Nostromo

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5

Einzig auf diese Weise machte die örtliche Obrigkeit ihre Autorität unter der geschlossenen Masse der starkgliedrigen Fremden geltend, die die Erde umgruben, die Felsen sprengten und die Maschinen führten – alles für das »fortschrittliche und patriotische Unternehmen«. Mit eben diesen Worten hatte achtzehn Monate zuvor der Eccellentissimo Senor Don Vincente Ribiera, der Diktator von Costaguana, in seiner großen Rede aus Anlaß des ersten Spatenstiches der Nationalen Zentralbahn gedacht.

Er war eigens nach Sulaco gekommen, und nach der Feierlichkeit an Land hatte die O. S. N. Kompagnie an Bord der Juno ein großes Mittagessen gegeben, ein Convité. Kapitän Mitchell hatte persönlich den Leichter gesteuert, der, reich mit Flaggen geschmückt, im Schlepptau der Dampfbarkasse der Juno den Eccellentissimo von der Landungsbrücke zum Schiff gebracht hatte. Jedermann von einigem Ansehen in Sulaco war geladen gewesen – die ein oder zwei fremden Kaufleute, alle Vertreter der alten spanischen Familien, die sich in der Stadt aufhielten, die Großgrundbesitzer von der Ebene, ernste, artige Biedermänner, Caballeros von reiner Abstammung, mit kleinen Händen und Füßen, konservativ, gastfrei und gütig. Die Westliche Provinz war ihre Hochburg: ihre Blanco-Partei hatte gesiegt, es war ihr Präsident-Diktator, ein Blanco unter den Blancos, der da höflich lächelnd zwischen den Vertretern zweier befreundeter fremder Mächte saß. Die waren mit ihm von Sta. Marta gekommen, um durch ihre Gegenwart das Unternehmen zu ehren, an dem das Kapital ihrer Länder beteiligt war. Die einzige Dame in der Gesellschaft war Frau Gould, die Gattin von Don Charles Gould, dem Administrator der San-Tomé-Silbermine. Die Damen von Sulaco waren nicht fortschrittlich genug, um in diesem Maße am öffentlichen Leben teilzunehmen. Sie hatten sich an dem großen Ball in der Intendancia, am Abend zuvor, stark beteiligt; doch Frau Gould allein, ein lichter Fleck in der Gruppe von schwarzen Gehröcken hinter dem Präsidenten-Diktator, war auf der mit rotem Tuch ausgeschlagenen Tribüne erschienen, die unter einem schattigen Baum am Hafenkai errichtet worden war und wo der feierliche erste Spatenstich stattgefunden hatte. Sie war auch mit all den Honoratioren in den Leichter gestiegen und war unter dem Flattern bunter Flaggen auf dem Ehrenplatz neben Kapitän Mitchell gesessen, der steuerte; ihr helles Kleid brachte die einzige wahrhaft festliche Note in die düstere Versammlung in dem langen Prunksalon der Juno.

Der Vorsitzende des Verwaltungsrats der Eisenbahngesellschaft (aus London), mit einem schönen Gesicht, das blaß aus der silbrigen Umrahmung des weißen Haares und eines gestutzten Barts leuchtete, neigte sich aufmerksam, lächelnd und müde ihr zu. Die Reise von London nach Sta. Marta, in Postdampfern, und die Spezialwagen auf der Küstenlinie von Sta. Marta (der einzigen Bahnlinie bis dahin) waren erträglich gewesen – ganz lustig sogar – wirklich erträglich. Die Reise über das Gebirge nach Sulaco aber, in einer alten Oberlandkutsche, über unwegsame Straßen, am Rand grausiger Abgründe hin – die natürlich hatte wesentliche andere Ansprüche gestellt.

»Wir haben zweimal an einem Tag hart am Rand sehr tiefer Schluchten umgeworfen«, erzählte er Frau Gould leise. »Und als wir schließlich hier ankamen, da weiß ich wirklich nicht, was wir ohne Ihre Gastfreundschaft angefangen hätten. Wie dieses Sulaco doch aus der Welt ist! – Und dabei ein Hafen! Erstaunlich!«

»Oh, aber wir sind sehr stolz darauf! Es hat in der Geschichte eine große Rolle gespielt. Während der Herrschaft zweier Vizekönige war hier der Sitz des höchsten geistlichen Gerichts«, belehrte sie ihn lebhaft.

