Читать книгу: «Tatort Nordsee», страница 12

Шрифт:

22

Tanja Itzenga saß bereits in Wiard Lüpkes’ Wohnzimmer, als August an der Haustür klopfte. Wiard öffnete ihm mit einem kurzen »Moin, August«, dann gingen beide hinein. Itzenga hatte ihre Augen auf allerhand Papiere gerichtet, die vor ihr ausgebreitet auf dem Tisch lagen.

»Moin, Frau Itzenga«, grüßte August. Die Hauptkommissarin nickte ihm zu und sah ihm dabei kurz intensiv in die Augen. Ihr Blick traf August in einer Weise, die ihn für Bruchteile einer Sekunde alles vergessen ließ. Dann besann er sich, den eigentlichen Grund des Treffens ins Auge zu fassen.

»Herr Saathoff«, begann Frau Itzenga förmlich, »Herr Lüpkes und ich haben eben begonnen, über mögliche Täter einen Zusammenhang zwischen dem Schuss am Deich und anderen Dingen, die im Polder vorgefallen sind, herzustellen. Uns ist – auch nach den üblichen Recherchen in polizeilichen und anderen Informationssystemen – nichts Besonderes aufgefallen, was eine persönliche Motivation eines potenziellen Täters begründen könnte, jedenfalls eines Täters aus dem Polder oder der näheren Umgebung. Warum es gerade Lübbert Sieken erwischt hat oder erwischen sollte, bleibt völlig unklar. Nun hätte der Schuss ja auch einem von Ihnen …«, sie zeigte auf Wiard, dann auf August, »… gelten können – aber auch Sie haben keine Feinde, denen eine derartige Tat zuzutrauen wäre.«

»Ich wüsste wirklich nicht, wer es auf uns abgesehen haben könnte. Natürlich versteht man sich im Polder nicht mit allen gleich gut, aber Feinde, nein, das kann ich wirklich nicht sagen. Schon gar nicht solche, die auf mich schießen würden, das ist völlig ausgeschlossen!« Wiard nickte dazu.

August bekräftigte: »Und bei Wiard, also, Herrn Lüpkes, sehe ich das genauso. Er hat sicherlich eine gewisse Sonderstellung im Polder, er passt eben nicht so ins Raster wie die meisten anderen hier, na, das haben Sie sicher schon selbst gemerkt. Er macht nicht alles so, ›wie es sich gehört‹«, jetzt nickte Wiard erneut, »aber er wird doch akzeptiert, alle kennen ihn. Er ist aus dem Polder, das ist für die meisten entscheidend. Das kann ich wohl sagen, schließlich bin ich auch aus dem Polder und in den meisten Vereinen aktiv, kenne die Polderbewohner, da redet man natürlich mit- und übereinander.«

»Meine Mitarbeiter haben bei Ihnen auch keine besonders schwerwiegenden finanziellen oder andersartige Schwierigkeiten feststellen können, trotz Ihrer immensen Kredite«, begann die Hauptkommissarin wieder, wurde aber von August unterbrochen:

»Woher wissen Sie von meinen Krediten?«

»Herr Saathoff, wir leben im Zeitalter des Internets und der digitalen Erfassung und Kontrolle von Personen – da gehen Recherchen entsprechend schnell. Mit den neuen Gesetzen zur inneren Sicherheit ist es ein Leichtes, in kurzer Zeit viel über Sie zu erfahren, auch über Ihre Kredite. Die Bank ist schnell befragt, auch ohne Telefon und sogar außerhalb der sogenannten Dienstzeiten, die Technik macht’s möglich.«

»Der gläserne Bürger«, ergänzte Wiard, »was meinst du, wo du überall schon gespeichert bist, August, noch mal, wir wissen das alles gar nicht – es ist mehr über dich bekannt, als du dir vorstellen kannst. Und es ist ein Leichtes, deine persönlichen Daten mit weiteren Informationen zu kombinieren, beispielsweise eine Anfrage bei der Schufa zu stellen, ob du Kredite nicht zurückgezahlt hast, also finanzielle Probleme hast, die einen Banküberfall oder einen Auftragsmord begründen könnten. Und schon ist man verdächtig. Diese Art der Überwachung wird noch viel weiter ausgedehnt werden, da bin ich mir sicher.«

Tanja Itzenga stoppte Wiard: »So ungefähr jedenfalls, natürlich alles im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben.«

»Wollen wir’s hoffen, aber was heißen schon Gesetze …«

»Stellen Sie sich mal eine Polizei ohne Gesetze vor. Das würde doch ganz und gar nicht funktionieren. Aber das ist wieder ein anderes Thema. Im Grundsatz haben Sie vielleicht sogar recht.« Sie lächelte erst Wiard, dann August an. Der war nicht schnell genug, um zurückzulächeln. Es verwirrte ihn, wenn Frau Itzenga ihn ansah, aber wenn sie dann noch lächelte …

