Читать книгу: «Odenwaldjagd», страница 4

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6. Kapitel

Charlie betrat das kleine Büro auf dem der Straße abgewandten Teil des Atzeldoalhofes, das sie sich mit Reiner und in den letzten Wochen vermehrt mit Emelie teilte. Weshalb die alten Plakate mit Abbildungen von Schleppern und Vollerntern Postern der Tierrechtsorganisation PETA hatten weichen müssen. Eins der Poster zeigte den Kopf einer schwarz-weiß gefleckten Holstein-Kuh, von denen es eine 200-köpfige Herde auf dem Atzeldoalhof gab. »Lass mir meine Milch! Trink Pflanzenmilch!«, bat die Kuh mit traurigen Augen. Auf einem zweiten Poster lag ein toter Rehbock ausgestreckt im Gras, was mit der Überschrift »Jagd ist Mord!« kommentiert wurde. Über der Lehne des Schreibtischstuhls hing ein grünes T-Shirt mit dem weißen Aufdruck »Go vegan, safe the world!«. Im Raum roch es nach Schokoladenkeksen, Klebestiften und Pubertätshormonen. Charlie reichte Reiner, der am Computer saß, eine Tasse Kräutertee, stellte ihre Tasse auf dem Schreibtisch ab und öffnete das Fenster.

»Hatte Emelie heute wieder ein Gruppentreffen?«

Reiner verzog den Mund zu einem Grinsen. »Die Mädels sind gerade abgezogen, um beim Italiener in Aschbach vegane Pizza zu mampfen.«

Charlies Magen reagierte augenblicklich mit Grummeln auf das magische Wort Pizza. Sie biss in den Apfel, den sie aus der Küche mitgenommen hatte. »Mist!«, fluchte sie, als der Saft ihr das Kinn heruntertropfte.

Reiner zog ein Papiertaschentuch aus der Hosentasche und reichte es ihr.

»Danke!« Charlie säuberte damit ihr Kinn und die klebrigen Hände. »Du siehst müde aus«, bemerkte sie, als sie das Taschentuch in den Papierkorb beförderte.

»Dieser Verwaltungskram bringt mich noch um!«, stöhnte Reiner und warf den Tabellen auf dem Computerbildschirm einen erbosten Blick zu.

»Von der Wiege bis zur Bahre – Papiere und Formulare«, witzelte Charlie, wurde aber schnell wieder ernst. »Du musst dir endlich Hilfe holen!«

Reiner seufzte und fuhr sich mit der Hand durch das hellbraune Haar. »Will ich ja! Vor allem für die Jobs auf dem Hof! Seitdem die Modder sich im September den Arm gebrochen hat und nicht mehr so kann wie früher, ertrinke ich schier in Arbeit.«

»Wenn du so weitermachst, hast du bald einen Herzinfarkt«, warnte ihn Charlie.

»Theo meint es ja gut«, jammerte Reiner weiter, »aber er steht mir mehr im Weg, als dass er eine wirkliche Hilfe ist. Außerdem kann er wegen seiner Hüften kaum krauchen.«

»Hast du mal beim Arbeitsamt in Mörlenbach nachgefragt?«

»Die haben nix. Wer will schon auf einem Bauernhof schuften? Höchstens Saisonarbeiter. Ich brauch jemanden für alle Tage im Jahr.«

Charlie nahm einen Schluck von ihrem Tee. »Du könntest eine Annonce in den Kleinanzeigen aufgeben. Vielleicht fühlt sich jemand angesprochen.«

»Ich rechne mir da keine großen Chancen aus.« Reiner war sichtlich bedrückt. »Die einzige Möglichkeit wäre …«

»Ja?« Charlie schaute ihn erwartungsvoll an.

»Ich habe bei der Sparkasse den Jürgen vom Hilbig-Hof getroffen. Bei ihm ist vor Kurzem Dirk Schmitt aufgetaucht und hat nach Arbeit gefragt.«

»Wer ist dieser Schmitt?«

»Eine verkrachte Existenz«, erwiderte Reiner Haase. »Der Dirk war mit dem Gunter in einer Klasse, hat aber kurz vor der mittleren Reife die Schule abgebrochen. Er wollte eine Lehre als Automechaniker machen, ist jedoch schon bei der ersten Lehrstelle rausgeflogen. Um an Geld zu kommen, hat er angefangen zu dealen. Nicht die ganz harten Drogen, aber ein bisschen Hasch und stimmungsaufhellende Medikamente. Er hatte sogar die Dreistigkeit, das Zeug auf dem Schulhof zu verkaufen. Irgendwann ist er damit aufgeflogen. Weil er sich bei der Festnahme mit einem Messer gewehrt und einen Polizeibeamten verletzt hat, ist er für drei Jahre in den Knast gegangen.«

»Uh, eindrucksvolle Vita!« Charlie verzog den Mund zu einer Grimasse.

