Nostromo

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Frau Goulds Ritt mit dem ersten Silbertransport nach Sulaco bildete den Abschluß ihres »Lagerlebens«, wie sie es nannte, bevor sie sich dauernd in ihrem Stadthaus niederließ, wie es für die Gattin des Administradors eines so wichtigen Unternehmens wie der San Tomé-Mine geziemend und sogar nötig war. Denn die San Tomé-Mine wurde allmählich zu einer besonderen Einrichtung, zum Sammelpunkt für alles in der Provinz, was Ordnung und Gleichmaß zum Leben brauchte. Aus der Bergschlucht schien sich über das ganze Land Sicherheit zu ergießen. Die Behörden von Sulaco hatten begriffen, daß die San Tomé-Mine es für sie der Mühe wert machen konnte, die Dinge und die Leute in Ruhe zu lassen. Dies war die nächste Annäherung an vernünftige und gerechte Verhältnisse, die Charles Gould für den Anfang erreichbar schien. Tatsächlich war die Mine mit ihrer Organisation, ihrer Arbeiterbevölkerung, die für das Vorrecht besonderer Sicherheit mit unbedingter Anhänglichkeit dankte, die Mine mit ihrer Waffenkammer, mit ihrem Don Pépé, mit ihrer bewaffneten Truppe von Serenos (in deren Reihen, sagte man, viele Verbrecher und Deserteure und sogar einige Mitglieder von Hernandez' Bande Platz gefunden hatten) eine Macht im Lande. Ein gewisser hervorragender Staatsmann in Sta. Marta hatte einmal bei Erörterung des Verhaltens der Sulaco-Behörden während einer politischen Krise mit hohlem Lachen ausgerufen:

»Sie nennen diese Leute Regierungsbeamte? Die? Niemals! Sie sind Beamte der Mine – Beamte der Konzession, sage ich Ihnen.«

Der hervorragende Mann (der damals an der Macht war, ein Mensch mit zitronenfarbenem Gesicht und ganz kurzem, welligem, um nicht zu sagen wolligem Haar), der hervorragende Mann ging in seiner jähen Aufwallung so weit, seine gelbe Faust unter der Nase des Besuchers zu schütteln und dazu zu schreien:

»Jawohl! Alle! Still! Alle! Ich sage es Ihnen! Der Politische Jefe, der Polizeichef, der Zollamtsdirektor, der General, alle sind sie Beamte dieser Goulds.«

Daraufhin war in dem Ministerkabinett ein längerwährendes Murmeln erfolgt, furchtlos und beweiskräftig, wenn auch leise, und die Leidenschaft des hervorragenden Mannes hatte sich in einem zynischen Achselzucken erschöpft. Letzten Endes, schien er sagen zu wollen, hatte ja alles nichts zu bedeuten, solange der Minister selbst während seiner kurzen Amtsdauer nicht vergessen wurde. Trotzdem aber hatte der inoffizielle Agent der San Tomé-Mine während seiner Arbeit für die gute Sache doch auch böse Augenblicke, die sich in seinen Briefen an Don José Avellanos, seinen Onkel mütterlicherseits, widerspiegelten.

»Keiner dieser Bluthunde von Sta. Marta soll den Fuß in den Teil von Costaguana setzen, der diesseits der San Tomé-Brücke liegt«, pflegte Don Pépé Frau Gould zu versichern. »Außer, natürlich, als geehrter Gast – denn unser Señor Administrador ist ein tiefer Politico.« Zu Charles Gould aber, in dessen eigenem Zimmer, sagte der alte Major wohl mit einer grimmigen soldatischen Fröhlichkeit: »Wir spielen bei der Geschichte alle um unseren Kopf.«

Don José Avellanos murmelte gelegentlich: »Imperium in Imperio, Emilia, meine Seele«, mit dem Ausdruck tiefer Selbstzufriedenheit, in den sich aber, merkwürdig genug, ein gewisses Unbehagen mengte; doch das war vielleicht nur den Eingeweihten erkennbar.

