Nostromo

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Wer von uns in jenen Jahren vor Beginn der neuen Eisenbahnlinie durch Geschäft oder Neugier nach Sulaco geführt wurde, wird sich noch gut der beruhigenden Wirkung erinnern, die die San-Tomé-Mine auf das Leben in jener entlegenen Provinz ausübte. Äußerlich hatten sich die Verhältnisse damals noch nicht so weit geändert, wie es seither, soviel man mir sagte, geschehen ist – mit einer Trambahn durch die Verfassungsstraße, Fahrstraßen weit ins Land hinaus, nach Rincon und andern Dörfern, wo die fremden Kaufleute und die Ricos meistens ihre neuzeitlichen Villen haben, und einem großen Güterbahnhof nächst dem Hafen, der einen eigenen Ladekai, lange Reihen von Warenschuppen und seine ganz ernsthaften und organisierten Arbeiterunruhen hat.

Damals hatte noch nie jemand von Arbeiterunruhen gehört. Die Cargadores des Hafens bildeten tatsächlich eine etwas widerspenstige Gilde aus allerhand Gesindel, mit ihrem eigenen Schutzpatron. Sie streikten regelmäßig (an jedem Tage eines Stiergefechts), und selbst Nostromo auf der Höhe seiner Macht war außerstande, mit diesem Mißstand aufzuräumen. Am Morgen nach jeder Fiesta, bevor die indianischen Marktweiber auf der Plaza ihre Mattendächer aufgespannt hatten, wenn die Schneefelder des Higuerota hoch über der Stadt noch bleich gegen den dunklen Himmel standen, da pflegte die Erscheinung eines gespenstischen Reiters auf silbergrauer Stute die Arbeiterfrage einwandfrei zu lösen. Der Gaul sprengte durch die elenden Hintergäßchen und die verwilderte Einzäunung innerhalb der alten Wälle, durch das schwarze, lichtlose Gewimmel von Häuschen, die Kuhställe oder Hundehütten schienen. Der Reiter hämmerte mit dem Kolben eines schweren Revolvers an die Türen von Pulperias, von jämmerlichen Unterschlupfen, die sich gegen die verfallenen Reste einer Palastmauer lehnten; an Holzwände, die so dünn waren, daß in den Pausen zwischen den donnernden Schlägen von drinnen Schnarchen und verschlafenes Gemurmel zu hören war. Der Reiter rief vom Sattel aus drohend die Namen von Männern, einmal, zweimal. Die undeutlichen Antworten – mürrisch, versöhnlich, wild, scherzhaft oder abbittend – klangen in das schweigende Dunkel, in dem der Reiter hielt, und bald darauf schoß wohl auch hustend eine dunkle Gestalt in die Morgenluft heraus. Manchmal rief eine sanfte Frauenstimme demütig durch das Fensterloch: »Er kommt sofort, Señor«, und der Reiter wartete schweigend auf seinem reglosen Pferde. Sah er sich aber gezwungen, abzusitzen, dann flog wohl nach einer Weile aus der Tür jener Hütte oder jener Pulperia mit wildem Getöse und verstärktem Wehklagen ein Cargador heraus, den Kopf voran und die Hände gespreizt, zwischen den Vorderbeinen der grauen Stute hindurch, die nur ihre scharfen kleinen Ohren spitzte; sie war an die Arbeit gewöhnt. Und dann raffte sich der Mann auf und rannte vor Nostromos Revolver davon, ein wenig unsicher auf den Beinen und leise fluchend. Wenn Kapitän Mitchell bei Sonnenaufgang in seinem Nachtgewand besorgt auf den hölzernen Balkon heraustrat, der der ganzen Länge des einsam stehenden O. S. N. Gebäudes entlang lief, dann konnte er die Leichter schon unterwegs sehen, Leute geschäftig an der Arbeit bei den Lastkränen, und vielleicht den unschätzbaren Nostromo hören, der nun abgesessen, im gewürfelten Hemd und der roten Leibbinde eines mittelländischen Seemanns, vom Ende des Landungsstegs her mit Stentorstimme Befehle brüllte. Ein Bursche, wie es unter Tausenden nur einen gab!

