Читать книгу: «Amalien Jahrhundert», страница 2

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Mit dem Erscheinen von Detlef Meyer im Haus der Schmidts änderte sich Davids Leben. Der neue Schmied, ein großer, kräftiger Witwer um die vierzig, kam mit seinen drei Söhnen ins Dorf und gewann schnell Maries Zuneigung. Im Gegensatz zu Nikolaus war er herrisch, grob und duldete keinen Erfolg von anderen.

Maria schien lebendig zu werden, sobald sie Detlef sah. Sie vergaß schnell ihren verstorbenen Mann, und das Trauerkleid blieb unberührt im Schrank. Detlef eroberte nicht nur ihr Herz, sondern zog bald auch ins Haus, als wäre er immer schon dort gewesen. Für David jedoch begann eine schwere Prüfung.

Der Stiefvater mochte seinen Stiefsohn von Anfang an nicht. Detlef betrachtete ihn als Konkurrenten in der Schmiede. Ihm missfiel die Neigung des Jugendlichen zum Handwerk, seine Geschicklichkeit und sein Können, die David von den anderen Kindern abhoben. Selbst die Nachbarn bemerkten, dass der Junge fast mit einem Hammer in der Hand geboren worden war.

Eines Tages betrat ein Nachbar, ein Fischer, die Schmiede, in der Hand eine verrostete Kette:

– David, mach die Riegel fester, damit das Boot hält, – bat er, ohne Detlef überhaupt anzusehen.

Dieser Vorfall wurde zum letzten Tropfen. Als Detlef am Abend aus der Wirtschaft zurückkam, roch er nach Alkohol, und in seinen Augen flackerte ein wütendes Feuer.

– Du Miststück! Ich rackere mich ab, um dich zu ernähren, und du raubst mir den Verdienst?! – dröhnte er, als er ins Haus stürmte.

David, der am Tisch auf das Abendessen wartete, stand auf und ballte die Fäuste.

– Das ist unser Haus, nicht deins. Verzieh dich!

Diese Worte brachten Detlef in Wut. Er griff nach der Peitsche an der Wand und schwang sie. Doch David schaffte es, die Peitsche zu ergreifen und riss sie so heftig, dass Detlef das Gleichgewicht verlor, zu Boden fiel und sich schmerzhaft stieß. Als er den Kopf hob, waren seine Nüstern mit Blut überzogen und sein Gesicht war vor Wut rot.

– Ich bring dich um, – zischte er, als er sich aufrichtete.

In diesem Moment stürzten Davids Stiefbrüder von hinten auf ihn. Sie warfen ihn zu Boden, schlugen ihm ins Gesicht und traten ihm in den Bauch. David wehrte sich so gut er konnte, aber die Kräfte waren ungleich. Irgendwann gelang es ihm, sich zu befreien. Er rannte aus dem Haus, sein zerrissenes Hemd wehte im Wind wie ein Fetzen einer Fahne.

Hinter ihm fiel mit einem Krachen die Tür zu und riss das Hufeisen ab, das immer als Symbol des Glücks galt. David rannte weiter, ohne sich umzusehen. Tränen und Zorn vermischten sich in seiner Seele. Er verstand: Dieses Haus war nicht mehr seins. Vor ihm lag die Dunkelheit der Nacht, der kalte Wind und die Ungewissheit, in der er seinen Platz suchen musste.

David streifte um das Haus, seine kalten Hände unter den Achseln vergraben. Er wollte glauben, dass gleich die Tür aufging und seine Mutter, sein einziger naher Mensch, ihn zurückrufen würde. Doch stattdessen flackerte hinter dem Vorhang Detlefs finsteres Gesicht auf, der mit der Faust drohte, als wolle er versprechen, dass es das nächste Mal keine Gnade geben würde.

Gegen Mitternacht knarrte die Tür schließlich. David erstarrte, doch statt tröstender Worte sah er, wie seine Mutter vorsichtig seinen alten Mantel, die irgendwo im Streit verlorene Kappe und ein Bündel mit Brotgeruch auf der Veranda liegen ließ.

– Du bist stark, wie alle Schmidts, – flüsterte sie, während sie in den Schatten stand. Schnell kreuzte sie Davids Sohn und verschwand hinter der Tür, als hätte sie Angst, ertappt zu werden.

David hob die Sachen schweigend auf. Tränen traten ihm in die Augen, aber er sagte kein Wort. Alles war klar. Seine Mutter hatte sich entschieden: nicht für ihn, sondern für den Stiefvater.