Und für die Eingeweihten war es ein wundervoller Platz, dieser Salon in der Casa Gould, in dem sich der Hausherr – El Señor Administrador – gelegentlich einen Augenblick sehen ließ: älter, härter, geheimnisvoll schweigsam, mit verschärften Linien auf seinem rötlichen, englischen Gesicht von Freiluftfarbe; er stelzte auf seinen mageren Reiterbeinen durch die Türen, entweder gerade »zurück vom Gebirge« oder, mit klirrenden Sporen, die Reitpeitsche unter dem Arm, auf dem Weg »ins Gebirge«. Dann konnte man Don Pépé sehen, der in gemäßigt kriegerischer Haltung auf seinem Stuhl saß, den Llanero, der seine soldatische Heiterkeit, seine Weltkenntnis und sein für seine Stellung vollendetes Benehmen inmitten wüster Kämpfe mit seinesgleichen erworben zu haben schien; Avellanos, höflich und vertraut, den Diplomaten, unter dessen Redefertigkeit sich die Fähigkeit zu klugem und vorsichtigem Rat verbarg und der sein Geschichtswerk über Costaguana, betitelt »Fünfzig Jahre Mißwirtschaft«, jetzt der Welt zu schenken »für nicht weise hielt« (auch wenn es möglich gewesen wäre). Diese drei, und dazu Doña Emilia zwischen ihnen, zierlich, klein, feenhaft, vor dem glitzernden Teegerät; sie alle mit einem gemeinsamen Leitgedanken, einer gemeinsamen Spannung, einem stets bewußten Ziel: die Unverletzlichkeit der Mine um jeden Preis zu wahren. Und auch Kapitän Mitchell konnte man sehen, ein wenig abseits, nahe bei einem der langen Fenster; er hatte das etwas altmodische Aussehen eines gepflegten, älteren Junggesellen, etwas feierlich, in weißer Weste, wurde nicht sonderlich beachtet, merkte es aber nicht; er tappte ewig im Dunkeln und meinte doch, mitten im Leben zu stehen. Der gute Mann hatte rund dreißig Jahre seines Lebens auf der hohen See zugebracht, bevor er diesen »Landposten«, wie er es nannte, erreicht hatte, und war nun verblüfft über die Wichtigkeit der (nicht nur auf die Schiffahrt bezüglichen) Geschehnisse, die an Land vor sich gehen. Fast jedes Vorkommnis, das nur ein wenig außerhalb des Alltags lag, bezeichnete für ihn »eine Epoche« oder es war »historisch«. Manchmal allerdings konnte seine Feierlichkeit ihn nicht abhalten, betrübt das rötliche, gutgeschnittene Gesicht zu senken, das von schneeweißem, glattgeschorenem Haar und kurzem Backenbart eingerahmt war, und zu murmeln:

»Ah! Das! Das, Herr, war ein Fehler!«

Die Einlieferung des ersten Silbertransports aus der San Tomé-Mine, zur Verschiffung nach San Franzisko in einem der O. S. N. Postdampfer, hatte natürlich für Kapitän Mitchell »eine Epoche bezeichnet«. Die Barren waren in Koffer aus steifer Ochsenhaut mit geflochtenen Griffen verpackt, klein genug, um von zwei Mann getragen zu werden, und wurden von den Serenos der Mine vorsichtig etwa eine halbe Meile weit über die steilen Zickzackwege bis zum Fuß des Gebirges heruntergebracht. Dort wurden sie in zweirädrige Karren verladen, die wie geräumige Kasten mit Türen an der Rückseite aussahen und, jeder mit zwei hintereinandergespannten Mulis, unter der Bedeckung berittener und bewaffneter Serenos warteten. Don Pépé verschloß eine Tür nach der andern, und auf sein Pfeifensignal setzte sich die Wagenreihe in Bewegung, unter dem Klirren von Sporen und Karabinern, Peitschenknallen und Rasseln mit plötzlichem, dumpfem Dröhnen über die Grenzbrücke weg (»ins Land der Diebe und Bluthunde«, nannte Don Pépé diese Ausreise); Hüte wippten im ersten Dämmerlicht auf den Köpfen verhüllter Gestalten, die Winchesterbüchsen auf dem Schenkel aufgestützt hielten; Zügelhände kamen schlank und braun aus den wehenden Falten der Ponchos hervor. Die Kolonne umfuhr ein kleines Gehölz, durchquerte dann längs der Minenstraße die Lehmhütten und niedrigen Mauern von Rincon und legte auf dem Camino Real Tempo zu: die Maultiere wurden angetrieben, die Eskorte galoppierte. Don Carlos ritt allein einer Staubwolke voran, aus der undeutlich die langen Ohren von Maultieren und die wehenden, kleinen grünweißen Wimpel auftauchten, die jeder Wagen führte: erhobene Arme dazu, in einem Gewirr von Sombreros, und das weiße Blitzen spähender Augen: und Don Pépé, kaum zu erkennen in der Nachhut des donnernden Wirbels, saß steif, mit unbewegtem Gesicht, im Sattel und hob und senkte sich taktfest zum Trab eines silbergezäumten schwarzen Gauls mit Hirschhals und Hammerkopf.