»Sie sehen mich erschüttert. Ich dachte nicht an Herabsetzung. Sie scheinen sehr patriotisch.«

»Man kann den Ort wirklich lieben, und wenn nur seiner Lage wegen. Sie wissen vielleicht nicht, eine wie alte Einwohnerin ich bin.«

»Wie alt: wohl, möchte ich wissen«, murmelte er und sah sie mit leichtem Lächeln an. Frau Gould erschien jung durch die Klugheit ihres beweglichen Gesichts. »Ihren geistlichen Gerichtshof können wir Ihnen nicht wiedergeben; aber Sie sollen mehr Dampfer haben, eine Bahn, ein Unterseekabel, eine Zukunft in der großen Welt, die unendlich wertvoller ist als jede beliebige geistliche Vergangenheit. Sie sollen mit etwas Größerem als zwei Vizekönigen in Berührung gebracht werden. Aber ich hatte wirklich keine Vorstellung, daß eine Küstenstadt von der Welt so abgeschlossen bleiben könnte. Wenn sie noch tausend Meilen landeinwärts läge! – Ganz erstaunlich! Ist hier wohl seit hundert Jahren, von heute an gerechnet, je etwas geschehen?«

Während er so, langsam und belustigt, redete, behielt sie das kleine Lächeln bei. Reichlich spöttisch, wie es ihm vorkam, versicherte sie ihm, daß sich gewiß nichts – niemals etwas in Sulaco ereignet habe. Sogar die Revolutionen, deren es während ihrer Zeit zwei gegeben, hatten den Frieden des Orts geachtet. Ihre Schauplätze waren die volkreicheren südlichen Teile der Republik gewesen und das weite Tal von Sta. Marta, das ein einziges großes Schlachtfeld für die Parteien bildete, mit dem Besitz der Hauptstadt als Preis und dem Zugang zu einem ändern Ozean. Die dort drüben waren fortschrittlicher. Hier in Sulaco aber hörte man nur das Echo dieser großen Fragen, und natürlich vollzog sich jedesmal ein Wechsel in der Beamtenschaft, wobei die Ablösung immer über den Bergwall kam, den er selbst mit soviel Gefahr für Leben und gerade Glieder in einer alten Postkutsche überklettert hatte.

Der Vorsitzende des Verwaltungsrats hatte ihre Gastfreundschaft mehrere Tage genossen und war wirklich dankbar dafür. Erst nadi dem Verlassen von Sta. Marta hatte er inmitten der fremdartigen Umgebung völlig die Fühlung mit europäischem Leben verloren. In der Hauptstadt war er der Gast der Gesandtschaft gewesen und hatte reichliche Beschäftigung in den Unterhandlungen mit den Mitgliedern von Don Vincentes Regierung gefunden – gebildeten Leuten, denen die Grundbedingungen gesitteter Geschäftsführung nicht unbekannt waren.