»Darüber hinaus gibt es Software, die aus all den Informationen sogenannte Muster ermittelt, also die Personen kategorisiert, in Klassen einteilt und so weiter. Genauso wie man mit modernen Bildverarbeitungssystemen Phantombilder produzieren kann, die oft unwahrscheinlich der gesuchten Person ähneln. Sehr hilfreich, auch nicht unumstritten, gebe ich zu, aber für uns Polizisten unentbehrlich. Es gehen wirklich zahllose Infos über jeden Bundesbürger ein – und Europol ermöglicht die europaweite Recherche in polizeilichen Datenbanken. Ohne diese Hilfsmittel der Informatik wären wir heute völlig hilflos …«

»Und beim Verfassungsschutz, beim Geheimdienst, bei …«, begann Wiard wieder, doch diesmal unterbrach ihn die Kommissarin scharf:

»Herr Lüpkes, ich habe nicht viel Zeit, wir können uns gerne mal abends bei einem Bier über diese Dinge unterhalten.« August dachte für einen Augenblick an Henrikes Bemerkung vom Essen, abends, im gemütlichen Restaurant in Norden, mit der hübschen Hauptkommissarin, bei – wie hatte Henrike gesagt? – richtig, bei Candle-Light.

»Jedenfalls haben wir keine Besonderheiten feststellen können. Ich bin nun auf der Suche nach anderen Motiven«, ergänzte Itzenga.

»Ich habe«, mischte sich Wiard erneut ein, »Frau Itzenga vom Deich erzählt und erklärt, warum wir uns bei miserablem Wetter gegen Abend im Herbst dort aufgehalten haben, zumal es ja verboten ist, offiziell.«

»Aha«, August hatte ein wenig Probleme, den beiden zu folgen und seine Gedanken gleichzeitig so zu sortieren, dass er brauchbare Aussagen zum Thema machen konnte.

»Ihre Beobachtungen zum Deich sind natürlich zu berücksichtigen, mich interessieren sie aber allenfalls so weit, inwiefern es eine Verbindung zu den Schüssen gibt.«

»Frau Itzenga«, setzte August an, wobei sie ihm fest in die Augen sah, was ihn aus dem Konzept zu bringen drohte, »das mit dem Deich, diese Baufehler und so, das ist doch wohl sicher. Denken Sie an den Steinwurf bei Wiard. Und … die anderen Geschehnisse. Wir haben uns getroffen, um eindeutige Beweise, auch Beweisfotos, zu sammeln.«

»Und – haben Sie welche gemacht?«

»Versucht ja, aber das Wetter war einfach zu mies, viel zu dunkel, starker Regen. Gefunden haben wir aber allerhand. Zumindest Dinge, die nicht ganz mit dem professionellen Deichbau und einem nachvollziehbaren Vorgehen dabei zusammenpassen«, August war für eine Sekunde begeistert über seine wohlformulierte Antwort.

Tanja Itzenga schaute zunächst auf Ihre Unterlagen und sah dann auf: »Wir werden allen Hinweisen natürlich weiterhin nachgehen, wir haben diesbezüglich schon einige Hebel in Bewegung gesetzt. Herr Lüpkes erwähnte beispielsweise Herrn Redenius. Auch den werden wir zum Sachverhalt befragen. Und bei der Baufirma, die damals fast Konkurs angemeldet hätte, recherchieren wir die Zuständigen die damals die entscheidenden Stellen innehatten. Und Sie sind für uns natürlich besonders wertvolle Informationsträger, Sie kennen hier alles und jeden, kennen den Deich, all die Zusammenhänge. Der Vorgang muss bald aufgeklärt werden, Sie können sich denken, dass von Seiten der Politik und der Behörden, vor allem natürlich der Medien, bereits die ein oder andere Frage gestellt wird, vorsichtig ausgedrückt.«

»Selbstverständlich«, pflichtete Wiard bei, und August nickte dazu. Wiard ergänzte: »Vielleicht ist das auch eine Möglichkeit, die Schluderei am Deich publik zu machen.«

»Wir sollten das auseinanderhalten, mich interessiert nur der Mordanschlag und allenfalls der Zusammenhang mit den Schludrigkeiten beim Deichbau, die wahrscheinlich auf allerhand Verwicklungen von Verantwortungsträgern und letztlich auf das liebe Geld zurückzuführen sind. Irgendwie hängt das alles zusammen. Solange aber nichts bewiesen ist, sollte man nicht darüber spekulieren, schon gar nicht öffentlich«, wehrte Tanja Itzenga ab. August pflichtete ihr gedanklich bei. Die Kommissarin erhob sich.