Fortschritt und Zivilisation mit ihrem mechanischen Beiwerk, das die Eigenart alter Städte unter dem herkömmlichen Gleichmaß neuzeitlichen Lebens begräbt, waren noch nicht eingedrungen. Doch über die verträumte Altertümlichkeit Sulacos, so eigenartig mit den stuckverzierten Häusern, den vergitterten Fenstern, den großen gelbweißen Mauern verlassener Klöster hinter Reihen dunkelgrüner Zypressen – über all dies hatte die San-Tomé-Mine, sehr neuzeitlich in ihrem Geiste, schon merklich Einfluß gewonnen. Die Mine hatte auch in das äußere Aussehen der Menge, die sich an Festtagen vor dem offenen Portal der Kathedrale auf der Plaza drängte, eine Änderung gebracht durch die Zahl der weißen Ponchos mit grünen Streifen, die von den Bergleuten als Festtracht gewählt waren. Die Bergarbeiter hatten auch weiße Hüte mit grüner Schnur und Borte zu tragen begonnen – lauter Dinge von guter Qualität, die im Warenhaus der Verwaltung für sehr wenig Geld zu haben waren. Ein friedlicher Cholo, der diese (in Costaguana ungebräuchlichen) Farben trug, wurde merkwürdigerweise nur selten auf Grund einer Anklage wegen Nichtachtung gegen die Polizei halb zu Tode geprügelt, noch auch lief er besondere Gefahr, auf der Straße plötzlich von einer Werbeabteilung von Lanceros mit dem Lasso eingefangen zu werden – welche Art, Kriegsfreiwillige zu werben, in der Republik beinahe als gesetzlich galt. Man wußte von ganzen Dörfern, die sich auf solche Weise zum Heeresdienst gemeldet hatten; doch, wie Don Pépé mit einem hoffnungslosen Achselzucken zu Frau Gould zu sagen pflegte: »Was wollen Sie! Arme Leute! Pobrecitos! Pobrecitos! Der Staat muß eben seine Soldaten haben.«

So sprach von Berufs wegen Don Pépé, der Kämpfer, mit seinem hängenden Schnurrbart, dem nußbraunen, schmalen Gesicht und dem scharfgeschnittenen, wie gußeisernen Unterkinn. Er erinnerte stark an den Typus des berittenen Viehhirten von den großen Llanos im Süden. »Wenn Sie einem alten Offizier von Paez zuhören wollen, Señores«, so pflegte er alle seine Reden im Adelsklub von Sulaco zu beginnen, wo er auf Grund seiner früheren Verdienste um die untergegangene Sache der Föderation zugelassen war. Der Klub, dessen Gründung auf die Tage zurückreichte, da Costaguanas Unabhängigkeit ausgerufen worden war, zählte mit Stolz unter seine Gründer viele Befreier. Zahllose Male von verschiedenen Regierungen willkürlich unterdrückt, war der Klub auch mehrfach von Ächtungen und von zumindest einer völligen Niedermetzelung aller seiner Mitglieder betroffen worden, die sich auf Befehl eines eifrigen Militärkommandanten zu einem traurigen Mahl versammelt hatten (ihre nackten Leiber waren nachher von dem Abschaum der Bevölkerung aus den Fenstern des Klubhauses auf die Plaza hinuntergeworfen worden). Zu der Zeit aber, von der ich spreche, war der Klub in Frieden wieder aufgeblüht. Er dehnte auch auf Fremde in weitem Maße die Gastlichkeit der kühlen, hohen Räume seines historischen Heimes im Vorderbau eines Palastes aus, der einst die Residenz eines hohen Würdenträgers des Geistlichen Gerichtshofs gewesen war. Die beiden Flügel verfielen, hinter vernagelten Türen verschlossen, und der Hain junger Orangenbäume, der in dem ungepflasterten Innenhof gewachsen war, verbarg den völligen Verfall des Rückgebäudes gegenüber dem Eingang. Man kam von der Straße herein wie in einen abgeschlossenen Obstgarten und geriet dann an den Fuß eines etwas beschädigten Stiegenhauses, behütet von dem moosfleckigen Standbild irgendeines heiligen Bischofs mit Mitra und Krummstab, der, die schönen, steinernen Hände über der Brust gekreuzt, den Makel einer gebrochenen Nase mit Milde zu tragen schien. Die schokoladefarbenen Gesichter der Diener, mit buschigem schwarzem Haar, spähten von oben dem Besuch entgegen; das Klicken von Billardbällen klang herunter; und ging man die Stiegen empor, dann konnte man vielleicht in der ersten Sala, in gutem Licht, sehr steif in einem geradlehnigen Stuhl, Don Pépé sitzen sehen, der auf Armeslänge eine alte Zeitung von Sta. Marta vor sich hin hielt und, während er sie durchbuchstabierte, seinen Schnurrbart drehte. Sein Pferd, ein etwas bockiges, aber ausdauerndes schwarzes Biest, mit einem Schädel wie ein Hammer, hatte man schon auf der Straße reglos unter einem ungeheuren Sattel dösen sehen, die Nase bis fast zum Randstein des Bürgersteigs gesenkt.