Was ihn zur Zeit am meisten beschäftigte, war der Landerwerb für die Eisenbahn. Im Tal von Sta. Marta, wo schon eine Linie in Betrieb stand, war es nur eine Preisfrage, da die Leute umgänglich waren. Eine Kommission war eingesetzt worden, um die Grundwerte festzustellen, und die Schwierigkeit beschränkte sidi darauf, den richtigen Einfluß auf die Kommissionsmitglieder zu gewinnen. In Sulaco aber – der Westlichen Provinz, für deren Erschließung die neue Eisenbahn gedacht war –, in Sulaco hatte es Ärger gegeben. Der Landstrich war seit Menschengedenken abgeschieden hinter seinen natürlichen Schutzwällen gelegen und hatte neuzeitlichen Unternehmungen die Steilwände seiner Berge entgegengesetzt, den seichten Hafen am Ende eines ewig bewölkten, ewig windstillen Golfs, die rückständige Gesinnung der Eigentümer des fruchtbaren Bodens – aller dieser altadeligen spanischen Familien, aller dieser Don Ambrosio Dies und Don Fernando Das, die dem Plan einer Bahnlinie über ihre Grundstücke ablehnend und mißtrauisch gegenüberstanden. Es war vorgekommen, daß einige der Vermessungsabteilungen, die über die ganze Provinz zerstreut arbeiteten, unter Androhung von Gewalt vertrieben worden waren, und in anderen Fällen wiederum waren maßlose Preisforderungen erhoben worden. Aber der Eisenbahnmensch war stolz darauf, jedem Vorkommnis gewachsen zu sein. Da ihm hier in Sulaco das feindliche Gefühl blinder Rückständigkeit entgegengetreten war, so wollte er ihm durch ein anderes Gefühl begegnen, bevor er sich einfach nur auf sein Recht stützte. Die Regierung war verpflichtet, die Bedingungen des Vertrags mit der Eisenbahngesellschaft durchzuführen, und sollte sie auch offene Gewalt dazu gebrauchen müssen. Der Verwaltungsrat wünschte aber für den glatten Ablauf seiner Pläne alles eher als einen bewaffneten Eingriff. Die waren viel zu groß und weitreichend und auch zu vielversprechend, als daß man hätte ein Mittel unversucht lassen mögen; und so war er auf den Gedanken gekommen, den Präsidenten-Diktator hier herüberzubringen, zu einer Reihe von Feierlichkeiten und Reden, die in einer großen Zeremonie am Hafenkai anläßlich des ersten Spatenstiches gipfeln sollten. Schließlich war er das eigene Geschöpf dieser Leute – dieser Don Vincente. Er war der verkörperte Triumph der besten Elemente im Staat. Dies waren Tatsachen, und wenn Tatsachen überhaupt eine Bedeutung hatten, sagte sich Sir John, so mußte der Einfluß dieses Mannes wirksam sein und sein persönliches Erscheinen die gewünschte Versöhnung herbeiführen. Sir John hatte die Reise mit Hilfe eines sehr geschickten Advokaten zuwege gebracht, der in Sta. Marta als der Agent der Gould-Silbermine bekannt war, der größten Sache in Sulaco und der ganzen Republik überhaupt. Es war tatsächlich eine fabelhaft reiche Mine. Ihr sogenannter Agent, ganz offenbar ein Mann von Bildung und Geschick, schien, ohne amtliche Stellung, außerordentlichen Einfluß in den höchsten Regierungskreisen zu besitzen. Er war in der Lage, Sir John zu versichern, daß der Präsident-Diktator die Reise machen würde. Allerdings sprach er in der gleichen Unterredung sein Bedauern darüber aus, daß General Montero darauf bestehe, gleichfalls mitzukommen.

General Montero, den der Ausbruch der Revolution als unbekannten Linien-Kapitän an der wilden Ostgrenze des Staates getroffen, hatte sich mit seiner Abteilung in einem Augenblick auf die Seite der Ribiera-Partei geschlagen, wo besondere Umstände dieser an sich geringfügigen Tatsache entscheidende Bedeutung gaben. Das Kriegsglück war ihm wunderbar hold, und der Sieg von Rio Seco (nach eintägigem, verzweifeltem Kampfe) besiegelte seinen Erfolg. Schließlich ging er als General, Kriegsminister und militärisches Haupt der Blanco-Partei aus alledem hervor, trotzdem durchaus nichts Aristokratisches in seiner Abstammung war. Tatsächlich erzählte man sich, daß er und sein Bruder, Waisen, der Freigebigkeit eines europäischen Reisenden ihre Erziehung verdankten, in dessen Diensten ihr Vater sein Leben verloren hatte. Ein anderes Gerücht wollte wissen, daß ihr Vater einfach ein Köhler im Walde gewesen war und ihre Mutter eine getaufte Indianerin, tief aus dem Landesinnern.

 

Doch wie dem auch sein mochte, die Costaguana-Presse hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Monteros Marsch durch den Urwald, von seiner Commandancia zum Hauptlager der Blancotruppen, zu Beginn des Aufruhrs, als »das heldenhafteste militärische Wagnis der neueren Zeit« zu feiern. Ungefähr zur gleichen Zeit war auch sein Bruder von Europa zurückgekehrt, wohin er angeblich als Sekretär eines Konsuls gegangen war. Fest stand, daß er eine kleine Schar von Desperados um sich gesammelt, einige Begabung als Guerillaführer bewiesen hatte und nadi Friedensschluß mit dem Posten eines Militärkommandanten der Hauptstadt belohnt worden war.

Der Kriegsminister also begleitete den Diktator. Die Verwaltung der O. S. N. Kompagnie, die mit den Leuten von der Eisenbahn Hand in Hand zum Wohle der Republik arbeitete, hatte bei diesem wichtigen Anlaß Kapitän Mitchell die Weisung gegeben, den Postdampfer Juno zur Verfügung der ausgezeichneten Gäste zu halten. Don Vincente war von Sta. Marta nach Süden gereist, hatte sich in Cayta, dem Haupthafen von Costaguana, eingeschifft und war auf dem Seewege nach Sulaco gekommen. Der Vorsitzende des Verwaltungsrats aber hatte mutig in einer wackeligen Postkutsche das Gebirge überquert, hauptsächlich zu dem Zweck, um seinen Chefingenieur zu treffen, der die endgültigen Vermessungsarbeiten für die Linie leitete.