»Ich muss gehen. Vielen Dank erst einmal – und beim nächsten Mal würde ich wahnsinnig gerne einmal Ihren Tee probieren, von dem ich mir sagen liess, dass er sehr gut ist, Herr Lüpkes.« Sie sah herausfordernd zu Wiard hinüber.

August bemerkte, dass Wiard verlegen wurde. »Mann, das habe ich glatt verpennt, Ihnen überhaupt etwas anzubieten. Frau Itzenga, Entschuldigung, so etwas kommt ja nicht oft bei uns vor, und eine Hauptkommissarin hatte ich noch nie im Haus – da habe ich nicht dran gedacht, Mann, ich bin auch ein Dussel.«

»Sag ich ja immer«, meinte August, worauf die Hauptkommissarin ihre beiden Informanten warm anlächelte, dann die Tür öffnete und ging, ein »Na dann, bis zum nächsten Mal mit Tee, und tschüss« flötend.

»Pfiffig, die Frau«, stellte Wiard fest, als er die Tür schloss.

»Und sehr hübsch«, ergänzte August, dem wegfahrenden Auto hinterhersehend.

Wiard blickte ihn erstaunt an: »Da brat mir doch einer ’nen Storch. Der Polderbauer hat auch für anderes Augen als seine Kühe.«

»Ist doch so. Aber du hast recht, ich muss mich dringend um meine Kühe kümmern. Ich habe ja auch noch anderes zu tun, als hier rumzusitzen. Obwohl sie mit dem Tee recht hatte, den hätte ich auch gerne gehabt.«

»Sie hat’s doch gesagt: beim nächsten Mal.«

»Also, tschüss dann, wir sollten uns auch noch einmal treffen. Wir brauchen den Täter. Ich habe die Nase voll von zerborstenen Fenstern, durchschossenen Reifen und Mordversuchen. Außerdem – mal was anderes – habe ich noch Fragen zu deinem – wie hieß das noch – ›Geo-Informationssystem‹ oder GIS oder was. Ich habe gestern einen Brief direkt vom Landwirtschaftsministerium – Stabsstelle Landwirtschaftliche Informationssysteme, klingt toll nicht? – bekommen. Die schreiben über den Flächenabgleich, Luftbilder und diesen ganzen Kram. Ich denke, du kannst mir das alles erklären.«

»Klar doch, mach ich.«

»Morgen Abend?«

»Ist in Ordnung. Dann sieh mal zu, dass du Deutschlands Landwirtschaft weiter in Gang hältst.«

»Ich frage mich manchmal, wer dafür eigentlich zuständig ist, immer noch wir Landwirte oder irgendwelche Bürokraten in Brüssel.«

»Hoffentlich ihr Landwirte. Die in Brüssel räumen Aktenberge von links nach rechts und wieder zurück, und wenn sie einen davon abgearbeitet haben, sind sie glücklich. Ob’s sinnvoll war oder nicht, ist zweitrangig. Die bringen viel durcheinander, aber nichts in Ordnung. Über kurz oder lang wird die ganze Agrarpolitik scheitern – wahrscheinlich zu euren Lasten, um dir mal Mut zu machen. Das ist doch schon so: Wie viele Landwirte haben ihre Existenz verloren, seit es die EU gibt? Kannst ja mal zählen. Also denen möchte ich nicht noch mehr überlassen – da ist so viel überflüssiges Zeug dabei, was die produzieren an Gesetzen, Richtlinien und was weiß ich. Normgrößen für Tomaten und Eierverpackungen, dass ich nicht lache …«

»Dafür kriegen sie ja auch doppeltes Gehalt«, entgegnete August und fügte hinzu: »Andererseits möchte ich so einen Job in den vermufften Bürosilos dort auf keinen Fall machen. Neulich war ein Bild von dieser EU-Zentrale in Brüssel in der Zeitung – da arbeiten? Holl mi up. Also da lob ich mir doch meinen Hof und den Polder. Weite Sicht, Bäume, Deich, Meer, Wolken. Und Wind. Ich würde in so ’ner Stadt eingehen wie, ja wie …«

»Wie eine Primel«, führte Wiard den Satz zu Ende.

»Ja, Primel, genau.« Nach einem kurzen »Tschüss« war August aus Wiards kleinem Landhaus verschwunden und auf dem Weg zu seinem Hof. Henrike hatte ihn zwischendurch per Handy angerufen und ihm mitgeteilt, dass Wienke Windpocken hatte. Es waren bereits mehrere ihrer Mitschülerinnen erkrankt, und nun hatte es auch sie erwischt. So kam eines zum anderen – die viele Arbeit war doch schon genug, aber dazu kamen dann noch Kinderkrankheiten und Polizeigeschichten. August verspürte plötzlich ein großes Bedürfnis nach Entspannung. Doch so lange nicht geklärt war, wer geschossen hatte, würde die Furcht ihn und viele andere im Polder belasten. Er atmete einige Male tief durch. Der kühle, frische Wind, der vom Deich herüberwehte, tat ihm gut.