Die verschlafenen Leutchen in den Lehmhütten der Weiler und den kleinen Ranchos an der Straße erkannten an dem maßlosen Getöse den Sturmangriff der San Tomé-Silber-Eskorte gegen den zerbröckelnden Stadtwall nach dem Campo zu. Sie kamen an die Türen, um die Kolonne über Stock und Stein wegflitzen zu sehen, mit dem rücksichtslosen Drauflos und der ganzen Fahrkunst einer in Stellung gehenden Feldbatterie, und der einsamen englischen Gestalt des Señor Administradors führend weit voraus.

In den Koppeln längs der Straße sprengten Pferde eine Zeitlang wild dahin; das schwere Vieh stand bis zur Brust im tiefen Grase und brüllte unruhig dem Getöse nach; ein demütiger Indianer sah vielleicht über die Schulter zurück und beeilte sich, seinen kleinen Lastesel an die Mauer zu drücken, um dem Silbertransport der San Tomé-Mine, der an die See hinunterging, den Weg freizugeben. Ein paar fröstelnde Leperos unter dem steinernen Pferd auf der Alameda murmelten untereinander »Caramba!«, wenn sie die Kolonne im Galopp in weitem Bogen um das Denkmal biegen und die leere Verfassungsstraße hinunterjagen sahen, denn die Maultiertreiber der San Tomé-Mine hielten es für den richtigen, den einzig anständigen Stil, die eben erwachende Stadt von einem Ende zum andern ohne Aufhalten zu durchrasen, als hätten sie den Teufel auf den Fersen.

Das frühe Sonnenlicht glänzte auf den zart gelben, blauen, roten Fronten der großen Häuser, deren Tore alle noch geschlossen waren und hinter deren vergitterten Fenstern sich kein Gesicht zeigte. In der ganzen Reihe der sonnigen leeren Balkone längs der Straße war nur eine einzige weiße Gestalt hoch über dem blanken Straßenpflaster zu sehen, die Gattin des Señors Administrador – die, das reiche, blonde Haar flüchtig auf dem kleinen Kopf aufgesteckt, ein Spitzengewirr um den Halsausschnitt des Morgenkleides aus Musselin, sich vorbeugte, um die Eskorte nach dem Hafen gehen zu sehen. Dem kurzen schnellen Aufblicken ihres Gatten begegnete ihr Lächeln. Dann ließ sie das Ganze mit kriegerischem Lärm unter sich vorbeiziehen und beantwortete endlich mit freundlichem Nicken den Gruß des galoppierenden Don Pépé, der sich mit steifer Ehrerbietung im Sattel neigte und den Hut bis zum Knie hinab schwenkte.

Die Reihe der verschlossenen Wagen wurde mit den Jahren immer länger, die Eskorte immer größer. Alle drei Monate flutete ein ständig anwachsender Silberstrom durch die Straßen von Sulaco, auf dem Wege nach den Kassenräumen des O. S. N. Gebäudes am Hafen, um dort die Verschiffung nach dem Norden abzuwarten. Ständig anwachsend und von ungeheurem Wert: denn wie Charles Gould einmal seiner Frau fast frohlockend sagte, war etwas Ähnliches wie der Reichtum der San Tomé-Ader bisher in der Welt nicht erhört worden. Für sie beide war jedes Vorüberziehen der Eskorte unter dem Balkon der Casa Gould wie ein neuer Sieg im Kampf für den Frieden in Sulaco.

 