Trotz all der Unempfindlichkeit eines Geschäftsmannes für die Natur, deren Feindseligkeit ja immer durch Geldaufwand zu besiegen ist, konnte er sich doch eines tiefen Eindrucks nicht erwehren bei der Rast im Lager der Vermessungsabteilung, das auf dem höchsten Punkte der künftigen Bahnlinie errichtet war. Er brachte die Nacht dort zu, nachdem er eben zu spät gekommen war, um das letzte Verglühen des Sonnenlichts auf den schneeigen Hängen des Higuerota mit anzusehen. Getürmte Massen schwarzen Basalts faßten wie Torpfeiler einen Teil des Schneefeldes ein, das sich quer nach Westen hinzog. In der dünnen Höhenluft schien alles ganz nahe, in stille Klarheit getaucht wie in eine farblose Flüssigkeit; und gespannt auf das erste Geräusch der erwarteten Postkutsche lauschend, hatte der Chefingenieur in der Tür einer Hütte aus rohen Steinblöcken die wechselnden Farbtöne auf den ungeheuren Berghängen verfolgt und dabei gedacht, daß dieser Anblick, wie ein beseeltes Tonwerk, die letzte Feinheit verschleierten Ausdrucks mit überwältigender Wirkung vereinte.

Sir John kam zu spät, um dem gewaltigen, unhörbaren Choral beizuwohnen, den der Sonnenuntergang in den Schroffen der Sierra harfte. Der Sang war in die atemlose Stille tiefster Dämmerung verrauscht, bevor Sir John steifbeinig über das vordere Rad der Postkutsche herunterkletterte und mit dem Ingenieur einen Händedruck wechselte.

Man trug ihm ein Abendmahl in einer Steinhütte auf, die ein hohler Felsblock schien, ohne Türe oder Fensterrahmen in ihren zwei Öffnungen; ein helles Feuer aus Holzprügeln (die mit Mulis vom ersten Tal heraufkamen) brannte draußen und warf seinen grellen Schein in die Hütte; und zwei Kerzen in zinnernen Leuchtern – ihm zu Ehren angezündet, wie ihm erklärt wurde – standen auf einem rohen Lagertisch, an dem er zur Rechten des Chefingenieurs saß. Er verstand es sehr wohl, liebenswürdig zu sein; und die jungen Herren des Ingenieurstabs, für die die Vermessung der Bahnlinie allen Glanz der ersten Schritte ins Leben hatte, saßen auch dabei, mit glatten, wettergebräunten Gesichtern, hörten bescheiden zu und schienen über solche Leutseligkeit bei einem so großen Mann höchlich erfreut.

Nachher, spät in der Nacht, ging er draußen mit dem Chefingenieur auf und ab und hatte dabei mit ihm ein langes Gespräch. Er kannte ihn seit langem gut. Dies war nicht das erste Unternehmen, bei dem ihre Begabungen, so elementar verschieden wie Feuer und Wasser, zusammengearbeitet hatten. Aus der Verbindung dieser beiden Persönlichkeiten, die nicht die gleiche Weltanschauung hatten, war eine Macht für den Dienst der Welt entsprungen – eine gewaltige Kraft, die mächtige Maschinen in Bewegung setzen und in der Brust von Menschen schrankenlosen Opferwillen für die Aufgabe wecken konnte. Von den jungen Burschen am Tisch, denen die Vermessung der Bahn wie das Abstecken des eigenen Lebensweges erschien, würde wohl mehr als einer den Tod finden, bevor das Werk getan war. Doch das Werk würde getan werden: die Kraft würde fast so stark wie ein Glaube wirken. Nicht ganz so stark vielleicht. In der Stille des schlafenden Lagers, auf der mondbeschienenen Hochfl äche des Passes, die wie eine weite Arena zwischen den Basaltwällen der Steilwände lag, standen die beiden auf und ab wandelnden Gestalten in dicken Mänteln still, und die Stimme des Ingenieurs sprach deutlich die Worte:

»Wir können keine Berge versetzen!«

Sir John hob den Kopf, um der deutenden Hand des ändern zu folgen, und empfand die volle Kraft der Worte. Der weiße Higuerota schwebte im Mondlicht über den Schatten der Felsen und der Erde wie eine gefrorene Seifenblase. Alles war still, bis nahebei, hinter dem kreisförmigen Wall eines Korrals für die Packtiere des Lagers, der aus losen Steinen getürmt war, ein Mulo stampfte und zweimal laut schnaubte.