23

Die Nacht wurde sehr stürmisch. Herbst eben, starker Wind, kalt, dunkel, nass. Orkanböen aus Nordwest waren angekündigt, und die Unwetterzentrale hatte eine Sturmflutwarnung für die deutsche Nordseeküste herausgegeben. ›www.unwetterzentrale.de‹ meldete mindestens drei Meter über Normalhochwasser. Kachelmann hatte in der Wettervorhersage mehrfach eine von ihm ausgemachte ›Sturmproblematik‹ angesprochen. Die Bäume im Polder krümmten sich schon jetzt im Wind, Zweige und Äste lagen auf den Straßen herum, und August fürchtete um die Dachpfannen auf dem Haus. Er würde auch im Stall noch einmal nach dem Rechten sehen müssen. Im vergangenen Jahr war bei einem ähnlichen Sturm ein Ast von einer der alten Linden abgebrochen und glatt durch eine der Dachplatten geschlagen, mitten in den Kälberstall. Es war zwar keines der Tiere verletzt worden, aber es hatte in den Stall geregnet, und war so kalt gewesen, dass die Kälber sich völlig verstört und wie eingefroren an die Wand drückten, wo August sie am nächsten Morgen vorfand.

»Die Linden müssen weg«, hatte sein Vater schon vorher gedrängt, aber August konnte sich von den schönen, alten und einen gewissen Stolz ausstrahlenden Bäumen einfach nicht trennen.

Während er jetzt die beunruhigten Tiere inspizierte (»Die spüren als Erste, wenn etwas nicht so ist wie sonst.«), einigen beruhigend zuredete und die Türen und Tore verschloss, hörte er plötzlich ein lautes Klopfen am großen Tor zum Stall.

»August, mach auf, Henrike sagt, du bist im Stall!« Es war Wiards Stimme. August öffnete das Tor einen Spalt breit, und der Wind pfiff ihm um die Ohren.

»Mann, das ist ein Sturm«, Wiards Haare waren völlig zersaust, als er hereingekommen war und August das Tor wieder fest verschlossen hatte.

»Was machst du denn hier um diese Zeit?«

»Der Deich«, Wiard war der Schreck an den Augen abzulesen, »ich war dort, das Wasser steht schon weit hoch – er wird den Sturm nicht aushalten!«

»Nun mal halb lang, wann warst du dort?«

»Eben, ich bin mit dem Rad unterwegs. Gegen den Wind kannst du vergessen, habe fast eine Dreiviertelstunde gebraucht, weil ich teilweise laufen musste. Zurück ging’s in zwölf Minuten. Bin gleich zu dir gekommen. Ich kann mich ja jetzt nicht einfach hinlegen.«

»Bist du sicher?«

»Komm mit, sieh selbst. Können wir deinen Wagen nehmen?«

»Klar!« Sie verschwanden aus dem Stall, kämpften sich gegen Wind und Regen zum Haus. August gab Henrike Bescheid, dann fuhren Wiard und er, die Scheibenwischer auf der höchsten Stufe, zur Ostkrümmung. Der Regen klatschte mit großer Kraft gegen die Windschutzscheibe. Die Pappeln entlang der Landstraße hinter dem Deich bogen sich bedrohlich.

Mann, einige davon sind schon so alt! Pappeln muss man irgendwann fällen, sie sind oft innen hohl, schoss es August durch den Kopf. Am Deichfuß angekommen, stiegen sie auf die Krone, so gut es ihnen möglich war. Oben angekommen konnten sie sich kaum halten, so stark war der Nordwest, der ihnen um die Ohren wehte.

»Scheiße!«, rief August, als er sah, wie der Stand der Dinge war. »Das Wasser frisst schon richtig, die Grasnarbe ist bereits weg da hinten!«

»Sag ich doch – das ist der Puddingdeich, jetzt haben wir den Salat!«, schrie Wiard. »Und ich sage dir, das geht wahnsinnig schnell. Als ich vor kurzem hier gewesen bin, war die Grasnarbe noch da – jetzt ist sie an einigen Stellen schon kaputt, gerade dort, wo die ganzen Leute neulich rumgelatscht sind!« Er machte ein ernstes Gesicht. »August, der Deich wird früher oder später einfach ausgespült – der Sturm wird noch Stunden andauern. Ich habe den Wetterbericht gesehen und die Unwetterwarnung gehört. Hab mir das auch noch im Internet angesehen, die Satellitenbilder zeigen einen beeindruckenden, schnell drehenden Wirbel, der vom Nordatlantik her auf uns zukommt. Immer schön entgegen dem Uhrzeigersinn. Wir haben erst in gut zwei Stunden Hochwasser, und der Nordwest drückt weiter. Und er wird an Stärke noch zunehmen!«

August verstand genug von den Gezeiten an der Nordseeküste, um zu begreifen, dass Wiard recht hatte. Der Deich würde nicht halten, nicht in dem Zustand, in dem er jetzt schon war.