Zweifellos waren Charles Goulds erste Schritte dadurch begünstigt worden, daß sie in eine verhältnismäßig friedliche Zeitspanne fielen; vielleicht auch war die Gesittung schon weiter fortgeschritten als zur Zeit der Bürgerkriege, aus denen die eiserne Zwingherrschaft Guzman Bentos »schrecklicher Erinnerung« erwachsen war. Den Zwistigkeiten zu Ende dieser Herrschaft (die durch volle fünfzehn Jahre dem Lande den Frieden erhalten hatte) fehlte gewiß nicht die sinnlose Torheit und ein Unmaß an Grausamkeit und Leiden, doch wiesen sie bei weitem nicht den blinden Blutdurst und den politischen Fanatismus früherer Zeiten auf; alles war gemeiner, niedriger, verächtlicher und unendlich lenkbarer infolge der ganz offenbar zynischen Beweggründe. Es lief auf ein schamloses Geraufe um eine ständig abnehmende Beute hinaus; denn jeder Unternehmungsgeist im Lande war in der törichtsten Weise erstickt worden. So konnte es geschehen, daß die Provinz Sulaco, einst die Walstatt blutigster Parteihändel, gewissermaßen zur begehrten Belohnung für politische Verdienste wurde. Die Großen der Erde (in Sta. Marta) sparten die Posten in dem alten Westlichen Staat für ihre nächsten und liebsten Anhänger auf: Neffen, Brüder, Gatten von Lieblingsschwestern, Busenfreunde, treue Gefolgsleute, oder für wichtige Parteigänger, vor denen sie vielleicht Angst hatten. Es war die gesegnete Provinz der großen Möglichkeiten und der höchsten Gehälter, denn die San Tomé-Mine hatte ihre eigene, nichtamtliche Gehaltsliste, deren einzelne Posten und Gesamtbetrag, in gemeinsamer Beratung von Charles Gould und Señior Avellanos festgesetzt, einem bedeutenden Geschäftsmann in den Vereinigten Staaten bekannt waren, der in jedem Monat etwa zwanzig Minuten lang den Angelegenheiten von Sulaco seine ungeteilte Aufmerksamkeit widmete. Zugleich bildeten sich auch in jenem Teil der Republik, unter dem stärkenden Einfluß der San Tomé-Mine, in aller Stille neue materielle Interessen heraus. So galt es zum Beispiel in den politischen Kreisen der Hauptstadt als ausgemacht, daß die Stellung eines Finanzamtspräsidenten in Sulaco die Vorstufe zum Finanzministerium bildete und daß das gleiche auch für andere Ämter galt; andererseits war die Geschäftswelt der Republik dahin gelangt, die Westliche Provinz als das gelobte Land der Sicherheit anzusehen, besonders, wenn man es verstand, mit der Verwaltung der Mine auf guten Fuß zu kommen. »Charles Gould – ausgezeichneter Mensch! Unerläßlich nötig, sich seiner zu versichern, bevor Sie einen einzigen Schritt tun; versuchen Sie eine Empfehlung an ihn von Morago zu bekommen – dem Agenten des Königs von Sulaco, Sie wissen doch.«

Kein Wunder also, daß Sir John, als er aus Europa gekommen war, um das Feld für seine Eisenbahn zu ebnen, auf Schritt und Tritt auf den Namen (und sogar den Spitznamen) von Charles Gould gestoßen war.

Der Agent der San Tomé-Mine in Sta. Marta (Sir John fand ihn liebenswürdig und gut unterrichtet) hatte unbestreitbar so viel dazu getan, um die Präsidentenreise zustande zu bringen, daß Sir John zu glauben begann, es könnte etwas Wahres an den geflüsterten Gerüchten sein, die von einem ungeheuren, geheimen Einfluß der Gould-Konzession wissen wollten. Dies Geflüster lief unter anderm darauf hinaus, daß die San Tomé-Mine, zum Teil wenigstens, die letzte Revolution finanziert habe, in deren Folge Don Vincente Ribiera, ein Mann von Bildung und untadeligem Charakter, für fünf Jahre zum Diktator gewählt und von den besten Elementen im Staate mit einer allgemeinen Umgestaltung betraut worden war. Ernste, gut unterrichtete Leute schienen daran zu glauben und auf bessere Zeiten, auf die Wiederkehr von Treu und Glauben, Gesetz und Ordnung im öffentlichen Leben zu hoffen. Um so besser, dachte Sir John. Er arbeitete immer in großem Maßstab. Das Bauprojekt der Nationalen Zentralbahn umfaßte auch den Plan eines Darlehens an den Staat, sowie den einer geregelten Besiedelung der Westlichen Provinz. Treu und Glaube, Ordnung, Ehrlichkeit, Frieden waren für diesen mächtigen Aufschwung materieller Interessen dringend nötig. Jedermann, der sich dazu bekannte, hatte in Sir Johns Augen Bedeutung, besonders dann, wenn er imstande war, zu helfen. Der »König von Sulaco« hatte ihn nicht enttäuscht. Die örtlichen Schwierigkeiten waren, ganz wie es der Chefingenieur vorausgesagt hatte, vor Charles Goulds Vermittlung gewichen. Sir John war in Sulaco sehr gefeiert worden, fast so sehr wie der Präsident-Diktator, eine Tatsache, die vielleicht die sichtlich böse Laune erklären konnte, die General Montero bei dem Mittagsmahl an Bord der Juno zur Schau trug, knapp vor der Abreise des Präsidenten-Diktators und der vornehmen ausländischen Gäste in seinem Gefolge.