Der Chefingenieur hatte den Satz als Antwort auf die versuchsweise Anregung Sir Johns gesprochen, die Linie könnte vielleicht verlegt werden, um dem Widerstand der Grundeigentümer von Sulaco auszuweichen. Der Chefingenieur hielt die Hartnäckigkeit der Menschen für das geringere Hindernis. Überdies war zu deren Bekämpfung auch der große Einfluß von Charles Gould da, während der Bau eines Tunnels unter dem Higuerota ein ganz ungeheures Unternehmen darstellte.

»O ja! Gould! Was für ein Mann ist das?«

Sir John hatte in Sta. Marta viel von Charles Gould gehört und wünschte mehr zu wissen. Der Chefingenieur versicherte ihm, daß der Administrator der San-Tomé-Silbermine den größten Einfluß auf all diese spanischen Dons habe. Er besitze desgleichen eines der besten Häuser in Sulaco, und die Gastfreundschaft der Goulds sei über jedes Lob erhaben.

»Sie haben mich aufgenommen, als hätten sie mich seit Jahren gekannt«, sagte er. »Die kleine Dame ist die Güte in Person. Ich habe einen Monat lang bei ihnen gewohnt. Er half mir bei der Zusammenstellung der Vermessungsabteilungen. Sein tatsächliches Eigentumsrecht an der San-Tomé-Silbermine gibt ihm eine besondere Stellung. Er scheint ganz offenbar das Ohr jeder einzelnen Provinzbehörde zu besitzen, und wie ich Ihnen schon sagte, kann er alle die Hidalgos der Provinz um den kleinen Finger wickeln. Wenn Sie seinem Rat folgen, werden die Schwierigkeiten entfallen, denn er wünscht die Bahn. Natürlich müssen Sie mit Ihren Worten vorsichtig sein. Das Haus Holroyd ist mit ihm an der Mine beteiligt, und da können Sie sich ja vorstellen...«

Er unterbrach sich, denn vor einem der kleinen Feuer, die längs der niederen Korralmauer brannten, richtete sich ein Mann auf, bis zum Halse in seinen Poncho gehüllt. Der Sattel, den er als Kissen benutzt hatte, erschien als dunkler Fleck vor dem rotglühenden Aschenhaufen

»Ich werde auf dem Rückweg durch die Staaten Holroyd selbst sehen«, sagte Sir John. »Ich habe festgestellt, daß auch er die Bahn wünscht.«

Der Mann, der, vielleicht durch die nahen Stimmen aufgestört, sich vom Boden erhoben hatte, rieb ein Streichholz an, um sich eine Zigarette anzuzünden. Die Flamme beleuchtete ein bronzefarbenes Gesicht mit schwarzem Backenbart, ein Paar scharf blickende Augen; dann wickelte er sich fester in seine Decke, sank der Länge nach wieder zurück und legte den Kopf auf den Sattel.

»Das ist unser Lagermeister, den ich jetzt nach Sulaco zurückschicken muß, da wir mit der Vermessung ins Tal von Sta. Marta hinunterkommen«, sagte der Ingenieur. »Ein sehr brauchbarer Bursche, den mir Kapitän Mitchell von der O. S. N. Kompagnie geliehen hat. Sehr freundlich von Mitchell. Charles Gould sagte mir, ich könnte nichts Besseres tun, als das Anerbieten anzunehmen. Er scheint es zu verstehen, alle diese Maultiertreiber und Peons im Zaum zu halten. Wir hatten nicht die geringsten Anstände mit unseren Leuten. Er wird Ihre Postkutsche mit einigen unserer Eisenbahnpeons bis ganz nach Sulaco hinein begleiten. Die Straße ist schlecht, es kann Ihnen ein- oder zweimal Umwerfen ersparen, wenn Sie ihn bei sich haben. Er hat mir versprochen, Sie auf dem ganzen Weg wie seinen eigenen Vater zu behüten.«

Dieser Lagermeister war der italienische Matrose, den alle Europäer in Sulaco, Kapitän Mitchells falschem Ausspruch folgend, Nostromo zu nennen gewohnt waren, und tatsächlich entledigte er sich, schweigsam und diensteifrig, an den schlechten Wegstellen ganz ausgezeichnet seiner Aufgabe, wie Sir John selbst nachher vor Frau Gould anerkennend hervorhob.