Mit elf Jahren stand er nun auf der Straße. Das Dorf, das einst von zahlreichen Verwandten bewohnt war, war nun leer für ihn. Einige, wie Großmutter und Großvater, waren während des Ersten Weltkriegs nach Übersee gegangen, andere waren an Hunger gestorben oder in den Städten verschwunden.

Diese Nacht verbrachte David, vergraben im warmen Heu auf dem Heuboden des Fischers, wegen dem alles angefangen hatte. Der Fischer wusste nicht, dass der Junge sich in seiner Scheune versteckt hatte. Die kalte Luft brannte auf seinen Wangen, und das schwache Mondlicht drang durch die Ritzen der Bretter. David hielt das Bündel mit Brot in der Hand, das nun sein einziges Hab und Gut war.

Am Morgen, hungrig und durchfroren, machte er sich auf, durch das Dorf zu streifen. Die Gespräche der Erwachsenen auf der Straße gaben ihm einen Hinweis. Auf der gegenüberliegenden Seite der Wolga, sagten sie, wurde ein Sowchose mit dem klangvollen Namen „Kusnez des Sozialismus“ gegründet. Dorthin fuhren Komsomolzen aus dem ganzen Land.

David verstand nicht, was die Worte „Sowchose“ oder „Komsomolzen“ bedeuteten, und vom Sozialismus hatte er noch nie gehört. Aber das Wort „Kusnez“(Schmied) ergriff ihn, als öffnete sich ein Fenster zu einem neuen Leben. Es fühlte sich wie ein Zeichen des Schicksals an.

– Dorthin muss ich, – entschied er.

Doch es gab ein Problem: der Fluss. Die Wolga, kalt und majestätisch, glänzte in der Sonne, und die Überquerung schien eine schwierige Aufgabe zu sein. Die Boote, die gewöhnlich zwischen den Ufern hin und her fuhren, waren zu dieser Zeit nicht zu sehen.

– Aber wie soll ich hinüberkommen? – dachte er nach, während er in das tosende Wasser starrte. In seinen Augen brannte bereits das Feuer der Entschlossenheit. David spürte, dass er hier nicht bleiben konnte, aber was ihn dort, jenseits des Flusses, erwarten würde, konnte nur der erfahren, der den ersten Schritt wagte.

In dieser Nacht war der Himmel schwarz wie Teer, keine einzige Sterne. Dunkelheit hatte das Dorf wie eine schwere Decke bedeckt. David ging entlang des Ufers, stolperte über Steine und presste das Taschenmesser seines Vaters, das letzte Zeichen von Schutz und Stärke, fest in der Hand.

Er fand das Fischerboot im Dunkeln, indem er das Leinenseil ertastete, an dem es festgebunden war. David erkannte es sofort: Einst hatte er selbst das Seil repariert, und nun hielt das Boot nur noch durch das Seil, weil die Metallringe beschädigt waren. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass es dasselbe Boot war, schnitt er das Seil wortlos mit der scharfen Klinge durch. Seine kräftigen, an die Arbeit gewohnten Hände bewegten sich sicher, auch wenn sein Herz so laut schlug, dass es schien, man könne es vom anderen Ufer hören.

Er versuchte, seine Schuhe nicht nass zu machen, stieß das Boot vom Ufer und sprang hinein, landete auf einer Holzbank. Die Ruder hatte er im Voraus genommen – er hatte sie von der Wand der Scheune genommen, schon ahnend, dass ihn eine lange Reise erwartete.

Er hatte noch nie zuvor gerudert, aber es gab keine andere Wahl. Das Boot drehte sich langsam, und David, der aus dem Rhythmus kam, begann zu rudern. Die Ruder quietschten, das Wasser plätscherte gegen den Rumpf, und das kleine Boot schwankte unbeholfen auf den Wellen. Je weiter er sich vom Ufer entfernte, desto stärker wuchs das Gefühl der Angst.

Die nasse Dunkelheit des Wassers schien lebendig, schwer und feindlich. Das Boot sah aus wie ein kleines Stück Holz auf der Oberfläche dieses Abgrunds. Die Wellen atmeten leise, manchmal platschten sie laut, als wollten sie den Jungen packen und mit sich reißen. Klebriger Angst setzte sich auf seine Schultern und lähmte seine Bewegungen. Doch David ruderte hartnäckig weiter, versuchte, gerade zu bleiben.