»Warum steht das Wasser so hoch? Das war doch sonst nicht so?«, rief er, Wiard entgegengehend.

Wiards Gesicht war pitschnass, und er antwortete August direkt ins Ohr. »Das liegt an der verdammten Eindeichung des Südostteiles der Bucht – dadurch gibt es hier einen Staueffekt, das Wasser läuft jetzt höher auf, habe ich dir doch schon erklärt, aber da wolltest du es ja nicht glauben. Wir haben im Zuge der Initiative gegen die Eindeichung oft genug darauf hingewiesen. Aber nein – wir sind ja alle grüne Spinner …«

»Dass es so extrem kommt, konnte keiner ahnen. Ich habe es auch nicht sehen wollen. Ihr hattet wohl recht …«, Augusts Stimme wurde leiser, denn er sah plötzlich zweierlei ein. Erstens, dass er damals in der Diskussion um die Eindeichung unrecht gehabt hatte. Zweitens, dass es falsch war, nur zu reden, dazu war jetzt keine Zeit. Es musste gehandelt werden, bevor es zu spät war.

»Was nun?« Die Windböen schlugen heftig in ihre Gesichter.

»Zurück zum Auto! Hier versteht man ja sein eigenes Wort nicht mehr!«

Als sie im Auto saßen, waren sie völlig durchnässt, der Wind rüttelte am Wagen, und etwa eine Minute lang sagte keiner von beiden ein Wort. Wiard beendete das Schweigen: »An dem Deich hier an der Ostkrümmung macht keiner mehr was, der wird nicht halten. Wir müssen die Leute warnen, nicht rumsitzen. Los, August, mach hinne!«

»Ja.« August brauchte noch einen Moment, um sich zu sammeln, dann aber rief er: »Also los!«

Zuerst fuhren sie zu Lübbert Sieken. Der stand angezogen an der Tür und sagte nur: »Ich habe das Wichtigste schon zusammengepackt. Ich fahre jetzt gleich los, mit meinem alten Drahtesel, Richtung Schoonorther Polder. Da wohnt Reemt Strackmann. Sein Hof steht recht hoch, eben eine alte Warft, dort sind wir sicher. Auf dem Weg wohnen Willems, Carstens und Bohnekamp. Ich gebe allen Bescheid. Dass der olle Deich da vorne nicht hält, brauch ich nicht zu sehen, das hab ich im Urin.«

»Und deine Schulter?«

»Scheiß was auf die Schulter!«

»Ruf Strackmann an, er soll die anderen Nachbarn im Schoonorther Polder warnen – wenn das Wasser hier in unseren Polder kommt, passiert das wahrscheinlich schneller, als man denkt. Das Schott im alten Deich ist doch völlig eingerostet – das kriegt keiner mehr zu. Die wollten es schon rausschneiden und im Dorf als Touristenattraktion aufstellen.«

»Das könnten wir jetzt gut gebrauchen«, merkte Wiard an, »aber alles Alte ist ja in unserer heutigen Gesellschaft nichts mehr wert.«

»Nun hör mal auf zu philosophieren. Strackmann anrufen kann ich nicht, mein Telefon ist abgestellt«, Lübbert blieb ganz ruhig, zumindest äußerlich.

»Mist, stimmt ja. Und ich habe mein Handy nicht dabei«, bedauerte August.

»Verdammt, dann los, was stehen wir hier rum?!« Wiard und August sprangen geradezu ins Auto.

Nach knapp 200 Metern auf der Hauptstraße sahen sie, wie sich vor ihnen eine Pappel zur Straße hin neigte. Langsam sich beugte, immer mehr kippte … und umfiel. Erst gab August Gas (»Das schaff ich noch!«), dann stieg er voll in die Eisen (»Schiete, das reicht nicht!«). Unmittelbar vor dem mächtigen Baumstamm kam das Auto zum Stehen. Er lag quer über der Fahrbahn.

»Mist, Mist, Mist!«, schrie August, wohl wissend, dass dies den Baum nicht wieder aufrichten würde. Es goss wie aus Eimern, der Wind wurde stärker.