Der Eccellentissimo (»Die Hoffnung der ehrlichen Leute«, wie ihn Don José in einer öffentlichen Rede namens der Provinzialversammlung von Sulaco angeredet hatte) saß am Kopfende des langen Tisches; Kapitän Mitchell, geradezu glotzäugig und purpurrot im Gesicht wegen der Feierlichkeit dieses »historischen Ereignisses«, nahm als Vertreter der O. S. N. Gesellschaft in Sulaco das Fußende des Tisches ein; zu beiden Seiten saßen ihm zunächst der Kapitän des Schiffes und einige kleinere Beamte der Regierung. Diese heiteren, dunkelfarbenen Herren warfen vergnügte Seitenblicke auf die Champagnerflaschen, die hinter dem Rücken der Gäste in den Händen der Schiffsstewards zu knallen begannen. Der bernsteinfarbene Wein schäumte bis zum Rande der Gläser.

Charles Gould hatte seinen Platz neben einem fremden Gesandten, der ihm in sorglosem Ton von Hetz- und Treibjagden erzählt hatte. Das wohlgenährte, blasse Gesicht, mit Einglas und hängendem, gelbem Schnurrbart, ließ im Gegensatz den Señor Administrador doppelt sonnverbrannt, noch flammender rot und hundertmal gespannter und schweigsamer lebendig erscheinen. Don José Avellanos saß an der Seite des andren ausländischen Diplomaten, eines dunklen Mannes von ruhig beobachtendem, selbstbewußtem Benehmen und deutlicher Zurückhaltung. Da für diesen Anlaß auf alle Etikette verzichtet worden war, so war General Montero der einzige in voller Uniform. Seine breite Brust schien durch einen Panzer aus Gold geschützt, so reich wirkte die Stickerei des Waffenrocks. Sir John hatte gleich zu Beginn seinen Platz am oberen Ende verlassen, um Frau Gould zur Nachbarin haben zu können.

Der große Finanzmann versuchte ihr seine Dankbarkeit für die Gastfreundschaft und die Anerkennung für ihres Gatten »ungeheuren Einfluß in diesem Landesteil« auszudrücken, als sie ihn durch ein leises »Still!« unterbrach. Der Präsident schickte sich zu einer kleinen Rede an.

Der Eccellentissimo hatte sich erhoben. Er sagte nur wenige Worte, die offenbar tief empfunden und vielleicht auch hauptsächlich für Avellanos – seinen alten Freund – bestimmt waren: über die Notwendigkeit, alle Kräfte aufzubieten, um dem Land zu dauernder Wohlfahrt zu verhelfen, das sich, wie er hoffte, nach diesem letzten Kampf zu immer reicherer Blüte entwickeln sollte.

Frau Gould hörte der weichen, etwas traurigen Stimme zu, betrachtete das runde, bebrillte Gesicht, den untersetzten, fast bis zur Bresthaftigkeit fetten Körper und bedachte dabei, daß dieser feinsinnige Mann, der, körperlich fast ein Krüppel, auf den Ruf seiner Mitbürger hin aus seiner stillen Zurückgezogenheit auf einem Schauplatz gefährlicher Kämpfe erschienen war – daß er also wohl ein Recht hatte, im Bewußtsein seines eigenen Opfers so zu sprechen. Und doch fühlte sie sich unbehaglich. Er gab mehr Gefühl als bindende Zusagen, dieser erste nicht militärische Staatsmann, den Costaguana je gekannt hatte, wie er nun, das Glas in der Hand, seine einfachen Worte von Ehrbarkeit, Frieden, Achtung vor dem Gesetz, politischer Überzeugungstreue im Auslande und daheim sprach – den Unterlagen nationaler Ehre.

Er setzte sich wieder. Während des achtungsvoll zustimmenden Gemurmels, das der Rede folgte, hob General Montero seine schweren, müden Augenlider und ließ seinen eigenartig stumpfen Blick über die Gesichter wandern. Der hinterwäldlerische Kriegsheld der Partei, obwohl insgeheim erschüttert von all dem Glanz und der Neuheit seiner Stellung (er war nie zuvor an Bord eines Schiffes gewesen und hatte das Meer höchstens von weitem gesehen), verstand gefühlsmäßig den Vorteil, den die mürrische, ungehobelte Art eines rauhen Kriegers ihm über all diese verfeinerten Blanco-Aristokraten gab. Aber warum sah ihn niemand an, fragte er sich ärgerlich. Er war sehr wohl imstande, Zeitungen zu lesen, und wußte, daß er die »größte kriegerische Heldentat der neueren Zeit« vollbracht hatte.