Für einen Moment brach der Mond aus den Wolken. Sein Licht erleuchtete das Ufer, das immer kleiner wurde und in der Ferne verschwand. David stoppte und sah zurück. Er konnte die vertrauten Umrisse des Dorfes noch erkennen – den Ort, an dem er geboren wurde, wo es einmal ein Zuhause, eine Familie, einen Vater gab. Doch nun war alles hinter ihm geblieben. Als ob es nie gewesen wäre. Der Ort, an dem man ihn fortjagte, konnte nicht mehr als Heimat bezeichnet werden.

Die Landzunge verschwand, vom Dunkel verschlungen. David griff wieder nach den Ruderblättern, aber das letzte Bild hallte in seinem Kopf wider: die rauchigen Dächer der Häuser, der Fluss, der entlang des Dorfes zog, und die leuchtenden Fenster, hinter denen Familien zum Abendessen saßen. Fremde Familien.

Die Dunkelheit war absolut, doch die Geräusche über dem Fluss füllten den Raum mit Leben. Manchmal ertönte ein scharfer Spritzer – es waren die Fische, die mit ihren Schwänzen gegen das Wasser schlugen, als wollten sie den Fremden auf die Probe stellen. Irgendwo hoch am Himmel schrien Zugvögel, und aus der Ferne hallte der hohle Ruf eines Uhus, der sich im Wald versteckt hatte. Jedes Geräusch ließ David zusammenzucken, doch zugleich beruhigte es ihn. Er spürte, dass er in dieser Leere nicht allein war.

– Ich bin nicht allein, – wiederholte er sich. –Wenn sie leben, dann schaffe ich es auch.

Es wurde immer schwerer zu rudern. Seine Hände schmerzten vor Erschöpfung, die Kälte kroch unter die dünne Kleidung. Doch David blickte nach vorne, dorthin, wo ihn das Unbekannte erwartete. Es ängstigte ihn, aber zugleich lockte es ihn. Es gab etwas Neues darin, etwas Eigenes, etwas, für das es sich lohne, weiterzugehen.

Je näher das Boot dem anderen Ufer kam, desto stärker nahmen die Gerüche zu: feuchte Luft brachte eine schwere Mischung aus Schlamm, verfaultem Fisch und morschem Holz mit sich. Diese Aromen umhüllten den Jungen und erinnerten ihn an die Nähe des Landes und daran, dass er kurz davor war, seine erste Reise ins Unbekannte zu beenden.


David ruderte hartnäckig weiter, seine kleinen, aber schon starken Hände bewegten sich mechanisch im gleichen Rhythmus. Die Muskeln schmerzten, der Rücken tat weh, und die Finger schienen an das Holz der Ruder zu gewachsen. Schließlich blieb das Boot plötzlich stehen und stieß mit einem dumpfen Geräusch auf den Sandstrand. Dieses Geräusch hallte laut in Davids Ohren wider. Er atmete erleichtert aus und ließ die Hände sinken. Selbst in der Dunkelheit konnte er sehen, wie sich blutige Streifen von den Kratzern, die die grobe Oberfläche der Ruder hinterlassen hatte, auf seinen Handflächen bildeten.

Keuchend stieg er aus dem Boot. Die müden Beine versanken im weichen Sand, und der Körper schwankte, als fühle er immer noch das Schaukeln auf den Wellen. David hielt für einen Moment inne, um sich umzusehen. Der Himmel erhellte sich leicht – durch die Wolken tauchte eine schmale Mondsichel auf, die das Ufer in blassem, fast gespenstischem Licht erstrahlen ließ. In der Ferne dunkelten dichte Sträucher. Sie schienen unerreichbar, aber gleichzeitig lockten sie den Jungen, versprachen Schutz.

Mit den letzten Kräften machte sich David auf den Weg, hinterließ tiefe Spuren im feuchten Sand. Sein Atem war schnell und keuchend, und jeder Schritt fiel ihm schwer. Endlich erreichte er die Sträucher und blieb stehen. Die Zweige peitschten ihm ins Gesicht, verfingen sich in seiner Kleidung, aber der Junge achtete nicht darauf. Er fiel einfach auf die Knie und dann erschöpft zur Seite.

Mit rauen Händen sammelte er ein Bündel abgefallener Blätter unter seinem Kopf. David hatte kaum Zeit, sich bequemer hinzulegen, als die Erschöpfung, die sich über die lange Nacht angesammelt hatte, endgültig siegte. Die Welt um ihn verblasste, das Rauschen des Windes in den Ästen vermischte sich mit seinem leisen, gleichmäßigen Atem. So, in der kühlen Nacht, den Gerüchen von Wasser und Erde, fühlte sich der Junge zum ersten Mal wirklich einsam.