»Den kriegen wir hier ohne Schlepper nicht weg«, rief August, »Wir müssen ohne den Wagen weiter!« Die beiden Männer fuhren das Auto an den Straßenrand und setzten den Weg zu Fuß fort. Besorgt wandte August sich um: »Und wenn der Deich bricht?«

»Dann kannst du deine Karre vergessen. Einmal Salzwasser drüber, und der ganze Elektronikscheiß ist ein für alle Mal dahin«, meinte Wiard. »Es gibt aber Wichtigeres als so ein rollender Blechhaufen. Wir müssen deine Familie und die anderen Polderbewohner warnen!«

Einige Zeit später erreichten sie Augusts Hof. Die Situation versetzte ihn zusehends in Panik. August rannte ins Haus.

»Aufstehen!«, schrie er nur und immer wieder: »Raus hier – der Deich bricht!«

Henrike stürzte die Treppe herunter, konnte die Augen noch nicht richtig öffnen: »Was ist los?«

»Der Deich … er wird brechen – wir müssen raus, das Wichtigste auf den 120er – und weg, Richtung Schoonorther Polder. Ich rufe Ihno an, der muss die gesamte Feuerwehr alarmieren. Die Schotten müssen dichtgemacht werden, am Schlafdeich, sobald alle hier raus sind. Die Sirene muss die Leute wecken – sofort!« Henrike war schon längst wieder oben und rüttelte die Kinder aus dem Schlaf. Wienke schrie, die Kinder verstanden nicht, was los war.

»Wir müssen raus, das Wasser kommt, es kann sein, dass der Deich bricht, bei dem Sturm« versuchte Henrike so vernünftig und ruhig wie möglich zu erklären.

»Was für’n Wasser?« fragte Freerk noch halb schlafend, »ich muss erst mal Wasser lassen.«

»Witzbold, vielleicht bricht der Deich, dann bekommen wir hier nasse Füße, also los jetzt!« Henrike half den Kleinen beim Anziehen, während sie Gero mehr oder weniger gleichzeitig noch eine Pampers überstreifte, ohne groß zu überlegen, ob das wohl jetzt wichtig war. August griff nach ein paar Aktenordnern und rief den Bürgermeister und den Ortsbrandmeister an. Der fragte erst einmal, ob August einen zu viel genommen hätte, schließlich sei der Deich nagelneu. August konnte ihn überzeugen, aber nur, weil es im selben Moment an der Tür des Feuerwehrmannes klopfte und irgendjemand bestätigte, was August ihm telefonisch klarzumachen versuchte. Es gab wohl doch ein paar mehr aufmerksame Bewohner im Polder, als er gedacht hatte. Wenig später heulte die Sirene. August zog sich und den Kindern warme Jacken an, Regenzeug drüber, Mütze, Schal, Handschuhe. Zum Glück war dank Henrike alles an seinem Platz. Nur Freerk wusste nicht, wo seine Mütze und Handschuhe waren (»Gestern hatte ich sie noch«). Der 120er lief schon vor der Tür, ein Hänger war angekoppelt. »Für andere, die wir treffen, und für Wiard, wir müssen noch bei ihm vorbei«, erklärte August. Als sie endlich losfuhren, sahen sie gegen die herannahenden Wolken im Mondlicht, dass es in der Deichkrone eine Delle gab, da war schon etwas eingebrochen – der endgültige Bruch war vermutlich nur noch eine Frage von wenigen Minuten. Es war ein bedrohliches Bild. Sie konnten spüren, wie die erste Welle sie erreichte. Wienke schrie noch immer. Sie war mit Windpocken übersät.

Im Polder war die Feuerwehrsirene pausenlos in Aktion.

»Ischa wie Luftalarm«, wimmerte Anni Harms 80-jährige Mutter von nebenan, »furchtbar!«

Die Leute packten in Windeseile ihr wichtigstes Hab und Gut oder das, was sie dafür hielten. Der Wind heulte um die Häuser, er sang ein bedrohliches Lied.

»Kannst du uns mitnehmen, August? Mit dem Auto kommen wir nicht durch!«, rief ihm Manni zu, als sie an dessen Haus vorbeikamen. August drehte sich um und sah Wasser kommen, ein Vorbote der großen Flut. Diese würde nun nicht mehr lange auf sich warten lassen. August hatte in der Schule einen alten Film über einen Deichbruch am Jadebusen gesehen, aus den 50er-Jahren – da war es genauso gewesen. Erst frisst das Meer, frisst und frisst, dann ist die Krone weg, bricht ein, dann ein bisschen mehr Wind, etwas mehr Druck, und in wenigen Minuten ist ein riesiges Loch da, Wassermassen stürzen ins Land. Es war zum Erstaunen der meisten die über den Deich spritzende Gischt gewesen, die ihn auch von der Landseite her mürbegemacht hatte. Sie war letztlich der auslösende Faktor für den Deichbruch gewesen. Wenn der neue Deich so schlecht gebaut war wie angenommen, würde die Landseite eher noch miserabler sein – da hätten Wind und Wasser leichtes Spiel. Wohl dem, der dies rechtzeitig erkannte und jetzt die Flucht ergreifen konnte.