»Mein Gatte wünscht die Bahn«, sagte Frau Gould zu Sir John, inmitten des Gesummes der wiedererwachenden Gespräche. »Durch all dies wird die Zukunft nähergerückt, die wir für das Land ersehnen, für das Land, das, weiß Gott, lange genug in Schmerzen darauf gewartet hat. Aber ich will gestehen, daß ich neulich, als ich während einer nachmittägigen Spazierfahrt plötzlich einen Indianerjungen mit der roten Flagge einer Vermessungsabteilung aus dem Gehölz herausreiten sah, etwas wie einen Schlag empfand. Die Zukunft bedeutet Veränderung – völlige Veränderung. Und doch gibt es auch hier einfache und malerische Dinge, die man gerne erhalten sähe.«

Sir John hörte lächelnd zu. Doch nun war die Reihe an ihm, Frau Gould zum Schweigen zu mahnen.

»General Montero will reden«, flüsterte er und fügte unmittelbar in komischem Entsetzen hinzu: »Guter Gott! er will, scheint mir, gar meine Gesundheit ausbringen!«

General Montero hatte sich unter dem Rasseln seiner Säbelscheide und dem wilden Geglitzer seiner goldgestickten Brust erhoben; über dem Tischrand wurde die schwere Säbelkoppel an seiner Seite sichtbar; in seiner phantastischen Uniform, mit dem Stiernacken, der gegen das Ende abgeflachten Hakennase über dem blauschwarzen Schnurrbart, sah er wie ein verkleideter, finsterer Vaquero aus. Seine Stimme dröhnte merkwürdig ruhig und seelenlos. Er arbeitete sich stammelnd durch einige zusammenhanglose Sätze. Dann hob er plötzlich den großen Kopf zugleich mit der Stimme und schrie hinaus:

»Die Ehre des Landes liegt bei der Armee. Ich versichere Ihnen, daß ich ihr Treue halten werde.« Er zögerte, bis seine wandernden Augen auf Sir Johns Gesicht trafen, auf das er einen lauernden, schläfrigen Blick heftete. Die Ziffer der kürzlich festgelegten Anleihe schoß ihm durch den Kopf. Er hob sein Glas: »Ich trinke auf das Wohl des Mannes, der uns anderthalb Millionen Pfund bringt.«

Er goß seinen Champagner hinunter und setzte sich schwerfällig, mit einem halb überraschten, halb trotzigen Blick über all die Gesichter ringsum und inmitten eines tiefen, förmlich entsetzten Schweigens, das auf den so glücklich gewählten Trinkspruch folgte. Sir John regte sich nicht.

»Ich glaube nicht, daß ich verpflichtet bin, aufzustehen«, murmelte er Frau Gould zu. »Diese Geschichte spricht ja für sich selbst.« Aber Don José Avellanos kam mit einer kurzen Rede zu Hilfe, in der er Englands Wohlwollen gegen Costaguana ausdrücklich erwähnte – »ein Wohlwollen«, fuhr er bedeutsam fort, »von dem ich mit einiger Sachkenntnis sprechen darf, da ich ja seinerzeit bevollmächtigter Gesandter am Hofe von St. James war.«

Da erst hielt es Sir John für angemessen, zu antworten, und er tat es sehr liebenswürdig, in schlechtem Französisch, durch wiederholten Beifall und das »hört! hört!« von Kapitän Mitchell unterbrochen, der ab und zu ein Wort verstehen konnte. Sobald er geendet hatte, wandte sich der Eisenbahnmagnat Frau Gould zu:

»Sie hatten die Güte, mir anzukündigen, daß Sie etwas von mir verlangen wollten«, erinnerte er sie ritterlich. »Was ist es? Seien Sie überzeugt, daß ich jede Ihrer Bitten als Bevorzugung meiner Person betrachten würde.«

Sie dankte ihm mit einem strahlenden Lächeln. Die Tafel wurde aufgehoben.

