Lord Jim

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Lord Jim

Joseph Conrad

Lord Jim

© 1900 by Joseph Conrad

Erstmals erschienen 1900 unter dem Titel

Lord Jim: A Tale

Aus dem Englischen von Ernst Wolfgang Freissler 1927

© Lunata Berlin 2019

Inhalt

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel

Neunundzwanzigstes Kapitel

Dreissigstes Kapitel

Einunddreissigstes Kapitel

Zweiunddreissigstes Kapitel

Dreiunddreissigstes Kapitel

Vierunddreissigstes Kapitel

Fünfunddreissigstes Kapitel

Sechsunddreissigstes Kapitel

Siebenunddreissigstes Kapitel

Achtunddreissigstes Kapitel

Neununddreissigstes Kapitel

Vierzigstes Kapitel

Einundvierzigstes Kapitel

Zweiundvierzigstes Kapitel

Dreiundvierzigstes Kapitel

Vierundvierzigstes Kapitel

Fünfundvierzigstes Kapitel

Über den Autor

Erstes Kapitel

Es mochten ihm ein bis zwei Zoll zu sechs Fuß fehlen; er war ungewöhnlich kräftig gebaut und pflegte, den Kopf vorgestreckt, mit leicht eingezogenen Schultern und einem starren Blick von unten her schnurstracks auf einen loszukommen, was an einen Stier in Angriffsstellung gemahnte. Seine Stimme war tief, laut, und in seiner ganzen Art lag eine gewisse knurrige Selbstbehauptung, die doch nichts Feindseliges hatte. Sie schien notwendig zu seinem Wesen zu gehören und war offensichtlich ebensosehr gegen seine eigene Person wie gegen jeden anderen gerichtet. Er war makellos sauber, vom Kopf bis zum Fuß in blendendes Weiß gekleidet, und stand in allen Häfen des Orients, wo er schon als Wasserkommis eines Schiffslieferanten seinen Unterhalt gefunden hatte, in hohem Ansehn.

Ein Wasserkommis braucht in gar keinem Fach sein Examen abzulegen, doch muß er Geschicklichkeit in abstracto besitzen und sie praktisch beweisen können. Seine Arbeit besteht darin, andern Wasserkommis unter Segel, Dampf oder Ruder den Rang abzulaufen, wenn ein Schiff vor Anker gehen will, den Kapitän freudig zu begrüßen, indem er ihm eine Karte aufzwingt – die Geschäftskarte des Schiffslieferanten – und ihn bei seinem ersten Besuch an Land bestimmt, doch unauffällig, in einen umfangreichen, höhlenartigen Laden zu steuern, der alles enthält, was an Bord gegessen und getrunken wird, wo man alles bekommen kann, um das Schiff seetüchtig und schön zu machen, von einem Satz Kettenhaken für das Ankertau bis zu einem Heft Blattgold für das Schnitzwerk des Hecks, und wo der Kapitän von einem Schiffslieferanten, den er nie zuvor gesehen hat, wie ein Bruder aufgenommen wird. Da harren seiner ein behagliches Wohnzimmer, Fauteuils, Flaschen, Zigarren, Schreibzeug, die Statuten für den Hafenverkehr und eine Wärme der Begrüßung, die danach angetan ist, das Salz einer dreimonatigen Seefahrt aus dem Herzen eines Seemanns herauszuschmelzen. Die so begonnene Bekanntschaft wird, solange das Schiff im Hafen bleibt, durch die täglichen Besuche des Wasserkommis aufrechterhalten. Dieser bringt dem Kapitän die Treue eines Freundes, die Fürsorglichkeit eines Sohnes, die Geduld eines Hiob, die selbstlose Hingabe einer Frau und die fröhliche Stimmung eines Zechkumpans entgegen. Nach einiger Zeit kommt die Rechnung. Kurzum: es ist ein schöner, menschlicher Beruf. Daher sind gute Wasserkommis selten. Wenn ein Wasserkommis, der die Geschicklichkeit in abstracto besitzt, noch dazu den Vorzug hat, für die See herangebildet zu sein, dann wiegt ihn sein Dienstherr mit Gold auf und behandelt ihn mit großer Rücksicht. Jim bekam stets hohe Löhne und erfuhr so viel Rücksichtnahme, daß ein Stein sich davon hätte erweichen lassen. Trotzdem konnte er mit schwarzem Undank plötzlich alles hinwerfen und auf und davon gehen. Die Gründe, die er seinem jeweiligen Dienstherrn angab, waren keineswegs stichhaltig. Sie sagten »verflixter Narr«, sobald er ihnen den Rücken kehrte. Dies war ihr Urteil über seine hochgradige Empfindlichkeit.