»In den letzten Jahren hat sich Dirk wohl nichts mehr zuschulden kommen lassen. Hat sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. Eine ganze Weile hat er sich um eine unserer ehemaligen Lehrerinnen gekümmert, die nach einem Unfall nicht mehr allein klarkam. Die hat in den höchsten Tönen von ›ihrem‹ Dirk geschwärmt. Inzwischen ist sie leider in einem Pflegeheim untergebracht.«

Charlie runzelte die Stirn. »Wenn ich das, was du eben gesagt hast, richtig deute, willst du diesem Dirk eine Chance geben?«

Reiner gähnte herzhaft. »Ich fürchte, dass ich keine andere Wahl habe. Außerdem hat er seine Strafe bekommen und abgesessen. Man kann ihn doch nicht ewig für eine Jugendsünde verdammen.«

»Nein, das sollte man nicht«, gab Charlie dem Freund recht. Als Juristin hatte sie oft genug miterlebt, wie schnell eine falsche Entscheidung, eine unbedachte Handlung lebenslange Folgen nach sich ziehen konnten.

»Ich werde mit Dirk sprechen, und dann sehen wir weiter.« Reiner stand vom Schreibtischstuhl auf und reckte sich. »Jetzt brauch ich ein schönes kaltes Bier. Nach dem ganzen Papierkram habe ich mir das verdient.«

»Ich hätte auch Lust auf eins«, seufzte Charlie und zog unwillkürlich den Bauch ein.

Reiner schaute sie verwundert an. »Wer oder was hindert dich daran?«

»Ich wollte mal ein bisschen kürzertreten.«

»Ach komm!« Reiner fasste sie sanft am Arm. »Du hattest heute einen verdammt harten Tag. Über ein Mordopfer zu stolpern, ist alles andere als angenehm. Wahrscheinlich stehst du noch immer unter Schock.«

»Nee, nicht wirklich«, widersprach ihm Charlie.

»Ein Bier und ein paar von Modders selbst gebackenen Käsehäppchen werden dir guttun.«

»Ich hab’s gewusst!«, seufzte Charlie. Gute Vorsätze auf dem Atzeldoalhof einzuhalten, war ein Ding der Unmöglichkeit.

Reiner blieb mitten im Flur stehen. »Wie hat mein Bruder eigentlich darauf reagiert, dass ausgerechnet du ihn wieder mit einer Leiche konfrontiert hast?«

Charlie dachte an Gunters gequälten Gesichtsausdruck, als er die Treppen zur Kapellenruine hochgestapft war. »Er hat sich alle Mühe gegeben, meine Anwesenheit mit Fassung zu tragen.«

Reiner grinste. »Kann ich mir lebhaft vorstellen.«

»Aber ich musste ihm in die Hand versprechen, dass ich mich diesmal nicht in die Ermittlungen einmischen werde«, sagte Charlie. Ihre Mundwinkel bebten leicht.

Reiner lachte laut auf. »Und? Wirst du dich an dein Versprechen halten?«

Charlie zuckte nonchalant mit den Schultern. »Mal sehen. Jetzt lass uns endlich ein Bier trinken!«

Am Dienstagmorgen brach Martina Lohse bereits um kurz nach sieben auf. Sie hatte sich, was die Fahrtzeit von ihrer Wohnung nördlich von Bensheim bis nach Erbach betraf, gründlich verschätzt. Mit der Folge, dass sie viel zu früh in Erbach, der Kreisstadt des südhessischen Odenwaldkreises, ankam. Der kleine Laden von Selena Sinten, mit der sie sich am Telefon verabredet hatte, öffnete erst um halb zehn.

Martina Lohse parkte den Dienstwagen im Untergeschoss des Parkdecks an der Neuen Lustgartenstraße. Sie kannte das beschauliche Odenwälder Städtchen mit den schmucken Fachwerkhäusern von der Erbacher Schlossweihnacht, die alle Jahre wieder Tausende Touristen aus nah und fern anzieht. Jetzt, Ende März, waren die große, mit Lichtern geschmückte Tanne vor dem Barockschloss auf dem Marktplatz, die Stände mit weihnachtlichen Spezialitäten und die Musikanten natürlich verschwunden. Die Büsche und Sträucher entlang der Mümling trugen das erste Grün. Im Lustgarten mit der angeschlossenen spätbarocken Orangerie reckten Primeln und Narzissen die gelben Köpfe in die Frühlingsluft. Vor der Orangerie waren weiße Sonnenschirme aufgestellt. Doch um den ersten Morgenkaffee draußen zu genießen, war es einen Tick zu kalt. Martina Lohse öffnete die Tür zum Café Klatsch.