Manni stand mit Anni und ihrer Mutter sowie den beiden Kindern und drei Koffern an der Straße, als würde die ganze Familie auf den nächsten Bus warten.

»Los, auf den Hänger, und dann weiter, warte, ich helf dir mit deiner Mutter.« Mit einem Satz war August aus dem Führerhaus gesprungen, Manni und er packten Annis Mutter, hoben sie – so vorsichtig wie möglich – auf den Hänger, wo Henrike und Freerk ihr halfen, sich notdürftig auf einen der Koffer zu kauern. Sie hatte Tränen in den Augen und jammerte immerzu: »Furchtbar, furchtbar!«

August fuhr wieder an, jetzt schon durch zehn Zentimeter hoch stehendes Wasser. Es stieg sichtbar. Offenbar stürzte es schon durch einen beachtlichen Deichdurchbruch in den Polder. Genau in Richtung der Höfe, genau wie im Film vom Jadebusen. Im Nordwesten konnte man die Bruchstelle im Deich immer deutlicher erkennen, wenn der Mond seine Lichtstrahlen durch ständig neu entstehende Wolkenlöcher schickte.

Wiard stand schon bereit, vor seinem kleinen Häuschen, als August bei ihm anhielt.

»Damit etwas vorsichtiger«, bat er Freerk und reichte ihm eine Tasche. Gemeinsam mit August verstauten sie Wiards Sachen auf dem Hänger.

»Was ist das?« fragte Freerk.

»Mein Laptop – da ist alles Wichtige drauf, was ich brauche. Habe in meiner freien Zeit alle relevanten Dokumente eingescannt. Jetzt kann von mir aus alles absaufen, die Unterlagen, die aus einem Menschen einen Menschen machen, habe ich dabei.«

Freerk entgegnete nichts. Ihm war nicht klar, was Wiard damit meinte.

»Hört auf zu quaken, weiter geht’s!«, rief August ihnen zu. Er gab Vollgas und fuhr in Richtung der Deichscharte, die den neuen Polder vom alten Schoonorther Polder trennte. Wiard, Manni und dessen Familie saßen auf dem Hänger, Regen und Wind peitschten in ihre Gesichter. Gott sei Dank war noch Zeit geblieben, sich richtig anzuziehen. Freerk war mit hinten geblieben, auf dem Hänger (»Mist, so ohne Mütze!«). Wienke und Gero saßen, irgendwie, auf Henrikes Schoß, die krampfhaft versuchte, die beiden auf dem kleinen Sitzplatz neben dem Fahrersitz des 120ers festzuhalten. Hinter dem Sitz klammerte sich Karina fest, sie machte jede Schwingung der Sitzfederung mit. August hoffte nur, den Schoonorther Polder rechtzeitig zu erreichen. Er sah, dass die Feuerwehrmänner schon eifrig am Schott arbeiteten. Jetzt rächte sich, dass es seit Jahren nicht geschlossen worden war – aber wer hätte jemals mit einem Deichbruch gerechnet? Mittlerweile war eine ganze Kolonne von Pkws und Treckern auf der Dorfstraße unterwegs. Die Sicht wurde schlechter, der Himmel war schwarz, die vom Wetterbericht angekündigten Orkanböen schlugen mit voller Wucht zu – und dann passierte das, was zuvor schon Wiard und August geschehen war. Vor August fuhren weitere Trecker, voll besetzt mit Polderbewohnern. Vor dem ersten brach erneut eine große, alte Pappel in sich zusammen. Erst knickte die obere Hälfte ab, riss dann die untere mit, sodass schließlich beide Teile quer auf der Straße lagen.

»Verdammt, ich habe immer gesagt, die Dinger müssen gefällt werden – Pappeln sind hier nach 25 Jahren einfach eine Gefahr, aber nein, die sehen ja so schön aus … Und ich habe immer ›Ja‹ gesagt. Scheiße!« August schien kurzzeitig verzweifelt, hatte sich aber gleich wieder im Griff. Er brachte den Schlepper kurz hinter dem vor ihm flüchtenden Trecker zum Stehen, fast wäre er aufgefahren. Er stieg herunter, mitten ins Wasser.

»So ein Mist – wir müssen das Teil wegschaffen!«, rief er dem Vordermann zu. Es war Jakobus de Ruyter, Holländer, lebte schon fast 30 Jahre hier im Polder. Er führte seitdem einen gut gehenden Schweinebetrieb. Sein ältester Sohn Hinrikus stand neben ihm. Beide waren bereits dabei, ihren Trecker dafür vorzubereiten, den umgestürzten Baum von der Straße zu ziehen. Ihre Hilfsbereitschaft zeichnete sie aus.