Für die Weißen im Küstenhandel und die Schiffskapitäne war er schlankweg Jim – weiter nichts. Er hatte selbstverständlich noch einen andern Namen, doch war er ängstlich darauf bedacht, daß man ihn nicht aussprach. Sein Inkognito, das so löcherig war wie ein Sieb, sollte keine Persönlichkeit, sondern eine Tatsache verbergen. Wenn die Tatsache durch das Inkognito hindurchschimmerte, verließ er schleunigst den Seehafen, in dem er sich gerade befand, und ging nach einem andern – gewöhnlich weiter nach Osten. Er blieb in den Seehäfen, weil er ein Seemann war, der von der See verbannt war und die Geschicklichkeit in abstracto besaß, die für keinen andern als für einen Wasserkommis taugt. Er nahm seinen geordneten Rückzug der aufgehenden Sonne entgegen, und die Tatsache folgte ihm von ungefähr, doch unvermeidlich. So sah man ihn im Lauf der Jahre hintereinander in Bombay, Kalkutta, Rangun, Penang und Batavia – und in jedem dieser Anlegeplätze war er schlankweg Jim, der Wasserkommis. Späterhin, als ihn sein brennendes Gefühl für das Nicht-zu-Ertragende ein für allemal aus den Seehäfen und fort von den Weißen bis in den Urwald hinein trieb, fügten die Malaien des Dschungeldorfs, das er sich zum Versteck für seine beklagenswerte Anlage ausgesucht hatte, noch ein Wort zu dem Einsilber seines Inkognitos hinzu. Sie nannten ihn Tuan Jim, was soviel heißt wie Lord Jim.

Er stammte aus einem Pfarrhaus. Viele Befehlshaber großer Handelsschiffe stammen aus diesen Stätten der Frömmigkeit und des Friedens. Jims Vater besaß jene gewisse Kenntnis des Unerforschlichen, die sich besonders mit der Redlichkeit der Armen befaßt und die Gemütsruhe jener nicht stört, die eine unfehlbare Vorsehung in den Stand gesetzt hat, in Herrenhäusern zu wohnen. Die kleine Kirche auf einem Hügel war wie ein moosbewachsener, altersgrauer Fels, der durch eine zerrissene Blätterwand schimmert. Sie stand da seit Jahrhunderten, doch die Bäume, die sie umgaben, waren wohl schon Zeugen gewesen, als ihr Grundstein gelegt wurde. Unterhalb leuchtete die rote Fassade des Pfarrhauses mit warme Tönung mitten aus den Rasenplätzen, Blumenbeeten und Tannen hervor, mit einem Obstgarten an der Rückseite, einem gepflasterten Hof zur Linken und den schrägen Glasdächern der Treibhäuser, die sich längs der Backsteinmauer hinzogen. Der Wohnsitz hatte seit Generationen der Familie gehört; doch Jim war einer von fünf Söhnen, und als sich einmal nach einer Ferienzeit, während deren er sich mit Seegeschichten vollgepfropft hatte, seine Neigung zum Seemannsberuf offenbarte, tat man ihn sofort auf ein Schulschiff für Offiziere der Handelsmarine.