6

Zu jener Zeit war Nostromo schon lange genug im Lande gewesen, um in Kapitän Mitchell eine geradezu überspannte Bewertung seiner Entdeckung reifen zu lassen. Er war ja augenscheinlich einer jener unschätzbaren Untergebenen, deren Besitz zu einigem Stolz berechtigt. Kapitän Mitchell tat sich etwas zugute auf seine Menschenkenntnis – aber er war nicht selbstsüchtig – und begann bereits in aller Unschuld jene Manie zu entwickeln: »...will ihnen meinen Capataz de Cargadores leihen«, durch die Nostromo früher oder später in persönliche Berührung mit jedem einzelnen Europäer in Sulaco gebracht werden sollte, als etwas wie ein Allerwelts-Faktotum – ein Wunder an Verwendbarkeit in seiner eigenen Lebenssphäre.

»Der Bursche ist mir blind ergeben, mit Leib und Seele!« konnte Kapitän Mitchell versichern, und wenn vielleicht auch niemand hätte erklären können, warum das der Fall sein sollte, so war es doch bei einiger Einsicht in ihre Beziehung unmöglich, die Behauptung in Zweifel zu ziehen – außer etwa für einen so verbitterten und verschrobenen Menschen wie Dr. Monygham, in dessen kurzem, hoffnungslosem Lachen eine grenzenlose Menschenverachtung mitklang. Nicht als ob Dr. Monygham mit diesem Lachen oder mit Worten verschwenderisch gewesen wäre. Er liebte in seinen besten Augenblicken ein grämliches Schweigen. In den schlimmeren Augenblicken fürchteten die Leute seinen erbarmungslosen Spott. Einzig Frau Gould vermochte seinen Unglauben an die menschlichen Beweggründe in gebührenden Grenzen zu halten; doch sogar ihr hatte er (bei einer Gelegenheit, die nichts mit Nostromo zu tun hatte, und in einem für seine Verhältnisse sogar liebenswürdigen Ton) einmal gesagt: »Es ist wirklich sehr unvernünftig, zu verlangen, daß ein Mann über andere soviel besser denken sollte, als er über sich selbst zu denken imstande ist.«

Und Frau Gould hatte sich beeilt, den Gegenstand fallen zu lassen. Über den englischen Doktor liefen merkwürdige Gerüchte um. Vor Jahren, in den Zeiten Guzman Bentos, war er, so flüsterte man, in eine Verschwörung verwickelt gewesen, die verraten und, wie die Leute sich ausdrückten, in Blut ertränkt worden war. Sein Haar war grau geworden, sein bartloses, kränkelndes Gesicht ziegelfarben; das große Würfelmuster seines Flanellhemdes und sein alter, ausgebleichter Panamahut waren eine ständige Herausforderung an jeden gesellschaftlichen Brauch in Sulaco. Ohne die peinliche Sauberkeit seiner Kleidung hätte man ihn für einen der entwurzelten Europäer halten können, die fast überall in den Überseeländern für die Achtbarkeit der jeweiligen Landsmannschaften einen Dorn im Auge darstellen. Die jungen Damen von Sulaco, die mit einem Kranz anmutiger Gesichter die Balkone längs der Verfassungsstraße zierten, flüsterten einander zu, wenn sie ihn hinkend mit gesenktem Kopf vorübergehen sahen, eine kurze Leinenjacke achtlos über das gewürfelte Flanellhemd gezogen: »Da geht der Señior Doctor, um Doña Emilia seinen Besuch zu machen; er hat seinen kleinen Rock an.« Der Schluß stimmte. Seine tiefere Bedeutung allerdings entzog sich der oberflächlichen Einsicht der Damen. Es lag ihnen auch ferne, besonderes Nachdenken an den Doktor zu wenden. Er war alt, häßlich, gelehrt und ein wenig – »loco« – verrückt, wenn nicht gar ein Zauberer, was zu sein ihn das gemeine Volk verdächtigte. Die kurze weiße Jacke war tatsächlich ein Zugeständnis an Frau Goulds vermenschlichenden Einfluß. Der Doktor mit seiner spöttischen, bitteren Redeweise hatte kein anderes Mittel, um seine tiefe Ehrfurcht vor der Wesensart der Dame zu bekunden, die im Land als die Englische Señora bekannt war. Er brachte diesen Tribut sehr ernsthaft dar; es war für einen Mann seiner Gewohnheiten keine Kleinigkeit. Frau Gould empfand das vollauf. Es wäre ihr nie eingefallen, ihm etwa diesen deutlichen Beweis von Ergebenheit nahezulegen.