Wenn Don Pépé, wie der in Sulaco oft gebrauchte Ausdruck lautete, »von den Bergen herunten war«, dann konnte man ihn auch im Salon der Casa Gould treffen. Er saß in bescheidener Haltung in einiger Entfernung vom Teetisch; die Knie eng geschlossen, ein harmloses, lustiges Glitzern in den tiefliegenden Augen, pflegte er kurze Scherzworte in die Unterhaltung zu werfen. Er besaß gesunden Mutterwitz und eine echte Menschlichkeit, wie man sie so oft bei schlichten, alten Soldaten von erprobtem Mut findet, die viel harten Dienst mitgemacht haben. Natürlich verstand er durchaus nichts vom Bergbau, aber seine Obliegenheiten waren von besonderer Art. Er hatte die gesamte Bevölkerung im Minengebiet unter sich, das sich vom Ausgang der Schlucht bis dorthin erstreckte, wo der Fahrweg vom Fuß des Gebirges her in die Ebene mündet und auf einer kleinen grüngestrichenen Holzbrücke einen Fluß überquert; grün, die Farbe der Hoffnung, war auch die Farbe der Mine.

Man erzählte sich in Sulaco, daß dort oben, in den Bergen, Don Pépé auf schwindelnden Pfaden dahinschritt, ein mächtiges Schwert umgegürtet und in einer schäbigen Majorsuniform mit blindgewordenen Achselstücken. Die meisten Bergleute waren Indianer, mit großen, wilden Augen, und redeten ihn mit Taita (Vater) an, wie es die barfüßige Bevölkerung jedem gegenüber gewohnt ist, der Schuhe trägt; doch war es Basilio, Herrn Goulds eigener Mozo und der erste Diener der Casa, der im besten Glauben und aus einer Art von Schicklichkeitsgefühl heraus den Major einmal mit den feierlichen Worten anmeldete: »El Señor Gobernador ist angekommen.«

Don José Avellanos, der gerade im Salon zugegen war, schien unerhört begeistert davon, wie gut der Titel paßte, und begrüßte den alten Major scherzhaft damit, sobald dessen soldatische Gestalt sich im Türrahmen zeigte. Don Pépé lächelte nur in seinen langen Schnurrbart, als wollte er sagen: »Ihr hättet einen schlechteren Namen für einen alten Soldaten finden können.«

Und so blieb er »El Señor Gobernador« und machte seine kleinen Scherzchen über sein Amt und sein Wirkungsfeld, von welch letzterem er Frau Gould gegenüber mit spaßhafter Übertreibung sagte:

 

»Nicht zwei Steine könnten irgendwo zusammenkommen, Senora, ohne daß der Gobernador das Klappern hörte.«

Und dabei pflegte er bedeutungsvoll mit der Spitze seines Zeigefingers sein Ohr zu berühren. Auch als die Zahl der Bergleute schon über sechshundert betrug, schien er jeden einzelnen davon persönlich zu kennen, all die unzähligen Josés, Manuels, Ignacios, aus den Dörfern Primero, Segundo und Tercero (es gab ihrer drei), die unter seiner Oberhoheit standen. Er konnte sie nicht nur nach ihren flachen, freudlosen Gesichtern unterscheiden (die Frau Gould alle gleich fand, wie in derselben alten Form geduldigen Leidens gegossen), sondern offenbar auch nach den unendlich vielfältigen Schattierungen der rötlichbraunen, schwarzbraunen, kupferbraunen Rücken, wenn die beiden Schichten, nackt bis auf leinene Hosen und Lederhauben, sich in einem Gewirr nackter Glieder, geschulterter Hauen und schwingender Lampen unter mächtigem Scharren von Sandalen durcheinanderdrängten, auf der Hochfläche vor der Einfahrt in den Hauptschacht. Es war Arbeitspause. Die Indianerjungen lehnten müßig gegen die lange Reihe der kleinen Grubenhunde, die leer dastanden; die Sieber und Häuer hockten auf den Fersen und rauchten lange Zigarren; die langen Schüttrinnen, die schräg über den Rand der Hochfläche hinausragten, schwiegen, und nur das unermüdliche, kräftige Rauschen des Wassers in den offenen Bächen war zu hören, das Surren von Turbinenwellen klang dazwischen und das dumpfe Stampfen des Pochwerks, das auf dem darunterliegenden Plateau das kostbare Erz zermalmte. Die Obersteiger, durch Messingmedaillen, die sie auf der nackten Brust trugen, kenntlich gemacht, hielten ihre Leute in Ordnung; und schließlich verschlang der Berg die eine Hälfte der schweigsamen Menge, während die andere in langgestreckter Reihe die Zickzackwege zum Boden der Schlucht hinabstieg. Die Schlucht war tief; ein schmaler Streifen von Pflanzenwuchs auf ihrem Grunde erschien wie eine dünne, grüne Schnur, in der drei dicke Knoten von Bananengruppen, Dächern aus Palmblättern und schattigen Bäumen die Dörfer Nummer eins, zwei und drei kennzeichneten, die Wohnstätten der Arbeiterschaft der Gould-Konzession.