 

Er lernte dort ein wenig Trigonometrie und Bramrahen kaien. Er war allgemein beliebt. Er war Dritter in Schiffahrtskunde und Vormann im ersten Kutter. Da er einen ruhigen Kopf hatte und gut gebaut war, so war er sehr tüchtig in der Takelung. Sein Platz war auf dem Vormars, und oft blickte er von da mit der Verachtung eines Mannes, der bestimmt ist, sich in Gefahren auszuzeichnen, auf die friedlichen Dächer der Häuser hinab, die von der braunen Flut des Stromes durchschnitten wurden, während am Rande der umliegenden Ebene die Fabrikschlote senkrecht und schlank wie Stifte in den Himmel ragten und gleich Vulkanen ihren Rauch ausspien. Er konnte die großen Schiffe in See stechen, die wuchtigen Fähren auf und nieder fahren und tief unter sich die kleinen Boote dahingleiten sehen, während in der Ferne der dunstige Glanz der See winkte und die Hoffnung auf ein bewegtes Leben in der Welt der Abenteuer.

Auf dem Unterdeck, im Gewirr von zweihundert Stimmen, vergaß er sich selbst und genoß im Geiste im voraus das Seemannsleben, wie es sich in der Unterhaltungslektüre darstellt. Er sah sich auf untergehenden Schiffen Menschen das Leben retten, während eines Orkans die Masten kappen, mit einem dünnen Seil durch die Brandung schwimmen oder als einsamen Schiffbrüchigen barfuß und halbnackt auf den bloßen Riffen Schaltiere suchen, um dem Hungertode zu entgehen. Er maß sich mit den Wilden an den Tropenküsten im Kampf, machte Meutereien, die auf hoher See ausbrachen, ein Ende und richtete Verzweifelte auf, die er in einem kleinen Boot durch den Ozean ruderte – jederzeit ein Beispiel aufopfernder Pflichttreue und so unentwegt wie ein Held im Buch.

»Es ist etwas los! Rasch auf Deck!«

Er sprang auf die Füße. Die Schiffsjungen stürmten die Leitern hinauf. Oben hörte man ein furchtbares Getöse und Geschrei, und als er durch den Lukenweg hinaufkam, blieb er stehen – wie betäubt.

Es war die Dämmerung eines Wintertages. Der Sturm, der seit Mittag angewachsen war, hatte den Verkehr auf dem Fluß ins Stocken gebracht und tobte nun mit der Gewalt eines Orkans in stoßweisen Ausbrüchen, die wie schwere Geschützsalven über das Wasser donnerten. Der Regen ergoß sich in schrägen, klatschenden Strömen, und durch ihn hindurch sah Jim ab und zu die wilde, hochgehende Flut, das kleine Fahrzeug, das am Ufer hin und her geworfen wurde, die im ziehenden Nebel reglos dastehenden Gebäude, die großen verankerten Fähren, die schwer ans Ufer schlugen, die riesenhaften, von Güssen überfluteten, auf und nieder schaukelnden Landungsbrücken. Der nächste Schwall schien alles wegzublasen. Die Luft war voll Wasserstaub. Im schrillen Pfeifen des Windes, im rasenden Aufruhr des Himmels und der Erde lag etwas wie eine finstere Absicht, ein grimmiger Ernst, der sich gegen ihn zu richten schien und ihm den Atem in der Kehle zusammenpreßte. Er stand ganz still, doch mit einem Gefühl, als würde er im Kreise herumgewirbelt.

Man stieß ihn an. »Den Kutter bemannen!« Schiffsjungen stürmten an ihm vorbei. Ein Küstenfahrer, der sich unter Land retten wollte, war gegen einen vor Anker liegenden Schoner angerannt, und einer der Lehrer des Schulschiffs hatte den Unfall bemerkt. Ein Rudel Jungen kletterte an der Reling, hing in Klumpen um die Davits herum. »Zusammenstoß! Dicht vor uns. Herr Symons hat es gesehen!« Ein Stoß ließ ihn gegen den Besanmast stolpern. Er hielt sich an einem Tau fest. Das alte Schulschiff, das auf seinen Vertäuungen lag, bebte in allen Flanken. Sacht neigte es den Bug gegen den Wind, und sein spärliches Takelwerk summte in tiefem Baß das ächzende Lied von seiner Jugend zur See. »Boot niederlassen!« Er sah das Boot, bemannt, unverzüglich an der Reling hinuntergleiten und wollte ihm nach. Ein Klatschen scholl herauf. »Zurück! Werft die Fangleine los!« Er beugte sich vor. Längsseit brodelte der Fluß in schäumenden Streifen. In der sinkenden Dunkelheit lag der Kutter einen Augenblick wie gebannt unter dem Druck von Flut und Wind und schaukelte Seite an Seite neben dem Schiff. Ein gellender Ruf drang schwach bis zu ihm. »Takt halten, junge Brut, wenn ihr jemand retten wollt! Takt halten!« Und plötzlich hob sich der Bug des Boots, und es sprang, mit Riemen hoch, über einen Kamm, von dem Bann befreit, in dem Wind und Flut es gehalten hatten.