David wachte auf, als ein lauter, zerrissener Schrei über den Fluss hallte. Es war schon dämmerig, und der graue Morgennebel wirbelte und verhüllte das ferne Ufer. Durch diese milchige Decke konnte er die dunkle Silhouette einer langsam treibenden Barke erkennen. Auf ihr sang ein Mann laut und schräg, den Kopf nach hinten geworfen. Selbst aus der Ferne war klar, dass der Sänger ziemlich betrunken war – seine Stimme brach immer wieder und hallte dumpf über das Wasser.

Der Junge fröstelte und zog die Schultern zusammen. Die feuchte Kleidung klebte an seinem Körper, und der eisige Morgentau durchtränkte ihn bis auf die Haut. David stand auf, dehnte mühsam seine steifen Glieder, die vom Kälte und Schlaf taub waren, und machte sich auf den Weg in den Dickicht. Das Knacken der Zweige unter seinen Füßen war in der Stille lauter als gewöhnlich, nur unterbrochen vom fernen Plätschern des Wassers.

Durch das dichte Gebüsch hindurch trat er auf offenes Gelände und sah sofort eine ungewöhnliche Szene vor sich: In der Nähe erstreckte sich ein neuer Siedlungsplatz. Die Holzhäuser rochen noch nach frisch geschnittenem Holz.

Doch am meisten zog das große Gebäude Davids Aufmerksamkeit auf sich, das mit leuchtend roten Fahnen und Plakaten geschmückt war, deren große Buchstaben er nicht lesen konnte. David sprach kein Russisch, aber er spürte, dass diese Schilder etwas Wichtiges bedeuteten. Die Plakate waren auffällig und schienen von großer Bedeutung, und das Gebäude sah aus wie ein Ort, an dem Entscheidungen getroffen wurden.

David trat schweigend näher. In seinem Kopf vermischten sich Sorgen mit Aufregung. Er dachte, dass dieser Ort wahrscheinlich eine Art Verwaltung oder Versammlungsort wichtiger Leute war. Doch als er die Holzgriff-Tür zog, gab sie nicht nach. Das Schloss hielt die Tür an ihrem Platz, und um ihn herum war niemand zu sehen.

Fühlend, wie ihm die Kälte durch die dünne Kleidung kroch, richtete David den Kragen seines alten Mantels, um sich etwas gegen die kalte Morgenluft zu schützen, und zog die Mütze bis über die Ohren. Er setzte sich auf die Veranda, durchwühlte das Bündel, das seine Mutter ihm hinterlassen hatte, und zog das Brot hervor. Es war hart, doch hungrig dachte David nicht lange nach. Er biss einen großen Brocken ab und kaute gierig, während er spürte, wie seine Kräfte zurückkehrten.

Sitzend auf der Veranda, beobachtete der Junge das langsam erwachende Dorf. Die Menschen begannen, aus den Häusern zu kommen, Arbeiter sprachen laut miteinander, und in der Ferne knackten die Räder eines Wagens. David wusste, dass jetzt das Schwierigste begann – diese Leute davon zu überzeugen, dass auch er hier seinen Platz hatte.

Als Erste kam eine Frau mit einem roten Kopftuch, einem blauen Overall, aus dessen Ärmeln die Ränder eines gestrickten Pullovers hervorblitzten, und mit Stiefeln aus Bast.

– Was machst du hier? – fragte sie, während sie den Jungen von Kopf bis Fuß musterte.

David warf ihr schweigend einen Blick zu und kaute weiter an dem Brot. Er hatte keine Lust zu antworten. Und das nicht nur, weil er fast kein Russisch sprach. In seiner Vorstellung war es sinnlos, mit einer Frau zu reden, die offensichtlich nicht die Hauptperson im Haus war – und überhaupt in nichts.

– Hast du deine Zunge verschluckt? – fragte die Fremde erneut, jetzt mit unzufriedener Stimme, während sie die Hüfte in die Seite stemmte.

David schwieg wieder, aber aus dem Augenwinkel beobachtete er sie.

– Hast du nicht gelernt zu grüßen? – fragte die Frau weiterhin.

Diesmal hatte David für einen Moment den Drang, zu verstehen, was sie sagte. Ihre Stimme klang unerwartet lebendig, nachdrücklich, anders als das leere Gerede der Dorffrauen, die er kannte.

Doch die Fremde, ohne eine Antwort abzuwarten, seufzte genervt, öffnete das Schloss und verschwand hinter der Tür.

Kurz darauf strömten immer mehr Leute in das Gebäude. Schon etwa zehn Menschen waren an David vorbeigegangen, als er sich entschloss, aufzustehen und ebenfalls hineinzugehen.

– Guten Morgen! – sagte er schüchtern auf Deutsch, da er keine andere Sprache kannte, während er den Raum betrachtete. Was er sah, überraschte ihn: Die gleiche Frau im roten Kopftuch saß hinter einem massiven Eichentisch, der mit Papieren bedeckt war, und alle anderen standen vor ihr.

Auf seine Worte reagierte niemand. David sammelte sich und wiederholte lauter:

– Guten Morgen!

Die Leute im Raum drehten sich erstaunt zu ihm um.

– Ach, du hast doch eine Zunge? – lachte die Frau hinter dem Tisch.

David verstand ihre Worte nicht, aber er ahnte, dass sie ihn meinte. Zu seiner Überraschung erkannte er, dass diese Frau die wichtigste Person im Raum war.

– Ich heiße David –, sagte er.

–Was machst du hier? – fragte jemand hinter ihm auf Deutsch.

Er drehte sich abrupt um und sah einen großen, lockigen Mann, der eine zusammengerollte Zeitung in der Hand hielt. Ein Gefühl der Freude ergriff den Jungen – endlich sprach jemand seine Sprache.

– Ich will arbeiten, – sagte David, nervös seine Mütze drehend.

– In welchem Sinne arbeiten? – fragte der Mann, trat in den Raum und gab jedem die Hand, dabei einen Blick auf den Jungen werfend.

– Ich suche Arbeit, – fügte David hinzu.

– Und wie alt bist du?

– Fünfzehn, – antwortete er und schummelte ein paar Jahre dazu.

– Du bist fünfzehn?! – fragte der Mann auf Russisch und blinzelte.

– Und siehst aus wie zehn, – mischte sich die Frau im Overall ein. An ihrem Tonfall und der Aufmerksamkeit, mit der sie Davids Deutsch beobachtete, war deutlich zu merken, dass sie zumindest einen Teil von dem verstand, was er sagte, auch wenn vielleicht nicht alles.

David zuckte mit den Schultern und verstand, dass seine Worte Zweifel aufwarfen.

– Frag ihn, Anton, was er von uns will, – befahl die Frau.

– Er sagt, er sucht Arbeit, Genossin Leiterin, – antwortete der Mann und wandte sich an sie.

– Jetzt fehlt uns nur noch ein Kind hier, – lachte jemand.

– Ich bin Schmied, – sagte David entschlossen und selbstbewusst. – Kusnez!

Die Frau betrachtete ihn von Kopf bis Fuß und schien sich den Jungen mit einem Hammer vorzustellen, was sie schmunzeln ließ:

– Schmiede brauchen wir, klar, aber größer und älter sollten sie schon sein.

Anton übersetzte die Worte der Chefin, aber David war nicht bereit aufzugeben.

– Nehmt mich wenigstens als irgendetwas! Ich kann jede Arbeit machen!

– Wo soll ich dich denn nehmen? Als Traktorfahrer? Du bist doch kaum größer als die vorderen Räder eines Traktors, und auf dem Sitz muss man dich noch hochheben!

– Ich bin stark! Meine Hände sind so! – er hob die Hände und drängte weiter. – Bitte! Ich habe keinen Ort, an den ich gehen kann, ich bin ein Waisenkind!

Anton übersetzte schnell.

– Du sprichst noch nicht einmal Russisch. Wie sollen wir kommunizieren? Mit Gesten vielleicht?, – seufzte die Frau und vertiefte sich wieder in ihre Papiere.

– Lass ihn in Ruhe, Junge, geh deinen Weg, – sagte Anton, schob ihn sanft zum Ausgang.

David trat auf die Veranda und senkte den Kopf. Anton folgte ihm.

–Es wäre besser, wenn du bei deinen Leuten bleibst, – sagte er. – Such dir Arbeit in den deutschen Siedlungen.“

– Da braucht mich sicher niemand, – antwortete David düster und wandte sich der Wolga zu.

***

Den ganzen Tag wanderte er am Ufer entlang und hoffte, sein Boot zu finden, das offenbar vom Strom mitgerissen worden war.

– Dummkopf, ich hätte es festbinden oder weiter aus dem Wasser ziehen sollen,–schimpfte der Junge mit sich selbst.

Und obwohl es ihm Angst machte, ins Heimatdorf zurückzukehren – die Überquerung der breiten Wolga und der unvermeidliche Zorn des Nachbarn, dessen Boot er ohne Erlaubnis genommen hatte, erschreckten ihn –, schien David keinen anderen Ausweg zu sehen. Die Leiterin hatte recht: Ohne Russischkenntnisse hatte er im Staatsgut nichts zu suchen. Aber wie sollte er die Sprache lernen, wenn er unter den Deutschen lebte?