Von allem Anfang an waren ganze Familien nach dem Punkt der Higuerotakette gewandert, von wo aus sich das Gerücht von Arbeit und Sicherheit über das Weidegebiet verbreitet hatte, bis in die letzten Ausläufer und Schlupflöcher der fernen blauen Sierra hinein, wie ein Hochwasser. Der Vater zuerst, in spitzem Strohhut, dann die Mutter mit den größeren Kindern, meistens auch ein kleiner Esel, alle unter schweren Lasten, bis auf den Führer selbst oder vielleicht noch ein erwachsenes Mädchen, den Stolz der Familie, das barfüßig und pfeilgerade dahinschritt, mit rabenschwarzen Flechten und fleischigem, hochmütigem Profil, ohne andere Bürde als die kleine landesübliche Gitarre und ein Paar weiche Sandalen auf dem Rücken. Wenn sie solche Gruppen aus den Heckenwegen zwischen den Weiden herauskommen oder am Rand der großen Landstraße abkochen sahen, dann pflegten berittene Reisende zueinander zu sagen:

»Wieder Leute, die nach der San Tomé-Mine wandern. Wir werden morgen noch mehr von ihnen sehen.«

Und während sie hastig in die Dämmerung hineinritten, erörterten sie die große Neuigkeit der Provinz, die Neuigkeit der San Tomé-Mine. Ein reicher Engländer wollte sie erschließen – und vielleicht war er gar kein Engländer, quien sabe! Ein Ausländer mit viel Geld. O ja, er hatte schon angefangen. Ein paar Leute, die mit einer Herde schwarzer Stiere für die nächste Corrida in Sulaco gewesen waren, hatten berichtet, daß man von dem Vorbau der Posada in Rincon, nur eine knappe Meile von der Stadt weg, die Lichter in den Bergen sehen könne, die über die Bäume glitzerten. Man sehe auch gelegentlich eine Frau reiten, die seitlich zu Pferde sitze, aber nicht im Tragsessel, sondern auf einer Art Sattel, und einen Männerhut trage. Sie ginge auch zu Fuß auf den Bergwegen herum. Sie schiene ein weiblicher Ingenieur zu sein.

»Welche Torheit! Unmöglich, Senor!«

»Si! Si! Una Americana del Norte!«

»Nun gut! Wenn Euer Wohlgeboren unterrichtet sind!« Una Americana. Es mußte wohl etwas der Art sein.

Und dann lachten sie wohl ein wenig, in geringschätziger Verwunderung, und hielten dabei ein wachsames Auge auf die Schatten längs der Straße, denn man muß auf üble Begegnungen gefaßt sein, wenn man spät im Campo reitet.