Jim fühlte einen festen Griff an seiner Schulter. »Zu spät, mein Junge!« Der Kapitän des Schiffs hielt den Knaben zurück, der im Begriffe schien, über Bord zu springen. Jim blickte auf, im schmerzlichen Bewußtsein einer Niederlage. Der Kapitän lächelte verständnisvoll. »Das nächste Mal wird es besser glücken. Dies wird dich lehren, rasch bei der Hand zu sein.«

Ein gellendes Hurra begrüßte den Kutter. Er kam tanzend zurück, bis zur Hälfte mit Wasser gefüllt, das um zwei halbtote, auf dem Boden liegende Männer spülte. Nunmehr kamen Jim der Tumult und die Drohung von Wind und See recht verächtlich vor, und sein Verdruß über das eigene Grauen vor ihren leeren Schrecknissen steigerte sich noch. Er wußte jetzt, was er davon zu halten hatte. Es schien ihm, daß er sich nichts aus dem Sturm machte. Er konnte größeren Gefahren trotzen. Und er wollte es tun – besser als jeder andere. Kein Tüttelchen Furcht war mehr übrig. Nichtsdestoweniger hielt er sich an diesem Abend in finsterem Brüten abseits, während der Buggast des Kutters, ein Knabe mit einem Mädchengesicht und großen grauen Augen, der Held des Unterdecks war. Neugierige Frager umdrängten ihn. Er erzählte: »Ich sah gerade noch seinen Kopf auftauchen und warf meinen Bootshaken ins Wasser. Der blieb in seinen Hosen sitzen, und ich wäre beinahe über Bord gegangen, wie ich mir's gleich gedacht hatte, doch der alte Symons ließ die Ruderpinne los und packte meine Beine. Das Boot schlug beinahe voll. Der alte Symons ist ein Prachtkerl. Ich verüble es ihm gar nicht, daß er uns manchmal anschnauzt. Er schimpfte fortwährend mit mir, während er mein Bein hielt, aber das war nur so seine Art, mir zu sagen, daß ich den Bootshaken nicht loslassen sollte. Der alte Symons ist schrecklich reizbar – nicht wahr? – Nein – nicht der kleine Blonde –, der andere, der Große mit dem Bart. Als wir ihn ins Boot hereinzogen, stöhnte er: ›Oh, mein Bein! oh, mein Bein!‹ und verdrehte die Augen. Unglaublich! Ein so großer Kerl fällt in Ohnmacht wie ein Mädchen! Würde einer von euch wegen eines Kratzers mit einem Bootshaken in Ohnmacht fallen? – Ich sicher nicht! Der Haken drang in sein Bein, so tief!« Er zeigte den Bootshaken, den er zu dem Zweck heruntergebracht hatte, und erzielte großen Eindruck damit. »Nicht doch, wie dumm! Er war doch nicht in sein Fleisch eingehakt, sondern in seine Hosen. Natürlich verlor er eine Menge Blut.«

Jim erschien dies als eine jämmerliche Prahlerei. Der Sturm hatte einem Heroismus zur Entfaltung verholfen, der ebenso nichtig war wie Jims eigene vorgebliche Schrecken. Jim zürnte dem wilden Aufruhr des Himmels und der Erde, weil er dadurch überrascht und weil seiner edlen Bereitwilligkeit, das Leben zu wagen, schnöde Halt geboten worden war. Andrerseits war er froh, nicht in den Kutter gegangen zu sein, da ja offenbar ein geringerer Grad der Vollendung ausgereicht hatte. Er war reicher an Erfahrung geworden als die andern, die die Sache ausgeführt hatten. Wenn alle zitterten, dann – das wußte er – würde er allein der nichtigen Drohung von Wind und Wellen zu trotzen wissen. Er wußte, was er davon zu halten hatte. Nüchtern betrachtet, erschien sie verächtlich. Er konnte nicht die Spur einer Erregung in sich entdecken, und das Endergebnis dieses aufregenden Vorfalls war, daß er, unbemerkt und abseits von der lärmenden Schülerschar, insgeheim frohlockte, neubestärkt in seiner Gier nach Abenteuern und im Bewußtsein vielseitigen Muts.