Nachdem er das verbliebene Brot gegessen und ein paar Handvoll angefrorenen Schlehen gepflückt hatte, kroch David noch vor Sonnenuntergang in einen der Heuhaufen, die das Feld zwischen der Wolga und der Siedlung bedeckten, und schlief sofort ein.

Am frühen Morgen des nächsten Tages saß er wieder auf den Stufen des Verwaltungshauptsitzes des Staatsgutes, diesmal ohne Frühstück. Wie am Tag zuvor kam als Erste die bereits bekannte Frau mit dem roten Kopftuch und öffnete die Tür.

– Bist du schon wieder hier? – fragte sie überrascht und breitete die Arme aus.

Ohne ein Wort zu sagen, sah David sie an, ohne den Blick abzuwenden.

Bald versammelte sich die gesamte Leitung des Staatsgutes im Gebäude. David wartete geduldig auf den Erscheinen des lockigen Mannes und folgte ihm, als dieser auftauchte.

– Guten Morgen! – rief der Junge laut und nahm seine Mütze ab.

– Erklär ihm doch mal, – wandte sich die Leiterin an den unfreiwilligen Übersetzer Anton, – wir haben keine Arbeit für ihn. Er ist noch zu jung.

Gerade wollte Anton ihre Worte übersetzen, als David mit zitternder Stimme dazwischenfuhr:

– Ich werde ja wachsen. Ich werde alles lernen. Ich kann ein Pferd beschlagen, Äxte und Sicheln schärfen! Glaubt ihr wirklich, ich kann mich nicht in eurem Traktor auskennen?

Anton seufzte schwer und übersetzte die Worte des Jungen.

In dem Raum herrschte eine angespannte Stille. Anscheinend überlegte jeder, was er mit diesem hartnäckigen und verzweifelten Jugendlichen anfangen sollte.

– Nina Petrowna, was halten Sie davon, es zu versuchen?, – wandte sich Anton plötzlich an die Leiterin. –Vielleicht wird der Junge doch noch nützlich? Wir können ihn doch nicht den ganzen Winter draußen lassen. Unser Staatsgut wurde schließlich gerade für Waisenkinder geschaffen. Wegen seiner kleinen Größe und weil er kein Russisch spricht, nehmen wir ihn nicht?

Die Leiterin schaute in Davids Richtung, dann blickte sie zu den anderen Anwesenden. Sie hielt ihren Blick auf Anton, dann sagte sie düster:

– Du weißt doch, dass wir nur volljährige Kinder nehmen, die die Schule abgeschlossen haben.

– Was sollen wir tun? Wo sollen wir ihn hinschicken? In der Nähe gibt es kein Heim für Kinder“, antwortete Anton und legte überzeugend seinen Arm um Davids Schultern. „Ein Jahr geht schnell vorbei, das merkt niemand. Die Jungs im Gemeinschaftswohnheim werden sich zusammenrücken, und ich helfe ihm mit Russisch.

– Hast du überhaupt die Schule besucht? – fragte Nina Petrowna, während sie Formulare aus dem Schreibtisch zog.

– Nein, – gab David ehrlich zu.

– Gut, du wirst also im Gemeinschaftswohnheim wohnen, in der Kantine essen, – übersetzte Anton fröhlich die Worte der Chefin. – Vier Tage Arbeit auf dem Feld und in der Werkstatt, zwei Tage Traktorführerkurse. Sonntags gibt’s Allgemeinbildung. Erholen wirst du dich, tut mir leid, nicht können.

– Was für Arbeit soll es jetzt auf dem Feld geben? – wunderte sich der Junge. – Die Ernte ist doch schon eingebracht, bald wird es auch Schnee geben.

– Hast du schon von Wintergetreide und Schneeverwehungen gehört? – Die Frau lächelte leicht, als sie ihn ansah. Sie begann, ihn zu mögen. – Du gehst ins Lager, da bekommst du Walenki (Filzstiefel) und Watnik (gepolsterte Arbeitsjacke). Sag einfach, ‚Deine Mutter‘ hat es so angeordnet. Sie werden dich verstehen. Wie soll ich dich nennen, Zwerg?