Doch waren es nicht nur die Männer, die Don Pépé so gut kannte, sondern er schien auch imstande, mit einem einzigen aufmerksamen, nachdenklichen Blick jedes Weib, Mädchen oder Kind in seinem Gebiet zu erkennen. Nur die ganz Kleinen machten ihm mitunter zu schaffen. Man konnte ihn und den Padre oft beisammen sehen, wie sie in tiefem Sinnen eine Schar brauner Kinder in einer Dorfstraße überblickten und sozusagen zu sortieren versuchten; oder sie stellten gemeinsam Nachfragen nach der Verwandtschaft irgendeines kleinen, stämmigen Kobolds an, den sie antrafen, wie er nackt und ernst des Wegs kam, eine Zigarre in seinem Kindermund und vielleicht den Rosenkranz der Mutter, als Schmuck entlehnt, vom Hals bis auf den kleinen runden Bauch niederhängend. Der geistliche und der weltliche Hirte der Minenherde waren enge Freunde. Mit Dr. Monygham, dem ärztlichen Hirten, der das Amt von Frau Gould angenommen hatte und im Gebäude des Spitals lebte, waren die Beziehungen nicht so vertraute. Aber man konnte ja auch zu keiner Vertraulichkeit mit El Señor Doctor kommen, der völlig unheimlich und rätselhaft wirkte, mit seinen krummgezogenen Schultern, dem hängenden Kopf, dem spöttischen Mund und den bitteren Seitenblicken. Die beiden andren Obrigkeiten arbeiteten im besten Einvernehmen. Vater Roman, klein, flink, runzelig, mit großen, runden Augen und scharfem Kinn, ein großer Schnupfer, war auch ein alter Feldzügler. Er hatte auf den Schlachtfeldern der Republik gar manche einfältige Seele losgesprochen, war bei den Sterbenden auf den Berghängen gekniet, im hohen Gras, im Waldesdunkel, um die letzte Beichte entgegenzunehmen, Pulverrauch in der Nase, das Rattern des Gewehrfeuers, das Klatschen und Schwirren der Kugeln im Ohr. Und was sollte Böses dabei sein, wenn sie im Pfarrhaus in den frühen Abendstunden mit schmutzigen Karten miteinander ein Spielchen machten, bevor Don Pépé seine letzte Runde antrat, um sich zu überzeugen, daß die Schutzmannschaft der Mine – eine von ihm selbst eingerichtete Körperschaft – auf ihren Posten war? Für diese letzte seiner Tagespflichten gürtete Don Pépé tatsächlich seinen alten Säbel um, auf der Veranda eines weißen Holzhauses von unverkennbar amerikanischer Herkunft, das Vater Roman das Pfarrhaus nannte. Ein langgestrecktes, niedriges Gebäude daneben, mit steilem Dach, wie eine große Scheune, mit einem Holzkreuz auf dem Giebel, war die Arbeiterkapelle. Dort las Vater Roman jeden Morgen die Messe vor einem düstern Altarbild, das die Auferstehung darstellte. Die graue Fläche des Grabsteins nahm eine Ecke ein, eine aufwärts schwebende Figur, bleich und langgliedrig, in einem Strahlenkranz, die Mitte, und ein niedergeworfener, dunkler Legionär im Helm den pechschwarzen Vordergrund. »Dieses Bild, meine Kinder, muy linda e maravillosa«, pflegte Vater Roman zu einigen seiner Beichtkinder zu sagen, »das ihr hier dank der Freigebigkeit der Gattin eures Señors Administrador bewundern könnt, ist in Europa gemalt worden, einem Land der Heiligen und Wunder, viel größer als unser Costaguana.« Und darauf pflegte er salbungsvoll eine Prise zu nehmen. Als aber einmal ein Vorwitziger zu wissen wünschte, in welcher Richtung dies Europa liege, ob aufwärts oder abwärts der Küste, da wurde Vater Roman, um seine Verblüffung zu verbergen, sehr zurückhaltend und streng. »Zweifellos liegt es sehr weit weg. Aber Unwissende, wie ihr von der San Tomé-Mine, sollten lieber ernsthaft über die ewigen Strafen nachdenken, anstatt der Größe der Erde nachzuforschen, deren Länder und Völker weit über eure Begriffe gehen.«

Mit einem »Gute Nacht, Padre!« – »Gute Nacht, Don Pépé!« ging der Gobernador davon, den Säbel unter dem Arm, den Körper vorgebeugt, mit weitausgreifendem Schritt ins Dunkel. Die Heiterkeit, wie sie zu einem unschuldigen Kartenspiel um ein paar Zigarren oder ein Bündel Yerba paßte, wich sofort der strengen, dienstlichen Haltung eines Offiziers, der sich aufmacht, um die Lagerposten abzugehen. Ein lautes Trillern der Pfeife, die ihm vom Halse hing, erweckte sofort von überallher die grelle Antwort anderer Pfiffe, mit Hundegebell untermischt, das endlich langsam am Ausgang der Schlucht erstarb; und aus dem Schweigen tauchten zwei Serenos auf, die bei der Brücke Wache hatten, und schritten lautlos dem Offizier entgegen. An der einen Seite der Straße lag ein großes Blockhaus, das Warenhaus, ganz und gar verschlossen und verrammelt. Ein andrer weißer Fachwerkbau gegenüber war das Spital; in den zwei Fenstern von Dr. Monyghams Wohnung war noch Licht. Nicht einmal das zarte Blätterwerk einer Gruppe von Pappelbäumen regte sich, so atemlos war die Dunkelheit, in die die überhitzten Felsen ihre Wärme ausstrahlten. Don Pépé stand einen Augenblick lang neben den zwei reglosen Serenos; und plötzlich begann vielleicht hoch oben auf dem steilen Hang des Berges, auf dem einzelne Fackeln glühten, wie verflogene Funken von den zwei Feuern oberhalb, die Schüttrinne zu rasseln. Das scharrende, knatternde Getöse nahm an Wucht und Schnelligkeit zu, wurde von den Wänden der Schlucht aufgenommen und als dumpfes Donnergrollen weit in die Ebene hinausgeschickt. Der Posadero in Rincon schwur, daß er in ruhigen Nächten bei aufmerksamem Hinhören das Geräusch in seinem Hausgang hören könne wie das eines Gewitters in den Bergen.