Zweites Kapitel

Nach zweijähriger Ausbildung ging er zur See, und als er in die Regionen eintrat, die seiner Phantasie so vertraut waren, fand er sie seltsam leer und unfruchtbar an Abenteuern. Er machte viele Seereisen. Er lernte die zauberhafte Eintönigkeit des Daseins zwischen Himmel und Wasser kennen; er hatte die Kritik der Menschen, die Anforderungen des Meeres und die prosaische Strenge des Tagewerks zu ertragen, das einem wohl Brot gibt – dessen einziger wirklicher Lohn aber in der vollkommenen Liebe zur Arbeit besteht. Dieser Lohn blieb aus. Dennoch konnte Jim nicht zurück, weil es nichts gibt, was verlockender ist, was mehr enttäuscht und zum Sklaven macht als das Leben zur See. überdies waren seine Aussichten gut. Er hatte gute Manieren, war zuverlässig, umgänglich und war sich in hohem Grade seiner Verantwortlichkeit bewußt; und in noch recht jungen Jahren wurde er Erster Offizier auf einem großen Schiff, ohne daß er sich je vorher bei Vorfällen bewährt hätte, die erst den inneren Wert eines Mannes, seinen wahren Kern und Halt, bei Tageslicht zeigen und nicht bloß vor andern, sondern auch vor dem eigenen Selbst den Grad der Widerstandskraft und die geheime Berechtigung des Eigendünkels dartun. Nur ein einziges Mal in der ganzen Zeit hatte er wieder einen flüchtigen Eindruck von dem Ernst, der im Zürnen des Meeres waltet. Diese Wahrheit wird einem nicht so häufig offenbar, wie man leichthin glauben möchte. Die Gefahren der Abenteuer und Stürme sind reich an Schattierungen, und nur ab und zu erscheint auf dem Antlitz der Ereignisse jener schicksalsvolle Zug gewaltsamer Absicht, jenes unbeschreibliche Etwas, das dem Menschen die Überzeugung aufzwingt, es läge in der Verkettung der Zufälligkeiten, dem Rasen der Elemente etwas Bösartiges, das auf ihn abziele, um mit einer Wucht ohnegleichen, einer maßlosen Grausamkeit alles Hoffen und Bangen, jedes Sehnen und Wünschen aus seinem Herzen zu tilgen; alles, was er gekannt, geliebt, genossen oder gehaßt hat, was unschätzbar und notwendig ist – den Sonnenschein, die Erinnerungen, die Zukunft—, zu zerschmettern, zu zerstören, auszulöschen; einfach dadurch, daß es ihm das Leben nimmt, diese ganze kostbare Welt seinen Augen zu entrücken.

Jim, der zu Anfang einer Woche, von der sein schottischer Kapitän späterhin immer sagte: »Mensch, es ist mir ganz unbegreiflich, wie wir da durchgekommen sind!« von einer herunterfallenden Spiere dienstunfähig gemacht worden war, verbrachte viele Tage auf dem Rücken ausgestreckt, betäubt, zerschlagen, mutlos und gepeinigt, wie in einen Abgrund der Unrast versunken. Das Ende kümmerte ihn nicht, und in seinen klaren Augenblicken überschätzte er seine Gleichgültigkeit. Die Gefahr hat, wenn man sie nicht mit Augen sieht, die ganze Unbestimmtheit des menschlichen Gedankens. Die Furcht wird wesenlos; und die Phantasie, die Erzeugerin aller Schrecknisse und den Menschen feind, sinkt, wenn sie nicht wachgehalten wird, in der Öde zusammen, die die Erschöpfung verbreitet. Jim sah nichts als die Unordnung in seiner durchgeschüttelten Kabine. Er lag da, eingeschient, inmitten des Durcheinanders seiner engen Umgebung, und war insgeheim froh, daß er nicht auf Deck zu gehen brauchte. Aber zuweilen schnürte ihn ein unerklärliches Angstgefühl zusammen, daß er nach Luft schnappte und sich unter seinen Decken hin und her wälzte; und dann erfüllte ihn die sinnlose Qual, die ihm diese Vergewaltigung verursachte, mit dem verzweifelten Wunsch, um jeden Preis zu entkommen. Endlich kam wieder schönes Wetter, und er dachte nicht mehr daran.