– David, – stellte sich der Junge vor, und ihm kamen Tränen in die Augen. Aber es waren Tränen des Glücks. Das Staatsgut hatte ihn in seine Familie aufgenommen…

***

Hier war alles anders – neu, fremd und unbekannt. Die Siedlung erinnerte an ein kleines Universum mitten in den endlosen Steppen: drei lange Baracken für Wohnzwecke, eine Kantine, ein Verwaltungsgebäude, eine mechanisierte Werkstatt, ein Klub, ein Badhaus, ein Genossenschaftsladen und mehrere Lagerhäuser. Etwas abseits, wie in versteckten Ecken, waren der Kuhstall und der Schweinestall zu sehen.

Man erzählte, dass die Idee zur Gründung dieses Staatsgutes persönlich von Genosse Stalin stammte. Der Legende nach begann alles mit seinem Besuch in Kuban, im kürzlich eröffneten Waisenhaus. Damals beklagte sich der Direktor der Einrichtung:

– Die Kinder hier, Josef Wissarionowitsch, haben nichts zu wünschen, sie sind versorgt. Aber wohin sollen sie nach der Schule gehen – das ist das wahre Problem. Viele geraten wieder auf die Straße, werden zu Gaunern, Dieben oder sogar Banditen.

Stalin dachte nach, fuhr mit den Fingern an seiner Pfeife und sagte:

– Wir müssen unbedingt einen Weg finden… dieses junge Volk in die richtigen Bahnen zu lenken.

– Aber wie, Genosse Stalin? Sie zerstreuen sich nach dem Verlassen des Waisenhauses wie Herbstblätter im Wind. Es ist unmöglich, sie zu überwachen…

Nach diesem Gespräch begann auf der linken Seite der Wolga die Arbeit. Genau zu dieser Zeit wurde das Staatsgut mit dem lauten Namen „Kusnez des Sozialismus“ für die Absolventen der Waisenhäuser gegründet.

Zu jener Zeit waren diese Gegenden eine wahre Einöde. Endlose Steppen, in denen man auf hunderten von Kilometern weder ein Dorf noch einen Reisenden traf. Das Staatsgut breitete sich auf diesem weiten Land mit unglaublichem Elan aus. Hierher kamen junge Komsomolzen und Waisenkinder aus dem ganzen Land. Sie lebten hier, arbeiteten, teilten sich Unterkunft und Nahrung wie eine große multinationale Familie.

Für David war dieser Ort eine echte Entdeckung. Zum ersten Mal traf er so viele verschiedene Menschen: Weißrussen, Moldauer, Tataren, Armenier. Sogar in der Kantine des Staatsgutes gab es eine bunte Vielfalt. Der Koch für die ersten Gerichte war ein Ukrainer, für die zweiten war ein Usbeke verantwortlich, und für das Gebäck sorgte Achat – ein Kaukasier, in dem georgisches und kabardinisches Blut flossen.

Achat war ein Mann mit einer komplizierten Geschichte. Seine Geschichte, die David später hörte, erschütterte ihn. Onkel mütterlicherseits, die die „Schande“ einer gemischten Ehe nicht akzeptierten, töteten Achats Vater. Der Verlust des geliebten Mannes trieb seine Mutter zum Selbstmord. Die Großmutter gab dem Jungen für kurze Zeit Wärme und Zuflucht, starb aber bald. Die Verwandten weigerten sich, den „Bastard“ aufzunehmen, und der fünfjährige Achat landete im Waisenhaus.

Jetzt jedoch war Achat einer der auffälligsten Menschen im Staatsgut. Von mittlerer Größe, aber mit mächtigen Schultern, besaß er unglaubliche Kraft und gewann immer bei den Wettkämpfen im Staatsgut. David, klein und schmächtig, konnte nicht anders und forderte den Mestizen im Sportring heraus. Der Kampf war kurz, aber selbst Achat musste sich anstrengen. David verlor, aber sein Mut und seine Beharrlichkeit beeindruckten Achat. Von da an wurden sie Freunde.

Achat, der mit einem freundlichen Lächeln an den Ring dachte, neckte David manchmal:

„Du, Deutscher, kannst nicht nur mit dem Schmiedehammer umgehen, sondern versuchst auch, Feuer in einem Kampf zu zeigen. Gut gemacht, du hast echten Mut!“

Und David nickte, gerötete Wangen, wissend, dass in diesem neuen Ort seine Beharrlichkeit und Ausdauer ihm helfen würden, sein Leben neu aufzubauen.