»Wir Holländer reden gern, aber wir handeln, wenn’s drauf ankommt«, hatte er August einmal gesagt, als der eine blöde Bemerkung über das Nachbarvolk aus dem Südwesten gemacht hatte. Sie mussten allerhand rangieren, um die Straße befreien zu können, schließlich war sie hier links und rechts von einem Graben begrenzt. Jetzt holte die nächste Welle den gestoppten Konvoi ein. Offenbar brach der Deich stückweise nach unten weg, und in immer größerem Ausmaß floss das aufgewühlte Wasser in den Polder.

August starrte einen Augenblick in die kalte Brühe, als sei sie das achte Weltwunder. Er merkte, dass sein linker Stiefel nicht mehr dicht war.

»Hätte ich man doch nicht das Sonderangebot genommen!«, fluchte er. »Der Polder steht unter Wasser, mein Hof, meine Kühe …«, er konnte nicht weiterdenken. Die Familie war wohlauf, das war das Wichtigste. Dann blickte er Richtung Nordwest, zur Ostkrümmung. Die Scharte, die die See jetzt schon in den Deich gerissen hatte, schien sich sekündlich zu vergrößern – immer größere Wassermassen flossen ungehindert in den Polder. Wienke schrie, andere Kleinkinder stimmten mit ein. Sie wussten nicht, warum sie bei starkem Regen und Orkanböen im Dunkeln auf Treckern herumsitzen mussten. August erkannte Jakobus de Ruyters Vater auf dessen Hänger. Der alte Mann blickte stumm auf das Geschehen. Vorgestern war er 85 geworden.

»Der ist noch älter als du«, drangen jetzt Wortfetzen von Manni zu ihm herüber, der versuchte, Annis Mutter zu beruhigen. »Furchtbar«, sagte sie wieder.

Und wir haben’s gewusst, wir haben’s gewusst, Wiard hatte recht mit dem Deich, dachte August und ärgerte sich über seine Zögerlichkeit. Doch dann holte ihn die Realität wieder ein. Er half Jakobus und Hinrikus dabei, eine Eisenkette um den Baumstamm zu schlingen, um diesen an den Straßenrand zu ziehen. Inzwischen hatte sich schon eine größere Schlange gebildet, und massenhaft Vorschläge prasselten auf die drei Männer ein, wie man am besten vorgehen könne. Jakobus und August waren sich wortlos einig und fuhren fort, ohne wirklich hinzuhören, auf ihre Art den Baum wegzuziehen und wieder eine freie Bahn zur Flucht vor der Nordsee zu schaffen. Das Wasser stieg, und die, die nicht auf den Treckern saßen, standen schon wadentief darin. Die ersten Wellen bildeten sich – die Nordsee nahm sich zurück, was man ihr im Laufe der Jahrhunderte genommen hatte. Als Jakobus de Ruyter seinen Trecker in Bewegung setzte, verkantete sich die obere Baumhälfte mit der unteren, sodass zunächst die untere weggezogen werden musste. Das war nur möglich, wenn die hinter dem Trecker stehenden Schlepper so weit wie möglich an den Straßenrand fuhren. Unendlich langsam bewegte sich jeder Schlepper ein Stück weit nach hinten, um sich dann weiter an den Rand zu bugsieren, so nah, dass viele bedrohlich schräg stehen blieben, konnte man den Straßengraben doch nicht mehr sehen, da alles vom Wasser bedeckt war.

Бесплатный фрагмент закончился.

1 174,24 ₽

Начислим

+35

Покупайте книги и получайте бонусы в Литрес, Читай-городе и Буквоеде.

Участвовать в бонусной программе

Жанры и теги

Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
Объем:
824 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783734994906
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
18+
Текст
Средний рейтинг 4,7 на основе 147 оценок
Черновик, доступен аудиоформат
Средний рейтинг 4,5 на основе 51 оценок
Черновик
Средний рейтинг 4,7 на основе 23 оценок
Аудио
Средний рейтинг 4,1 на основе 1017 оценок
Черновик
Средний рейтинг 4,9 на основе 216 оценок
Текст, доступен аудиоформат
Средний рейтинг 4,7 на основе 1002 оценок
Текст
Средний рейтинг 4,9 на основе 326 оценок
Аудио
Средний рейтинг 4,8 на основе 5216 оценок
Текст, доступен аудиоформат
Средний рейтинг 4,5 на основе 19 оценок
Черновик
Средний рейтинг 4,3 на основе 53 оценок
Текст
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок