem Sieger des sozialistischen Wettbewerbs, David Schmidt, das Wort. Alle klatschten begeistert. Der junge Komsomolez trat schüchtern zum Rednerpult, das mit rotem Stoff bedeckt war. David ging zögerlich zum Rand des Pults, drehte nervös seine Mütze in den Händen. Er wusste sofort, dass es komisch aussehen würde, also stellte er sich einfach daneben. Der Held des Tages sah sich die Versammelten an – es waren viele Leute, und die meisten schauten mit echtem Interesse und Zustimmung zu ihm.
– Komm schon, David, sei nicht schüchtern! – ermutigte ihn Nina Petrowna, und winkte ihm aufmunternd zu.
Er holte tief Luft, als wollte er in eiskaltes Wasser springen, und begann zu sprechen.
– Genossen! – seine Stimme zitterte, aber er fing sich schnell. – Wir alle wissen, dass der Erfolg des Sowchos das Ergebnis gemeinsamer Arbeit ist. Die Arbeit unserer großen Familie…
Mit jedem Satz wurde David selbstbewusster. Er sprach darüber, wie wichtig es ist, zusammenzuarbeiten, wie stolz er auf seine Kollegen ist und wie sie gemeinsam immer neue Erfolge erzielen. Seine Worte klangen einfach, aber ehrlich, und seine Gesten verrieten das echte Gefühl der Nervosität.
Währenddessen beobachtete Maria, die in der ersten Reihe stand, mit Staunen ihren Sohn. Ihr kleiner Junge, der noch vor kurzem ein Kind gewesen war, stand nun vor Hunderten von Menschen und sprach, als wäre dies seine Berufung.
Покупайте книги и получайте бонусы в Литрес, Читай-городе и Буквоеде.
Участвовать в бонусной программе