Seine Lahmheit dauerte jedoch fort, und als das Schiff einen Hafen des Ostens anlief, mußte er sich in ein Hospital begeben. Seine Genesung ging langsam vonstatten, und er wurde zurückgelassen.

Außer ihm waren nur noch zwei Kranke in dem Spital für Weiße: der Zahlmeister eines Kanonenboots, der eine Lukenleiter hinuntergefallen war und sich dabei den Fuß gebrochen hatte, und eine Art Eisenbahnunternehmer aus einer benachbarten Provinz, der von einer geheimnisvollen Tropenkrankheit befallen war, den Doktor für einen Esel hielt und hinter dessen Rücken Geheimmittel nahm, die sein tamilischer Diener ihm mit unermüdlicher Ergebenheit verschaffte. Sie erzählten sich gegenseitig ihre Lebensgeschichten, spielten ein bißchen Karten oder lagen gähnend und in Pyjamas den Tag über im Lehnstuhl, ohne ein Wort zu reden. Das Spital stand auf einem Hügel, und eine sanfte Brise, die durch das stets weitgeöffnete Fenster hereinwehte, trug den milden Glanz des Himmels, die schmachtende Trägheit der Erde, den bestrickenden Hauch der Gewässer des Orients in den kahlen Raum. Da waren Wohlgerüche, die der Seele ein Gefühl unbegrenzten Ausruhens gaben, sie in endlose Träumereien einspannen. Jim blickte Tag für Tag über die dichten Gebüsche der Gärten jenseits der Dächer der Stadt, über die Palmenwedel am Ufer hinweg auf die Reede, die eine Durchfahrt zum Osten bildet – die Reede mit ihren grünumrankten, von Sonnenschein strahlenden Inselchen, ihren kleinen, spielzeugartigen Schiffen, ihrer glitzernden Bewegtheit, die einem Festtagsaufzug glich, in der ewigen Bläue des morgenländischen Himmels und dem lächelnden Frieden der morgenländischen Meere, die, so weit das Auge reichte, den Raum beherrschten.

 

Sobald er ohne Stock gehen konnte, machte er sich in die Stadt auf, um ein Schiff nach der Heimat zu erkunden. Es war gerade keines da, und während des Wartens verkehrte er natürlich mit seinen Berufsgenossen im Hafen. Die waren von zweierlei Art. Die einen, gering an Zahl und nur selten zu sehen, führten ein geheimnisvolles Dasein, hatten sich eine ungeschwächte Tatkraft, das rasche Temperament von Freibeutern bewahrt und die Augen von Träumern. Sie schienen in einem wirren Durcheinander von Plänen, Hoffnungen, Gefahren und Unternehmungen zu leben, in den dunklen Schlupfwinkeln der See, abseits der Zivilisation, und ihr Tod war das einzige Ereignis ihres phantastischen Daseins, dessen Eintreffen mit einiger Bestimmtheit anzunehmen war. Die meisten waren, gleich ihm, durch irgendein Mißgeschick dorthin verschlagen worden und dann als Offiziere von Küstenfahrern dort geblieben. Sie hatten nun ein Grauen vor dem heimischen Dienst mit seinen härteren Bedingungen, seiner strengeren Pflichtauffassung und den Fährnissen der stürmischen See. Sie waren auf den ewigen Frieden des morgenländischen Himmels und Meeres gestimmt. Sie liebten kurze Fahrten, bequeme Deckstühle, zahlreiche Mannschaften von Eingeborenen und den Genuß des Vorzugs, der weißen Rasse anzugehören. Sie schauderten bei dem Gedanken an schwere Arbeit, wollten lieber ein leichtes, wenn auch unsicheres Leben führen, immer auf dem Sprung, entlassen zu werden; dienten Chinesen, Arabern, Mischlingen und hätten dem Teufel gedient, wenn er ihnen das Leben leicht gemacht hätte. Sie sprachen unaufhörlich von Glückszufällen: wie der und der das Kommando auf einem chinesischen Küstenfahrer bekommen hätte – eine feine Sache; wie jener irgendwo in Japan einen leichten Posten habe und ein anderer sein gutes Fortkommen in der siamesischen Marine fände; und in allem, was sie sagten, in ihren Handlungen, ihren Blicken, ihrer Erscheinung entdeckte man die weiche Stelle, den faulen Fleck, das Bemühen, sich ohne Anstrengung und Gefahr durchs Leben hindurchzuwinden.