Auf den von Rundsitzgruppen eingerahmten Tischen hatte es sich ein Trüppchen rüstiger Rentnerinnen gemütlich gemacht. Martina Lohse wählte einen kleinen Tisch im vorderen Bereich des Cafés, von dem aus sie durch die hohen Fenster in den Lustgarten schauen konnte. Sie hängte ihre Jacke über die Stuhllehne und machte sich auf zur fürstlich bestückten Kuchentheke. Fast hätte sie ein Stück Rhabarber-Baiser-Sahnetorte bestellt, dann besann sie sich eines Besseren und entschied sich für ein üppiges Frühstück.

Sie gab etwas Butter und Kirschkonfitüre auf die Croissantspitze und biss hinein. Himmlisch, dachte sie, als sie ihr butterweich gekochtes Frühstücksei löffelte. Meistens blieb ihr keine Zeit für ein ausgiebiges Frühstück. Entweder war es ihre fünfjährige Tochter Jana oder ihr Job, die morgens mit einem ausgewogenen Start in den Tag kollidierten. Die Kriminalkommissarin belegte ein Brötchen üppig mit Käse und Gurkenscheiben, danach musste sie sich geschlagen geben. Den Rest der Köstlichkeiten, die man ihr auf der kleinen Porzellanetagere serviert hatte, ließ sie zurückgehen. Martina Lohse spülte den letzten Bissen mit Kaffee hinunter und machte sich auf den Weg zu ihrem Termin.

Über die mit Blumenkästen geschmückte kleine Brücke gelangte sie auf den Marktplatz, wo sie sich rechts hielt und durch den Torgang am Alten Rathaus in eine schmale Gasse ging. Die Gasse mündete in ein Sträßchen, das an der evangelischen Stadtkirche vorbeiführte. Martina Lohse folgte der Straße, bis sie den Spielplatz auf der linken Seite erreichte. Am Haus gegenüber konnte sie schon das hellblaue Türschild mit der Aufschrift »Abrakadabra« erkennen.

Ein Glöckchen über der Tür verkündete ihre Ankunft. Hinter der Tür thronte ein großer goldfarbener Buddha, der die Kriminalkommissarin freundlich anlächelte. An beiden Seiten des schmalen Ladengeschäftes zogen sich geölte Holzregale entlang, in denen alles angeordnet war, was das esoterisch veranlagte Herz begehrte. Martina Lohse entdeckte Klangschalen, Pendel und Amulette, Edel- und Halbedelsteine, Räucherwerk, kleine Reisigbesen, Kerzen, Federn und Schmuck. In einem Regal stapelten sich Fachliteratur und Romane, unter denen Martina Lohse amüsiert alle sieben Bände von Harry Potter ausmachte. Ein Aromadiffusor im Kristallkugellook verströmte einen würzigen Duft nach Sandelholz und Zitrusfrüchten. Aus an der Decke angebrachten Lautsprechern erklang leise Harfenmusik. Hinter einem aus unbehandeltem Holz gezimmerten Verkaufstresen stand eine brünette Frau und sortierte Papiertütchen mit Kräutertee auf einem Tablett. Als ihr dabei die Lesebrille fast von der Nase rutschte, fluchte sie lauthals.

»Frau Sinten?«, fragte die Kriminalkommissarin.

Die brünette Frau nahm die Brille von der Nase und schaute ihre Besucherin aus blauen Augen mit Lachfältchen, die von einem fröhlichen Gemüt zeugten, an.

»Wir haben gestern telefoniert«, sagte Martina Lohse.

Frau Sinten, die die Kommissarin um mehr als einen Kopf überragte, streckte die Hand aus. »Willkommen. Ich bin Selena.«

»Martina«, erwiderte die Hauptkommissarin spontan.

»Möchtest du einen Tee?«, fragte die Ladeninhaberin. »Ich habe gerade eine Kanne finnischen Waldtee aufgegossen.«

»Hört sich spannend an«, meinte Martina Lohse.