Charles Gould selbst war der Meinung, daß das Geräusch bis an die äußersten Grenzen der Provinz dringen müsse. Wenn er nachts zur Mine ritt, dann klang es ihm am Rand eines kleinen Gehölzes gleich hinter Rincon entgegen; das böse Murren des Berges, der seine Schätze in das Stampfwerk strömen ließ, war nicht zu verkennen. Dem Mann klang es mit eigener Gewalt ins Herz, als eine donnernde Verkündigung an das ganze Land, mit der Eindringlichkeit einer vollendeten Tatsache, als Erfüllung eines kühnen Wunsches. Er hatte in seiner Einbildung eben dieses Geräusch zu hören gemeint, an jenem weit zurückliegenden Abend, als seine Frau und er, nach mühsamem Ritt durch einen Waldstreifen, ihre Pferde an einem Strom angehalten und zum erstenmal in die wuchtige Einsamkeit der Schlucht gespäht hatten. Da und dort ragte die Spitze einer Palme auf. In einer Steilschlucht nahe beim Abhang des San Tomé-Berges (der würfelig ist wie ein Blockhaus) blitzte der Faden eines kleinen Wasserfalls glashell durch das dunkle Grün der schweren Baumfarne. Don Pépé, der das Paar begleitete, ritt auf, wies mit ausgestrecktem Arm in die Schlucht und erklärte mit gemachter Feierlichkeit: »Sehen Sie hier, Señora, das wahre Schlangenparadies.«

Und dann hatten sie die Pferde gewandt und waren nach Rincon geritten, um dort die Nacht zu verbringen. Der Alkalde – ein alter, fleischloser Moreno, ein Sergeant aus der Zeit Guzman Bentos – hatte ehrfürchtig mit seinen drei hübschen Töchtern das Haus geräumt, um der fremden Señora und Ihren Wohlgeboren den Caballeros Platz zu machen. Er bat Charles Gould nur (den er für eine geheimnisvolle amtliche Persönlichkeit zu halten schien), die höchste Regierungsstelle – El Gobierno supremo – an eine Pension zu erinnern (in Höhe von einem Dollar monatlich), zu der er sich berechtigt glaubte. Sie sei ihm versprochen worden, versicherte er und reckte kriegerisch seinen gebeugten Rücken: »Vor vielen Jahren, für meine Tapferkeit in den Kriegen mit wilden Indianern, als ich noch jung war, Señor.«

Der Wasserfall war nicht mehr da. Die Baumfarne, die unter seinem Sprühregen gewuchert hatten, waren um den ausgetrockneten Wasserlauf herum verdorrt, und die tiefe Schlucht war nur noch ein großer Graben, halb ausgefüllt mit Rückständen und Erzabfällen. Der Bach, weiter oberhalb gedämmt, schickte sein Wasser rauschend durch die offenen Rinnen aus ausgehöhlten Baumstämmen, die, auf hohen Holzpfählen ruhend, zu den Turbinen und dem Stampfwerk auf dem niederen Plateau führten, der Mesa grande des San Tomé-Gebirges. Nur das Andenken an den Wasserfall mit seinen wilden Farnen, die wie ein hängender Garten die Felsen der Schlucht überwucherten, lebte in Frau Goulds Aquarellskizze fort; sie hatte sie eines Tages in aller Eile von einer kleinen Lichtung zwischen den Büschen aus gemacht und dabei im Schatten eines kleinen Strohdaches gesessen, das unter Don Pépés Anleitung auf drei rohen Pfählen errichtet worden war.