Jim fand diese Schar von Schwatzbrüdern anfangs, wenn er sie als Seeleute betrachtete, so wesenlos wie Schatten. Mit der Zeit aber fand er etwas Anziehendes im Anblick dieser Männer, denen es bei so geringem Aufwand an Mut und Kraft doch anscheinend so gut ging. Allmählich kam neben der ursprünglichen Verachtung ein anderes Gefühl hoch; und plötzlich gab er den Plan, nach Hause zurückzukehren, auf und nahm einen Posten als Erster Offizier der Patna an.

Die Patna war ein Lokaldampfer, so alt wie die Berge, so dürr wie ein Windhund und so rostzerfressen wie ein ausgemusterter Wassertank. Sie gehörte einem Chinesen, war von einem Araber gechartert und von einem Deutschen aus Neusüdwales, einer Art Überläufer, befehligt, der sehr darauf erpicht war, sein Geburtsland öffentlich zu verfluchen, dabei aber, wahrscheinlich kraft Bismarcks siegreicher Politik, gegen alle, die er nicht fürchtete, den Herrn herauskehrte und eine Berserkermiene zur Schau trug zugleich mit einer purpurroten Nase und einem roten Schnurrbart. Nachdem die Patna außen frisch bemalt und innen weiß getüncht worden war, bekam sie ungefähr achthundert Pilger (es können mehr oder weniger gewesen sein) an Bord, während sie schnaubend an einem hölzernen Landungssteg lag.

Sie strömten über drei Laufplanken an Bord, strömten herein, getrieben vom Glauben und der Hoffnung aufs Paradies, strömten herein mit dem ununterbrochenen Trappeln und Schlurren ihrer bloßen Füße, ohne ein Wort, ein Gemurmel oder einen Rückblick, und verbreiteten sich, als das abschließende Geländer weggenommen war, über das ganze Deck, fluteten nach vorn und achtern, überfluteten die gähnenden Niedergänge, füllten die inneren Schlupfwinkel des Schiffs – wie Wasser eine Zisterne füllt, wie Wasser, das in alle Spalten und Risse dringt, wie Wasser, das lautlos bis zu Deckhöhe steigt. Achthundert Männer und Frauen mit ihrem Glauben und ihren Hoffnungen, ihrer Liebe und ihren Erinnerungen hatten sich da gesammelt, zusammengeweht aus Nord und Süd und von den äußersten Grenzen des Ostens; nachdem sie durch die Dschungel gewatet, die Flüsse herunter, in Praus das Flachwasser der Küsten entlang gefahren, in kleinen Borkenkähnen von Insel zu Insel übergesetzt, durch Leiden hindurchgegangen waren, seltsame Schauspiele erblickt und seltsame Schrecken durchlebt hatten, von einer einzigen Sehnsucht aufrechterhalten. Sie kamen aus einzelstehenden Hütten in der Wildnis, aus volkreichen malaiischen Ansiedlungen, aus Dörfern am Meer. Dem Ruf einer Idee folgend, hatten sie ihre Wälder, ihre Lichtungen, den Schutz ihrer Herrscher, ihren Wohlstand, ihre Armut, die Welt ihrer Jugend und die Gräber ihrer Väter verlassen. Sie kamen mit Staub, Schweiß, Schmutz bedeckt, die starken Männer an der Spitze von Familienverbänden, die hageren Alten vorwärtsdrängend, ohne Hoffnung auf Wiederkehr; Knaben mit furchtlosen Augen, die neugierig um sich blickten; scheue kleine Mädchen mit zerzaustem langem Haar; schüchterne, eingemummte Frauen, die ihre schlafenden Säuglinge, die unbewußten Pilger eines gebieterischen Glaubens, in die schmutzigen Enden ihrer Kopftücher eingewickelt, an ihrer Brust hielten.