»Gehen wir auf Deck«, schlug sie vor, »dort werde ich Ihnen mein Anliegen auseinandersetzen.«

Eine ungeheure Nationalflagge von Costaguana, mit roten und gelben Querstreifen und zwei grünen Palmen im Mittelfeld, wehte träge vom Großmasttopp der Juno. Rings um die Rundung des Hafenbeckens wurde zu Ehren des Präsidenten mit anhaltendem Knattern ein ungeheures Feuerwerk abgebrannt. Dann und wann zischte ein Bündel Raketen unsichtbar in die Höhe und zerknallte in der Luft, ohne daß sich an dem klaren Himmel mehr als ein kleines Rauchwölkchen zeigte. Zwischen dem Stadttor und dem Hafen konnte man Menschenhaufen sehen, unter dem Wald vielfarbiger Flaggen, die an hohen Masten wehten. Undeutliche Bruchstücke von Militärmusik klangen herüber und fernes Geschrei. Eine Gruppe zerlumpter Neger am Ende des Kais war eifrig beim Laden und Abfeuern einer kleinen eisernen Kanone. Ein blasser, staubiger Dunst hing wie ein regloser Schleier vor der Sonne.

 

Don Vincente Ribiera machte, auf den Arm des Señors Avellanos gelehnt, unter dem Sonnensegel einige Schritte: rings um ihn hatte sich ein weiter Kreis gebildet, und man konnte sehen, wie das leere Lächeln seiner dunklen Lippen und das blinde Glitzern seiner Brille liebenswürdig in die Runde wanderten. Die ungezwungene Veranstaltung, die dem Präsidenten-Diktator hatte die Gelegenheit geben sollen, mit einigen seiner hervorragendsten Anhänger in Sulaco in kleinem Kreise zusammenzutreffen, näherte sich ihrem Ende. Etwas abseits saß General Montero, der sein kahles Haupt nun mit einem federgeschmückten Dreispitz bedeckt hatte, in einem Stuhl, nahe dem Oberlicht; er hatte die Hände in mächtigen Stulphandschuhen über dem Korb seines Säbels gefaltet, der gerade zwischen seinen Knien emporstand. Der weiße Federbusch, die Kupferfarbe des breiten Gesichts, das Blauschwarz des Schnurrbarts unter dem krummen Schnabel, die Unmasse von Gold auf Ärmeln und Brust, die hohen, glänzenden Stiefel mit ungeheuren Sporen, die arbeitenden Nüstern, der dumm-hochmütige Blick des glorreichen Siegers von Rio Seco: – dies alles schuf ein beängstigendes und unglaubliches Bild; es hatte die Übertreibung einer grausamen Karikatur, die Einfalt eines feierlichen Mummenschanzes, die groteske Grausamkeit eines Kriegsgötzen, der, von Azteken ersonnen und von Europäern bekleidet, nun die Andacht der Gläubigen erwartete. Don José näherte sich mit gewinnendem Lächeln dem düsteren Mann, der wie das unerforschliche Schicksal thronte, und Frau Gould wandte endlich ihren gebannten Blick ab.

Als Charles Gould hinzutrat, um sich von Sir John zu verabschieden, hörte er ihn, während er sich über die Hand von Frau Gould beugte, sagen: »Gewiß. Selbstverständlich, meine liebe Frau Gould. Für einen ihrer Protegés! Nicht die geringste Schwierigkeit. Betrachten Sie es als geschehen.«

Während er im gleichen Boot mit den Goulds an Land zurückfuhr, war Don José Avellanos sehr schweigsam. Sogar im Wagen der Goulds sprach er lange Zeit kein Wort. Die Maultiere trotteten langsam vom Kai weg, zwischen den ausgestreckten Händen der Bettler, die für diesen Tag in geschlossenen Haufen die Kirchenportale verlassen zu haben schienen. Charles Gould saß auf dem Rücksitz und sah über die Ebene weg. Zahllose Buden aus grünen Zweigen, aus Binsen, aus Bretterresten mit Leinwandfetzen darüber, waren ringsum für den Verkauf von Zuckerrohr, Dulces, Früchten und Zigarren aufgeschlagen worden, über glimmenden Holzkohlenhäufchen kochten indianische Frauen, auf Matten kauernd, das Wasser für die Mate-Kürbisse, die sie mit demütig schmeichelnden Stimmen den Landleuten anboten; in rauchschwarzen irdenen Töpfen brodelte Essen für die Vaqueros. Eine Rennbahn war abgesteckt worden, und weit weg zur Linken drängte sich die Menge um einen hohen, schnell errichteten Bau, der wie eine hölzerne Zirkusbude mit kegeligem Grasdach aussah: von dorther klang das tiefe Schwirren der Harfensaiten, das scharfe Klimpern der Gitarren, getragen von dem dumpfen Dröhnen einer Indianertrommel, das in strengem Gleichmaß den schrillen Gesang der Tänzer durchpulste.