»Eine tolle Mischung aus Blaubeeren, Brombeeren, Johannisbeeren und deren Blättern sowie Pinienkernen, Apfelstücken und Mistelkraut.« Selena Sinten goss die dampfende Flüssigkeit in zwei Keramikbecher und reichte einen davon der Kommissarin. »Zucker?«

Martina Lohse schüttelte den Kopf. Zögerlich nahm sie einen Schluck. Dann lächelte sie anerkennend. »Wirklich lecker!«

Selena stellte ihre Tasse auf den Tresen. »Du bist also gekommen, um etwas über Hexen zu erfahren.«

»Ich kenne, ehrlich gesagt, nur ›Die kleine Hexe‹ von Otfried Preußler oder Bibi Blocksberg«, gestand Martina Lohse.

»Daraus lese ich ab und zu meinen beiden Töchtern vor«, erwiderte Selena lachend. »Aber das ist natürlich alles Fiktion.«

»Und du, du bist echt?«, wagte die Kommissarin zu fragen.

»Ja. Ich bin eine wahrhaftige Hexe.«

Die Kommissarin musterte die Ladeninhaberin eindringlich. »Du siehst so normal aus!«

Selena prustete los. »Was hast du dir denn vorgestellt? Dass ich eine fette Warze auf der Nase habe und meine Kundschaft mit einem spitzen Hexenhut auf dem Kopf empfange? Oder dass ich einen Hexenbesen als Dienstfahrzeug nutze?«

»Ertappt«, murmelte Martina.

»Die alten Klischees greifen noch immer«, bedauerte Selena. »Vielleicht, weil Hexen zu allen Zeiten starke, selbstbewusste Frauen waren, die ihren eigenen Weg gingen. Und heute noch gehen. Das weckt Ängste. Für manche stellen alle, die anders als sie selbst sind, eine Bedrohung dar.«

»Wie genau sieht denn dieses ›anders‹ aus?«, hakte die Kommissarin nach.

»Es ist weniger eine Frage von Äußerlichkeiten, sondern eine Frage der Weltanschauung. Das Hexentum ist eine Naturreligion. Wir glauben daran, dass alles beseelt und miteinander verbunden ist. Für uns ist die Natur heilig. Deshalb orientieren wir uns auch am Kreislauf der Jahreszeiten. Gerade haben wir zum Beispiel Ostara, die Frühjahrstagundnachtgleiche, begangen.«

»Seid ihr in Gemeinschaften, in Zirkeln oder so was organisiert?«

»Es gibt frei fliegende Hexen und solche, die sich Hexenzirkeln zugehörig fühlen. Oder eine Mischform aus beiden. Mein Mann, der übrigens auch ein Hexer ist –«

»Ich dachte, Männer wären eher Druiden«, warf Martina Lohse erstaunt ein.

»Nein, es gibt auch männliche Hexen. Wir unterscheiden uns in vielerlei Hinsicht von den Druiden. Das Druidentum orientiert sich am antiken Keltentum und der keltischen Mythologie. Damit hat es eine etwas andere Ausgangsbasis, huldigt anderen Göttern. Mein Mann und ich fühlen uns dem Wicca-Kult zugehörig, der in den USA und in Großbritannien übrigens als Religion anerkannt ist.«

»Hoffentlich bleibt das auch unter Trump so.« Martina Lohse zog eine Grimasse.

»Die Coven, also die Wicca-Zirkel in den USA, sind weise genug, sich nicht zu weit in die Öffentlichkeit zu wagen, keine unnötige Angriffsfläche zu bieten«, erklärte Selena. »Sie haben vor Trump bestanden und werden es auch nach ihm tun. In dieser Hinsicht bin ich sehr zuversichtlich.«

»Dein Mann und du, seid ihr in so einem Zirkel aktiv?«, wollte Martina Lohse wissen.

»Wir sind initiiert, fühlen uns aber als frei fliegend. Das heißt, wir arbeiten nicht in den Zirkeln. So können wir individuell darüber bestimmen, wie wir unsere Rituale abhalten und wie wir unsere Spiritualität definieren.«

»Welche Rolle spielt Gewalt in eurem Hexentum?« Martina Lohse blickte Selena fest in die Augen.

»Natürlich keine!«, erwiderte die, ohne mit der Wimper zu zucken. »Wir wollen heilen, helfen, bewahren – nicht zerstören. Unsere Zauber sind keine schwarze Magie. Wir sind keine Satanisten und nutzen das Hexentum nicht als Tarnmantel, um rechte oder linke Ideologien zu propagieren.«

»Gibt es solche Zirkel oder Gruppen?« Martina ließ nicht locker.

Selena nippte nachdenklich an ihrem Tee. »Das kann ich nicht ausschließen. Ich kann nur für mich und die Hexen, die mir bekannt sind, sprechen. Aber da ist zum Beispiel dieser selbst ernannte Druide im Rhein-Neckar-Gebiet. Unter dessen weißem Druidenmantel verbirgt sich tiefbraunes Gedankengut. In den sozialen Medien und im Internet ruft dieser Typ ganz unverblümt zur Gewalt gegen Andersdenkende auf und verbreitet antisemitisches Gedankengut.«

»Auf den bin ich bei meinen Recherchen auch gestoßen«, sagte die Kommissarin. »Aber an dem sind die Kollegen vom Verfassungsschutz schon dran. Der kommt für unseren Fall nicht infrage.«

»Worum geht es dir eigentlich genau?« Selena blickte Martina fragend an.

»Zum einen möchte ich wissen, ob du von Gruppierungen oder Einzelpersonen weißt, die an der Kappellenruine in Lichtenklingen heidnische Rituale vollziehen.«

Selena runzelte nachdenklich die Stirn. »Ist mir, ehrlich gesagt, nicht bekannt. Der Zirkel, dem mein Mann und ich angehörten, ist dort nicht aktiv. Aber …«

Die Kommissarin blickte Selena erwartungsvoll an.

»Es gibt eine Hexe, die dort in der Region unterwegs ist. Sie hat, sagen wir mal, eine sehr eigene, eher feministisch ausgeprägte Orientierung.«

»Würde sie für ihre Überzeugung töten?«

Selena riss die blauen Augen erschrocken auf. »Es geht also um Mord?«

»Ganz genau. Eine Frau wurde erstochen und anschließend in einem weißen Kleid mit Blumen drapiert und mit Devotionalien ausgestattet. Für uns sieht das wie ein Ritualmord aus.«

»Und du meinst, dass jemand von uns dafür verantwortlich ist?«

»Ich meine nicht, ich recherchiere, um die Wahrheit herauszufinden.«

»Also diese Hexe, die in der Region um Hirschhorn aktiv ist, halte ich persönlich für sehr umtriebig, aber völlig harmlos. Sie gibt auch Meditationskurse und bietet Kräuterwanderungen an.«

»Kannst du mir trotzdem ihren Namen und, wenn du hast, ihre Telefonnummer geben?«

»Das mit dem Namen und der Adresse ist so eine Sache«, meinte Selena. »Die meisten Hexen geben sich aus Selbstschutz nicht unter ihrem richtigen Namen zu erkennen. Ich schau mal, ob ich Moira auf der Bestellliste entdecke. Sie ordert ab und zu Räucherwerk und anderen Kleinkram bei mir.«

Während Selena ihre Auftragsdateien auf dem Computer öffnete, blickte Martina Lohse auf ihr Handy. Keine Nachricht von Gunter Haase. Er hatte ihr versprochen, Bescheid zu geben, sobald der Pathologe in Frankfurt seinen Bericht gemailt hatte.

»Hier habe ich sie!« Selena reichte der Kommissarin triumphierend einen Zettel mit der Handynummer.

»Danke. Ich werde bei dieser Moira nachhaken.«

»Aber dir drückt doch noch was auf der Seele.«

»Ja«, gestand Martina. »Du hast eben gesagt, dass ihr gerade dieses Frühlingsfest begangen habt.«

»Du meinst Ostara. Es ist eines unserer acht Feste im Jahreskreis und steht für den Neubeginn. Die Göttin erwacht nach dem langen Winterdunkel und bringt Licht und Fruchtbarkeit über die Erde. Das feiern wir mit verschiedenen Ritualen. Manche sind denen, die Christen zu ihrem Osterfest begehen, übrigens sehr ähnlich.«

»Kommen bei diesen Ritualen auch Blumen vor?«

»Selbstverständlich! Was wäre die Tagundnachtgleiche ohne Blumen? Wir verwenden sogenannte Sabbatkräuter.«

»Die da wären?«

»Eine Auswahl von Frühlingsblumen, die zu Ostara blühen. Narzissen und Osterglocken, Iris, Veilchen, Stechginster, Waldmeister. Dazu Birken- und Haselgrün sowie Forsythienzweige.«

»Eure Opferblumen sind aber nicht alle weiß, oder?«

»Nein.« Selena schüttelte den Kopf. »Der Jahreszeit entsprechend bunt gemischt.«

»Und ihr verwendet nur Blumen für eure Rituale?«

»Und anderes Hexenwerk.«

Nach dem netten und aufschlussreichen Gespräch fiel es Martina Lohse schwer, die nächsten beiden Fragen zu stellen. »Kannst du Menschenopfer zu diesem Ostarafest definitiv ausschließen?«

»Das werde ich immer mal wieder gefragt«, seufzte Selena Sinten. »Doch da muss ich dich enttäuschen. Menschenopfer gehören in die Sparte Horrorfilm. Oder in die Märchenwelt. Mit ›Hänsel und Gretel‹ haben wir modernen Hexen nichts zu schaffen.«

»Gut.« Die Kommissarin machte sich zum Gehen bereit. »Nur noch eine letzte Frage. Wo warst du und auch dein Mann am frühen Samstagmorgen?«

Selena Sinten lachte gutmütig auf. »Ich nehme an, du musst das fragen, oder?«

Martina Lohse nickte.

»Im Bett. Aber bevor du voreilige Schlüsse ziehst: Wir haben dafür einen Zeugen.«

»Tatsächlich?« Martina spürte, wie sich Erleichterung in ihr breitmachte.

»Um sieben schaute der Dachdecker durch unser Dachfenster. Wir hatten im wahrsten Sinn des Wortes verpennt, dass er wegen des undichten Kaminanschlusses vorbeischauen wollte.«

Martina Lohse reichte ihr den Zettel, auf dem die Telefonnummer der Hexe Moira stand. Selena fügte den Namen und die Adresse des Dachdeckers hinzu.

»Also dann, auf Wiedersehen!« Die Kommissarin streckte die Hand aus.

»Würde mich freuen«, erwiderte Selena Sinten und griff nach einem der Papiertütchen auf dem Tablett. »Finnischer Waldtee. Hilft dabei, einen klaren Kopf zu bekommen.«

7. Kapitel

»Du gehst schon?« Beate Holzapfels Kollegin in der Rentenabteilung des Bürger- und Ordnungsamtes Weinheim blickte verwundert von ihrem PC-Bildschirm auf.

Beate setzte ein gequältes Lächeln auf. »Die leidliche Physiotherapie. Mir tun schon jetzt alle Muskeln weh. Nach der Therapiestunde ist es kaum auszuhalten.«

Die Kollegin seufzte mitfühlend. »Es ist nicht fair, oder?«

»Nein, das ist es nicht.« Beate rutschte auf ihren Rollstuhl, nahm ihre Tasche vom Schreibtisch und rollte bis zur Tür, die die Kollegin ihr aufhielt. »Bis morgen dann!«

»Bis morgen!«

Auf dem Behindertenparkplatz verstaute Beate routiniert den Rollstuhl und setzte sich hinter das Lenkrad ihres behindertengerecht ausgebauten Smart Forfour. Den Rollstuhl hätte sie heute nicht wirklich gebraucht, der Gehstock hätte gereicht. Doch Beate wollte verhindern, dass man sie bei ihrer Lüge ertappte. Der Rollstuhl wirkte authentischer.

Sie bog nicht nach links in Richtung Viernheim und der Praxis ihres Physiotherapeuten ab, sondern hielt sich rechts. Am großen Kreisverkehr wählte sie die zweite Ausfahrt in Richtung Schlossbergtunnel. Im Stadtgebiet von Weinheim hielt sie sich penibel an die Geschwindigkeitsvorschriften, doch hinter dem Ortsausgangsschild gab Beate Gas. Der schneeweiße Smart, den sie mittels staatlicher Zuschüsse und einer Finanzspritze ihrer Eltern hatte kaufen können, schnurrte mit der Regelmäßigkeit eines Präzisionsuhrwerkes. Beate öffnete das Fenster einen Spalt und genoss es, wie der Fahrtwind ihr dunkelblondes Haar zerzauste. Das Gefühl, sich endlich wieder ohne die Unterstützung anderer fortbewegen zu können, war unbeschreiblich. Beate schaltete ihre Playlist ein und trällerte laut mit. Der Smart steckte die Kurven im Gorxheimertal locker weg. Entspannt kam Beate auf der Kreidacher Höhe an und lenkte den Kleinwagen hinab ins Tal. Knapp vor der Aral-Tankstelle in Wald-Michelbach bog sie in eine schmale Straße, die sich steil den Berg hinaufschlängelte. Der Parkplatz vor dem Seniorenwohnsitz war nur zu zwei Dritteln belegt, sodass Beate ihren Smart ohne Probleme dort einparkte. Sie öffnete die Tür, schulterte den Rucksack, griff nach ihrem Gehstock und schritt die Stufen zum Haupteingang hinab.