»Da, sehen Sie sich das Viehzeug an!« sagte der deutsche Kapitän zu seinem neuen Ersten Offizier.

Ein Araber, der Anführer dieser frommen Pilgerfahrt, kam zuletzt. Er schritt langsam an Bord, schön und ernst in seinem weißen Gewand und dem großen Turban. Ein Rudel Diener, mit seinem Gepäck beladen, folgte; die Patna machte los und stieß vom Landungssteg ab.

Sie nahm ihren Kurs auf zwei kleine Inselchen, kreuzte den Ankergrund einiger Segelschiffe, beschrieb einen Halbkreis im Schatten eines Vorgebirges und fuhr dann dicht an einer Kette schaumbedeckter Riffe entlang. Der Araber erhob sich achtern und sprach laut das Gebet der Reisenden auf See. Er erflehte die Gnade des Höchsten für diese Reise, seinen Segen für die harte Fron der Menschen und ihre geheimen Ziele. Der Dampfer durchpflügte in der Dämmerung schwerfällig das stille Wasser der Meerenge; und weit achteraus schien ein Leuchtfeuer, das Ungläubige an einer gefährlichen Untiefe errichtet hatten, mit seinem Flammenauge dem Pilgerschiff zuzuzwinkern, als wollte es der frommen Reise spotten.

Das Schiff lief aus der Meerenge hinaus, kreuzte die Bai und hielt geradewegs auf das Rote Meer zu, unter einem heiteren, wolkenlosen, sengenden Himmel, in eine Sonnenglut gehüllt, die jeden Gedanken tötete, sich schwer aufs Herz legte, jede Regung von Kraft und Tatfreude erstickte. Und unter dem tödlichen Glanz dieses Himmels blieb die See blau, tief und still, ohne Regung, ohne ein Wellchen – dickflüssig, stockend, ohne Leben. Die Patna fuhr mit leisem Zischen über die glatte, glänzende Fläche, entrollte am Himmel ein schwarzes Band von Rauch und hinterließ auf dem Wasser ein weißes Band von Schaum, das sofort wieder verging, wie das Phantom einer Spur, auf leblosem Meer von dem Phantom eines Dampfers gezogen.

Jeden Morgen tauchte die Sonne mit ihrer stumm ausbrechenden Lichtflut genau an derselben Stelle hinter dem Schiff empor, als wollte sie in ihrer Reise mit der Pilgerfahrt Schritt halten; stand am Mittag über dem Schiff und schüttete das gesammelte Feuer ihrer Strahlen auf die frommen Vorsätze der Menschen aus, glitt im Niedergehen daran vorbei und sank Abend für Abend geheimnisvoll ins Meer, immer in der gleichen Entfernung von dem vorwärtsstrebenden Bug. Die fünf Weißen lebten an Bord mittschiffs, von der Menschenfracht abgeschlossen. Das Sonnensegel breitete ein weißes Dach über das Deck vom Vorder- zum Hintersteven, und nur ein schwaches Gesumm, ein leises Gemurmel verriet das Dasein einer Volksmenge auf der weiten Glutfläche des Ozeans. So schwanden die Tage, still, glühend, schwer, einer nach dem andern in die Vergangenheit, wie von einem immer offenen Abgrund im Kielwasser des Schiffs verschlungen. Und das Schiff zog, schwarz und qualmend, unentwegt seine Bahn, ausgedörrt von den Flammen, mit denen ein erbarmungsloser Himmel es geißelte.

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