Am Tisch des Staatsgutes probierte David zum ersten Mal in seinem Leben Gerichte wie Vinaigrette, Okroschka, Charcho, Kohlrouladen, Wareniki und sogar Schaschlik. Letzteres war übrigens speziell für ihn von Achat zubereitet worden, der beschloss, seinen Freund mit etwas Besonderem zu verwöhnen. Der Duft von gebratenem Fleisch mit Gewürzen, der von den Spießen aufstieg, ließ den Jungen alles andere vergessen. Es war ein wahres Fest der Sinne – ganz anders als die bescheidene Suppe, an die er gewöhnt war.

Die Kantine des Staatsgutes beeindruckte David überhaupt. Offene, lange Tische, hunderte von Menschen, die aßen, ohne sich zu verstecken oder Angst zu haben – all das war für ihn neu. Wenn er sich an sein Dorf Müller erinnerte, konnte er sich an diese Freiheit nicht gewöhnen. Dort, in den Hungerjahren, war Essen fast etwas Verbotenes, wie eine Sünde, die man verbergen musste. Man aß schnell, heimlich, oft in einer Ecke, weit weg von den Augen der Passanten. Die Fensterläden wurden geschlossen, damit niemand sah, wie die Familie ein bescheidenes Stück Brot oder eine Schüssel Suppe teilte. In den schwersten Zeiten versteckten sie das Essen sogar voreinander, um keinen Neid oder Tränen zu wecken.

Aber hier im Staatsgut war es anders. Hier herrschte Gemeinschaft. Ja, das Leben war hart, und die Arbeit zermürbend, aber niemand starb vor Hunger, und das Essen hörte auf, ein Symbol des Überlebenskampfes zu sein. David begann zu verstehen, was es bedeutet, unter Menschen zu leben, mit ihnen Arbeit und Freude zu teilen.

Die Arbeit im Staatsgut war jedoch nicht nur schwer, sondern auch kompromisslos. Jeder wusste: Um „ein neues Leben zu schmieden“, musste man all seine Kräfte investieren. Die Komsomolzen brannten vor Enthusiasmus und nannten sich stolz die Baumeister der Zukunft. Die älteren Genossen aus der Parteikommission ließen nicht nach – sie behielten den Überblick, unterstützten den kämpferischen Geist mit Vorträgen und erinnerten an die Bedeutung ihrer Arbeit.

Der Klub in der Siedlung wurde nur bei besonderen Anlässen geöffnet – meist zu staatlichen Feiertagen. Und vor den Tänzen gab es immer eine feierliche Rede oder einen Vortrag. Dies war ein unveränderlicher Teil des Lebens im Staatsgut – etwas Formalität, etwas Spaß.

David hörte diesen Vorträgen mit Mühe zu, verstand wegen der Sprache nicht alles, aber er fühlte: Hier war alles anders. Dies war eine neue Welt, in der die Menschen zusammenarbeiteten, als Gemeinschaft lebten, und jeder seine Bedeutung spürte. Sogar so ein kleiner und unbeholfener Junge wie er.

***

Es sind drei Jahre vergangen. In dieser Zeit hatte sich David deutlich verändert. Er war breiter in den Schultern, den Wangenknochen geworden, und sein Nacken sowie seine Arme hatten sich mit Muskeln gefüllt, als wären sie mit schwerem Blei gefüllt. Ja, mit genau dem schweren Metall, das nicht zu heben ist. Wie sollte man sonst erklären, dass er in jener Zeit, als Gleichaltrige in der Regel um fast einen halben Meter wuchsen, nur mühsam zwanzig Zentimeter hinzugewann?

– Aber dafür hast du genug Kraft für zwei, – ermutigte ihn Achat, klopfte seinem Freund auf die Schulter.

– Und der neue Kettentraktor ‚Kommunar‘ wird sicher mir gehören, – lachte David im Gegenzug. – Ich bin wohl der Einzige unter den Traktoristen, der in seiner Kabine stehend arbeiten kann!

David hatte die russische Sprache überraschend schnell erlernt, was alle ziemlich verblüffte. Obwohl ihm neue Wörter schwerfielen, beeindruckte er die Umgebung mit seiner klaren, fast fehlerfreien Aussprache. Die für Ausländer schwierigsten Laute – Ч, Щ, Ж, Ы – sprach er aus, als wäre er mit ihnen geboren.

David hatte das auf die Art eines Schmieds gelernt: durch Beobachtung, Beharrlichkeit und Fantasie. Zum Beispiel, um Ч und Щ richtig auszusprechen, stellte er sich vor, wie heißes Metall scharf in kaltes Wasser getaucht wurde. Der Laut Ж verband sich für ihn mit dem Geräusch einer Feile, die über Stahl schrammte.

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Дата выхода на Литрес:
25 января 2025
Дата написания:
2025
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