Gudrun Schadt wartete in ihrem Zimmer in der dritten Etage auf sie. »Hereinspaziert, hereinspaziert! Der Kaffee ist fertig.«

Beate Holzapfel setzte sich auf einen der vier Stühle, die zum aus Nussbaum gefertigten kleinen Esstisch passten.

Gudrun Schadt griff nach der Kaffeekanne und goss den Kaffee in zwei mit einem Goldrand verzierte Tassen. Weil ihre Hände zitterten, schwappte etwas von der schwarzen Flüssigkeit auf die Untertassen. »Verflixt und zugenäht, diese blöden nichtsnutzigen Hände!«, schimpfte sie.

Beate kam auf die Beine, humpelte zur kleinen Küchenzeile und griff nach dem Lappen, der in der Spüle lag. »Ist doch nicht schlimm«, sagte sie beruhigend und wischte den Kaffee aus den Untertassen.

»Seitdem ich bei diesem verdammten Glatteis auf den Kopf gefallen bin, bin ich nur noch ein halber Mensch«, klagte Gudrun Schadt. »Nichts geht mehr wie früher.«

Das kenne ich nur zu gut, dachte Beate. »Schön haben Sie es hier«, sagte sie, um vom Thema »körperliche Gebrechen« abzulenken, das die ehemalige Deutsch- und Geschichtslehrerin offensichtlich leicht aus der Fassung brachte.

»Pah! Daheim in meinem Häuschen in der Schwalbengasse hatte ich es viel schöner. Und gemütlicher.«

»Aber von hier aus haben Sie einen herrlichen Blick auf die bewaldeten Höhen«, versuchte es Beate nochmals.

»In letzter Zeit mag ich gar nicht mehr rausschauen«, brummte Gudrun Schadt. »Diese scheußlichen Windräder verschandeln die ganze Landschaft.«

»Nun ja, der Strom kommt leider nicht einfach so aus der Steckdose«, wandte Beate ein. Sie hatte die Zeitungsartikel verfolgt, in denen über die lauten und andauernden Proteste gegen den Windpark Stillfüssel berichtet worden war.

»Das stimmt«, musste Gudrun Schadt zugeben. »Aber wenn wir uns alle ein bisschen einschränken würden, bräuchten wir den ganzen Quatsch nicht. Was ist an diesen Monstern denn grün oder öko?«

»Ein schwieriges Thema.« Beate rührte in ihrer Kaffeetasse und fragte sich, wie sie zum eigentlichen Grund ihres Besuches gelangen könnte. Vor zwei Wochen hatte sie von einer Schulfreundin erfahren, dass die Lehrerin im Ruhestand ihr möglicherweise ein paar entscheidende Infos zu dem Mann, den Beate schon lange suchte, geben könnte. Deshalb hatte Beate unter dem Vorwand, Hilfe bei der Einrichtung eines Aquariums für Betta-Kampffische zu benötigen, einen Besuchstermin mit der pensionierten Lehrerin vereinbart. Gudrun Schadt war lange Jahre Vorsitzende der Aquarienfreunde Odenwald gewesen. Über den Umweg der Fische hoffte Beate, die Lehrerin über ihr Leben nach der Pension und den jetzigen Aufenthaltsort des Gesuchten ausfragen zu können.

Gudrun Schadt kam ihr unerwartet zu Hilfe. »Mein Dirk, der sagt auch immer, dass wir alle viel zu viel haben. Und zu viel konsumieren. Echte Zufriedenheit stellt sich ohne den ganzen Schund und Kram ein, hat er gemeint. Und der Dirk sollte es wissen. Er hat schließlich ein paar Jahre auf der Straße gelebt. Und überlebt.«

Beate konnte ihr Glück kaum fassen. Sie wandte ihr Gesicht ein wenig ab, damit die Lehrerin das plötzliche Aufleuchten in ihren Augen nicht bemerkte. »Meinen Sie etwa Dirk Schmitt?«, fragte sie schließlich mit, wie sie hoffte, neutraler Stimme.

»Sie kennen Dirk?« Gudrun Schadt beäugte Beate über den Rand ihrer Lesebrille hinweg.