 

Frau Gould hatte alles von Anfang an mit angesehen, die Rodung der Wildnis, den Bau der Straße, die Sprengung der Fußwege längs der Steilhänge von San Tomé. Durch lange Wochen hatte sie mit ihrem Gatten an Ort und Stelle gelebt; und in Sulaco hatte sie sich während jenes Jahres so wenig gezeigt, daß das Auftauchen des Gefährtes der Goulds auf der Alameda ein gesellschaftliches Ereignis bedeutete. Aus den wuchtigen Familienkutschen, die, voll mit stattlichen Señoras und schwarzäugigen Señoritas, feierlich durch die schattige Allee dahinrollten, grüßte sie das lebhafte Winken weißer Hände. Doña Emilia war »von den Bergen herunten«.

Aber nicht für lange Zeit. Doña Emilia pflegte spätestens nach ein oder zwei Tagen wieder »in die Berge hinauf zu gehen« und ihren flinken Maultieren wieder eine Ruhepause zu gönnen. Sie hatte dem Bau des ersten Fachwerkhauses auf der unteren Mesa beigewohnt, das die Kontorräume und Don Pépés Wohnung enthalten sollte; sie hörte mit einem Gefühl heißer Dankbarkeit die erste Wagenladung Erz durch die damals noch einzige Schüttrinne herunterrasseln. Sie war in lautlosem Schweigen neben ihrem Gatten gestanden, fröstelnd vor Erregung, im Augenblick, als die Gruppe der fünfzehn Erzmörser zum erstenmal in Gang gesetzt wurde. Als die Feuer unter den ersten Retorten aus ihrem Schuppen weit in die Nacht hinaus geleuchtet hatten, da hatte sich Frau Gould erst zur Ruhe auf das einfache Feldbett in dem sonst leeren Fachwerkbau zurückgezogen, bis sie das erste Stück Silberschwamm, das aus den dunklen Tiefen der Gould-Konzession bis in die wechselvollen Geschicke des Tages geraten war, gesehen hatte, sie hatte ihre unbestechlichen Hände, vor Freude leise zitternd, auf den ersten Silberbarren gelegt, der noch warm aus der Gußform gekommen war; und ihrem inneren Auge erschien der Metallklumpen mit so viel sühnender Kraft begabt, als wäre er keine bloße Tatsache, sondern ein unfaßbares Etwas von weitreichender Wirkung gewesen, wie der wahre Ausdruck eines Gefühls oder die Offenbarung eines Grundsatzes.

Don Pépé, auch er voll reger Anteilnahme, sah über ihre Schultern, mit einem Lächeln, das sein Gesicht in Längsfalten zog und ihm Ähnlichkeit mit der Ledermaske eines gutmütigen Teufels gab.

»Würden nicht die Muchachos des Hernandez gerne dies unscheinbare Ding besitzen, das, por Dios, ganz wie ein Stück Zinn aussieht?« fragte er scherzend.