Charles Gould sagte unvermittelt:

»Das ganze Stück Land hier gehört nun der Eisenbahngesellschaft. Hier werden keine Volksfeste mehr abgehalten werden.«

Es betrübte Frau Gould, daran denken zu müssen. Sie benützte die Gelegenheit zu der Mitteilung, sie habe eben von Sir John das Versprechen erwirkt, das Haus des alten Giorgio Viola solle unberührt erhalten bleiben. Sie erklärte, sie habe es nie begreifen können, warum die Vermessungsingenieure überhaupt davon gesprochen hätten, das alte Haus niederzureißen. Es stand der geplanten Zweiglinie nach dem Hafen nicht im geringsten im Wege.

Sie ließ den Wagen vor der Türe halten, um dem alten Genuesen, der bloßhäuptig an den Wagenschlag trat, sofort die beruhigende Gewißheit zu geben. Sie sprach natürlich italienisch mit ihm, und er dankte ihr mit ruhiger Würde. Ein alter Garibaldiner wisse ihr von Herzen Dank dafür, daß sie das Dach über den Köpfen seiner Frau und seiner Kinder erhalten habe. Er sei nun zu alt, um noch länger zu wandern.

»Und ist es für immer, Signora?« fragte er.

»Für so lange, wie Sie es wollen.«

»Bene. Dann muß das Haus einen Namen haben. Bisher schien es nicht der Mühe wert.«

Er lächelte trübe, wobei um seine Augenwinkel eine Unmenge Runzeln zusammenliefen. »Ich will mich morgen daranmachen, den neuen Namen zu malen.«

»Und wie soll das Haus heißen, Giorgio?«

»Albergo d'Italia Una«, sagte der alte Garibaldiner und sah einen Augenblick lang zur Seite. »Mehr zum Andenken an die, die ihr Leben gelassen haben«, fügte er hinzu, »als wegen des Landes, das uns Soldaten der Freiheit durch die Schliche der verwünschten Piemontesenrasse von Königen und Ministern gestohlen worden ist.«

Frau Gould lächelte ein wenig, beugte sich vor und begann nach seiner Frau und den Kindern zu fragen. Er hatte sie an dem Tage in die Stadt geschickt. Die Gesundheit der Padrona war nun besser; vielen Dank der Signora für die Nachfrage.

Leute gingen zu zweit und zu dritt vorbei, ganze Haufen von Männern und Frauen, von trippelnden Kindern gefolgt. Ein Reiter auf silbergrauer Stute hielt ruhig im Schatten des Hauses an, nachdem er vor der Gesellschaft im Wagen, die ihm mit Lächeln und vertraulichem Nicken dankte, den Hut gezogen hatte. Der alte Viola, offenbar sehr erfreut über die eben gehörte Neuigkeit, unterbrach sich einen Augenblick, um ihm mitzuteilen, daß durch die Güte der englischen Signora das Haus gerettet war, solange er es zu behalten wünschte. Der andere hörte aufmerksam zu, gab aber keine Antwort.

Als der Wagen anfuhr, zog er abermals den Hut, einen grauen Sombrero mit Silberschnur und Quasten. Die grellen Farben eines mexikanischen Serape leuchteten vom Sattelknopf; die riesigen Silberknöpfe an der gestickten Lederjacke, die Reihen glitzernder Silberknöpfe am Saum der Reithose, das schneeweiße Leinen, eine Seidenschärpe mit gestickten Enden, der Silberbeschlag am Kopfgestell und Sattelzeug verkündeten deutlich genug die unerreichbare Prunkliebe des berühmten Capataz de Cargadores, eines mittelländischen Seemanns – der sich prächtiger trug, als es einem der reichen jungen Rancheros aus dem Campo selbst an hohen Festtagen beifallen konnte.

»Dies ist eine große Sache für mich!« murmelte der alte Giorgio und dachte dabei immer noch an das Haus, denn nun war er des Wechselns müde geworden. »Die Signora hat dem Engländer nur ein Wort gesagt.«

»Dem alten Engländer, der Geld genug hat, um eine Eisenbahn zu bezahlen? Er fährt in einer Stunde ab«, bemerkte Nostromo leichthin. »Buon viaggio also! Ich habe seinen Leichnam behütet, den ganzen Weg vom Entrada-Paß bis in die Ebene herunter und nach Sulaco herein, als wäre er mein eigener Vater gewesen.«

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