 

Sie hielt ihr altes spanisches Haus (eines der schönsten in Sulaco) offen für die Austeilung der kleinen Annehmlichkeiten des Daseins. Sie teilte sie mit reizender Unbefangenheit aus, weil sie sich dabei von sicherem Wertungsvermögen leiten ließ. Sie hatte eine besondere Begabung für die Art des Verkehrs mit Menschen, der die zarten Abstufungen von Selbstvergessen in sich schließt und an ein umfassendes Verstehen glauben läßt. Charles Gould (die Männer der seit drei Generationen in Costaguana ansässigen Familie Gould holten sich ihre Erziehung wie auch ihre Frauen immer in England), Charles Gould also war der Meinung, er habe sich, wie jeder andere Mann, in den gesunden Menschenverstand eines Mädchens verliebt, doch konnte dies wohl nicht der Grund sein, aus dem zum Beispiel der ganze Stab der Vermessungsabteilung vom jüngsten der Jungen bis zu dem gereiften Oberhaupt so häufig Gelegenheit nahm, zwischen den Gipfeln der Sierra des Hauses der Frau Gould zu gedenken. Sie natürlich hätte leise lachend und mit einem überraschten Weiten ihrer grauen Augen beteuert, daß sie durchaus nichts für die Herren getan habe – hätte ihr jemand erzählt, wie innig ihrer an der Schneegrenze, weit oberhalb Sulacos, gedacht wurde; dann aber hätte sie sehr bald, unter dem reizenden Vorgeben, ihren Witz anzustrengen, eine Erklärung gefunden: »Natürlich, es mußte ja für die Jungen eine solche Überraschung sein, hier draußen so etwas wie einen Willkomm zu finden, und ich denke mir auch, daß sie Heimweh haben. Ich denke mir, jedermann muß immer ein wenig Heimweh haben.«

Leute, die an Heimweh litten, taten ihr immer leid.

Im Lande geboren, wie sein Vater vor ihm, mager und lang, mit feuerrotem Schnurrbart, scharfgeschnittenem Kinn, klaren blauen Augen, nußbraunem Haar und schmalem, frischem, rotem Gesicht, sah Charles Gould wie ein Neukömmling aus der Heimat aus. Sein Großvater hatte für die Sache der Unabhängigkeit unter Bolivar gefochten, in jener berühmten Englischen Legion, die der große Befreier auf dem Schlachtfeld von Carabobo als Retter seines Landes begrüßt hatte. Einer von Charles Goulds Onkeln war in den Tagen der Föderation der erwählte Präsident eben der Provinz von Sulaco gewesen (die sich damals Staat nannte) und späterhin an die Kirchenmauer gestellt und auf Befehl des barbarischen Unionisten-Generals Guzman Bento erschossen worden. Es war derselbe Guzman Bento, der später, als lebenslänglicher Präsident, wegen seiner erbarmungslosen, grausamen Tyrannei berüchtigt wurde und im Volksglauben eine Art Apotheose fand – als blutdürstig spukendes Gespenst, dessen Körper vom leibhaftigen Teufel aus dem Mausoleum im Hauptschiff der Himmelfahrtskathedrale in Sta. Marta entführt worden war. So wenigstens pflegten die Priester das Verschwinden des Leichnams der barfüßigen Menge zu erklären, die herbeiströmte, um mit frommem Schauder das Loch in dem häßlichen Ziegelbau vor dem Altar anzustarren.