Hernandez, der Räuber, war ein harmloser kleiner Ranchero gewesen und unter besonders grausamen Begleitumständen während des Bürgerkrieges aus seinem Hause herausgeholt und zum Heeresdienst gepreßt worden. Dort hatte er sich soldatisch einwandfrei geführt, bis er einmal seine Gelegenheit wahrgenommen, seinen Oberst erschossen und es fertiggebracht hatte, zu entfliehen. Mit einer Bande von Deserteuren, die ihn zu ihrem Hauptmann gewählt, hatte er jenseits des wilden und wasserlosen Bolson de Tonoro Zuflucht gesucht. Die Haziendas zahlten ihm in Vieh und Pferden Tribut. Außerordentliche Geschichten wurden von seiner Macht und der wundervollen Art erzählt, in der er sich oft und oft der Gefangennahme entzogen hatte. Er pflegte ganz allein in die Dörfer und die kleinen Städte im Campo einzureiten, einen Packmulo vor sich, zwei Revolver im Gürtel, bis gerade vor den Laden oder das Warenhaus, dort auszuwählen, was er wünschte, und dann wieder wegzureiten, unbehelligt infolge des Schreckens, den seine Taten und seine Kühnheit einflößten. Armes Landvolk ließ er gemeinhin in Frieden; die Leute der oberen Klasse wurden oft auf den Straßen angehalten und ausgeraubt; doch jeder unglückliche Beamte, der in seine Hände fiel, konnte sicher sein, furchtbar durchgepeitscht zu werden. Die Offiziere des Heeres liebten es nicht, wenn in ihrer Gegenwart sein Name genannt wurde. Seine Gefolgsleute, mit gestohlenen Pferden beritten gemacht, lachten über die Verfolgung durch die reguläre Kavallerie, die sie festnehmen sollte und dabei doch nur mit großer Kunst in Hernandez' kleinem Reich in Hinterhalte gelockt wurde. Expeditionen waren ausgerüstet, ein Preis auf des Führers Kopf gesetzt worden, sogar an Versuchen hatte es nicht gefehlt (verräterisch natürlich), Unterhandlungen mit ihm anzuknüpfen, ohne daß dadurch sein Gebaren die mindeste Einschränkung erfahren hätte. Schließlich hatte ihm nach wahrer Costaguaner Art der Fiscal von Tonoro, ehrgeizig nach dem Ruhm, den berühmten Hernandez bezwungen zu haben, eine Geldsumme und freies Geleit aus dem Lande angeboten, wenn er seine Bande verraten wollte. Doch Hernandez war offenbar nicht aus dem Holz, aus dem die hervorragenden Militärpolitiker und Verschwörer von Costaguana geschnitzt sind. Der listige, doch herkömmliche Anschlag (der sich so oft bei der Unterdrückung von Revolutionen bewährt hatte) versagte diesem Hauptmann gewöhnlicher Salteadores gegenüber. Anfangs schien alles für den Fiscal gut zu gehen, das Ende aber wurde schlimm für die Schwadron von Lanceros, die (auf des Fiscals Anweisung) in einer Bodenfalte aufgestellt worden war, wohin Hernandez seine ahnungslosen Leute zu führen versprochen hatte. Sie kamen auch tatsächlich zur angegebenen Zeit, aber auf Händen und Füßen kriechend, durch den Busch, und gaben ihre Anwesenheit erst durch eine starke Gewehrsalve zu erkennen, die viele Sättel leerte. Die überlebenden Soldaten jagten nach Tonoro zurück. Man sagt, daß der führende Offizier (der, besser beritten, den anderen weit voraus war) hinterdrein in eine rauschige Verzweiflung geriet und den ehrgeizigen Fiscal in Gegenwart seiner Frau und seiner Töchter mit dem flachen Säbel elend durchbleute, weil er dies Unglück über das Nationalheer gebracht hatte. Der höchste Zivilbeamte von Tonoro sank ohnmächtig zu Boden und wurde weiter noch mit Schlägen überhäuft und mit scharfen Sporenstößen in Hals und Gesicht bedacht, infolge der großen Empfindlichkeit seines militärischen Kollegen. Dieser Klatsch aus dem Innern, so bezeichnend für die Herrscher des Landes, mit seiner Geschichte von Unterdrückung, Ohnmacht, Winkelzügen, Verrat und roher Gewalt, war Frau Gould gut bekannt. Daß die Sache von Leuten von verfeinerter Bildung und Charakter ohne Entrüstung hingenommen wurde, als ein durch die Verhältnisse bedingtes Geschehnis, war eines der Zeichen von Entwürdigung, die Frau Gould fast bis zur Verzweiflung bedrücken konnten. Doch mit einem Blick auf den Silberbarren schüttelte sie den Kopf zu Don Pépés Bemerkung und meinte:

»Ohne die gesetzlose Tyrannei Ihrer Regierung, Don Pépé, würde nun manch ein Übeltäter glücklich und zufrieden von der ehrlichen Arbeit seiner Hände leben.«

»Señora«, rief Don Pepe begeistert, »es ist wahr! Als hätte Gott Ihnen die Macht gegeben, bis tief ins Herz des Volkes zu sehen! Sie haben die Leute rings um sich arbeiten sehen, Doña Emilia – fromm wie die Lämmer, geduldig wie ihre eigenen Esel, tapfer wie die Löwen. Ich habe sie bis hart an die Mündung der Kanonen geführt – ich, der ich hier vor Ihnen stehe, Señora –, zu den Zeiten von Paez, der voll Großmut war und an Mut, soviel ich weiß, nur von dem Onkel unseres Don Carlos hier erreicht wurde. Kein Wunder, daß es Banditen im Campo gibt, wenn nur Diebe, Schwindler und blutdürstige Macaques uns in Sta. Marta regieren; doch so oder so, ein Bandit ist ein Bandit, und wir werden dem Silbertransport nach Sulaco hinunter ein Dutzend gute Winchesterbüchsen mitgeben.«

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