Guzman Bento grausamen Angedenkens hatte eine Unzahl Menschen außer Charles Goulds Onkel zum Tode verurteilt; doch mit einem Märtyrer für die Sache der Aristokratie zum Verwandten galt Charles Gould den Oligarchen von Sulaco (dies war die Bezeichnung zu Guzman Bentos Zeit; nun nannten sie sich Blancos und hatten den Gedanken an den Bundesstaat fallen lassen), galt also Charles Gould den Familien reiner spanischer Abstammung als einer der ihren. Eine solche Familiengeschichte gab Charles Gould den unbestreitbarsten Anspruch, als Costaguanero zu gelten; sein Aussehen aber war so eindeutig, daß er in der Sprache des gemeinen Volkes einfach der »Inglez« blieb, der Engländer von Sulaco. Er sah englischer aus als ein Zufallstourist, obwohl diese Art ketzerischer Pilger in Sulaco völlig unbekannt war. Er sah englischer aus als die letztgekommene Gruppe junger Eisenbahningenieure, als irgend jemand auf den Jagdbildern in den Nummern des »Punch«, die etwa zwei Monate nach Erscheinen in den Salon seiner Frau gelangten. Es verblüffte geradezu, ihn so geläufig spanisch sprechen zu hören (kastillanisch, wie die Eingeborenen sagen), oder die Indianer-Mundart der Bevölkerung. Seine Aussprache war nie englisch gewesen; aber in all diesen Goulds von Costaguana, seinen Vorfahren – Befreiern, Forschern, Kaffeepflanzern, Kaufleuten, Revolutionären –, steckte wohl etwas so Unzerstörbares, daß er, der einzige Vertreter der dritten Generation, in einem Erdteil, der seinen eigenen Reitstil hat, sogar noch zu Pferde völlig englisch aussah. Das soll nicht in der spöttischen Art der Llaneros von ihm gesagt sein – der Leute von den großen Ebenen, die meinen, daß niemand außer ihnen selbst zu Pferde zu sitzen verstehe. Charles Gould ritt, um den landläufigen Ausdruck zu gebrauchen, wie ein Zentaur. Das Reiten bedeutete ihm keine besondere Art von Leibesübung; es war eine natürliche Fähigkeit, wie das gewöhnliche Gehen für alle Leute mit gesunden Sinnen und Gliedern; trotzdem aber sah er, wenn er neben dem ausgefahrenen Ochsenweg nach der Mine galoppierte, in seinen englischen Kleidern und im englischen Sattel so aus, als wäre er in eben dem Augenblick in seinem leichten, schnellen »Pasotrote« kerzengerade aus einer grünen Wiese von der anderen Seite der Welt herübergekommen.

Sein Weg führte an der altspanischen Straße entlang, dem volkstümlich so genannten Camino Real – als Tatsache und Namen das einzige Überbleibsel eines Königtums, das der alte Giorgio Viola haßte und von dem nicht einmal mehr ein Schatten im Lande geblieben war; denn die große Reiterstatue Karls IV. am Eingang der Alameda, die sich weiß von den Bäumen abhob, war dem Landvolk und den Stadtbettlern, die auf den Stufen rings um den Sockel schliefen, nur als das Steinerne Pferd bekannt. Der andere Carlos, der unter raschem Klappern von Hufen auf dem holprigen Pflaster nach links abbog – Don Charles Gould in seinen englischen Kleidern –, paßte gleich wenig in seine Umgebung, schien sich damit aber wesentlich vertrauter zu fühlen als der königliche Reiter, der auf dem Sockel über den schlafenden Leperos sein Pferd zügelte und den Marmorarm zu der Marmorkrempe seines Federhuts erhob.

Das wettergepeitschte Standbild des reitenden Königs mit der Andeutung einer grüßenden Gebärde schien den politischen Veränderungen, die es sogar seines Namens beraubt hatten, mit unergründlichem Gleichmut die Stirne zu bieten; doch auch der andere Reiter, dem Volke wohlbekannt und sehr lebendig auf seinem schieferfarbenen Tier mit weißem Auge, auch er trug sein Herz durchaus nicht offen auf dem Umschlag seines englischen Rocks. Er bewahrte sein inneres Gleichgewicht, als fände er immer noch seinen Ruhepunkt in der leidenschaftslosen Beständigkeit des privaten und öffentlichen Herkommens in der europäischen Heimat. Er blieb gleich unbewegt vor der aufreizenden Art, in der die Damen von Sulaco ihre Gesichter mit Perlpuder bestäubten, bis sie wie Gipsmasken mit herrlich lebendigen Augen aussahen, wie vor dem Stadtklatsch und den ewigen politischen Umwälzungen, den unaufhörlichen »Rettungen des Landes«, die seiner Frau als ein dummes, blutiges Spiel voll Mord und Raub erschienen, mit furchtbarem Ernst von entarteten Kindern gespielt. In den ersten Tagen ihres Daseins in Costaguana pflegte die kleine Dame verzweifelt die Hände zu ringen, weil sie sich außerstande sah, die öffentlichen Angelegenheiten des Landes so ernst zu nehmen, wie die gelegentliche Grausamkeit der Begleitumstände es verlangte. Sie sah darin eine Komödie leeren Wahns, doch kaum etwas Echtes, außer ihrer eigenen sprachlosen Entrüstung. Charles, der in aller Ruhe seinen langen Schnurrbart drehte, pflegte jedes Gespräch über den Gegenstand abzulehnen. Nur einmal sagte er ihr, in aller Freundlichkeit:

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