»Dirk Schmitt? Klar kenn ich den! Wir waren Nachbarn«, schwindelte Beate. »Er war so etwas wie ein großer Bruder für mich.«

»Oh ja! Der Dirk hat ein großes Herz! Ein ganz großes!« Gudrun Schadt nickte. »Wenn dieser verflixte Sturz nicht gewesen wäre, würden wir beide immer noch zusammen in meinem kleinen Häuschen wohnen. Er hat sich dort um alles gekümmert.«

Hinter Beates hoher Stirn mit der Narbe begannen die Gedanken zu rattern. Es fehlte nicht mehr viel und sie wäre am Ziel! Einfacher und zügiger, als sie zu hoffen gewagt hatte. Sie musste jetzt nur schnell reagieren. Die richtige Taktik zum Einsatz bringen. Die blöden Fische könnte sie anschließend getrost vergessen. »Das gibt es doch gar nicht!« Beate setzte ein strahlendes Lächeln auf. »Dirk und Sie haben in einem Haus gewohnt?«

»Allerdings.«

»Dann wissen Sie bestimmt auch, wo ich ihn jetzt finden kann«, plapperte Beate munter weiter. »Beim Auflösen des Haushaltes meiner Mutter habe ich ein Fotoalbum gefunden, worüber er sich bestimmt freuen wird. Aber ich finde seine Nummer nicht im Telefonbuch.«

Letzteres stimmte, denn Beate hatte sich bei der Suche nach der gewünschten Adresse fast die Finger an der Tastatur ihres Laptops wundgetippt. Der Rest war pure Lüge. Beate kannte Dirk Schmitt nur vage aus ihrer Schulzeit und aus dem Bericht ihrer Versicherung, wo er als Halter des in den Unfall verwickelten Wagens angegeben war. Ihre Mutter und ihr Vater erfreuten sich, dem Himmel sei Dank, bester Gesundheit. Aber das musste Beate der Lehrerin im Ruhestand nicht auf die Nase binden.

»Wenn er wie ein großer Bruder für Sie war, warum haben Sie ihn dann nicht unterstützt, als er in Schieflage geraten ist?«, hakte Gudrun Schadt misstrauisch nach. »Da hätte er jede Hilfe gebrauchen können.«

Beate zuckte innerlich zusammen. Das Gehirn der alten Dame war besser in Schuss, als sie gedacht hatte. Sie musste vorsichtig vorgehen. »Ach, wissen Sie, ich hatte diesen Unfall. Lag deshalb lange Zeit im Koma. Seitdem geht auch bei mir nichts mehr so, wie es einmal war. Meine Beine …« Beate ließ ihre Stimme weinerlich klingen.

»Ach, Kindchen!« Gudrun Schadt tätschelte ihr tröstend die Hand.

»Im Rollstuhl war es für mich schier unmöglich, zurück nach Wald-Michelbach zu kommen. Ich bin ja ganz allein.« Beates Stimme brach. Sie kramte ein Papiertaschentuch aus ihrer Hosentasche hervor und tupfte sich damit über die Augen.

Gudrun Schadts Gesicht hatte einen grimmigen Ausdruck angenommen. »Manchmal verdient der liebe Gott dort oben nicht mehr als einen herzhaften Tritt in den Hintern«, meinte sie.

»Inzwischen geht es mir schon viel besser.« Beate ließ das Taschentuch wieder in der Hosentasche verschwinden. »Deshalb werde ich es auch schaffen, Dirk zu besuchen. Ich bin mir sicher, der wird vor Freude aus dem Häuschen sein. Wie viele Jahre sind das jetzt?« Beate tat, als ob sie im Kopf nachrechnete.

»Sie haben Glück, Kindchen.« Die Lehrerin tätschelte nochmals Beates Hand. »Dirk hat mich heute Morgen total aufgeregt angerufen. Er hat eine neue Arbeitsstelle, wo er auch wohnen darf. Seit ich ins Pflegeheim musste, hat er unter unsagbaren Zuständen in diesem alten Wohnwagen am Waldrand gehaust. Nun hat er ein eigenes Zimmer. Wie ich mit einer Küchenzeile. Da kann er sich endlich was Ordentliches kochen. Zum Schluss war mein Dirk ja nur noch Haut und Knochen.«

Beate setzte einen geschockten Gesichtsausdruck auf. »Mein Gott! Wenn ich das gewusst hätte!«

»Warten Sie mal kurz, Kindchen! Ich schreib Ihnen die neue Adresse auf. Dann können Sie ihn dort besuchen.«

»Das werde ich bestimmt machen«, versprach Beate mit einem triumphierenden Lächeln.

Als Charlie die Fahrertür des Subaru öffnete und einsteigen wollte, kamen ihr Reiner und Theo entgegen. Theo hatte den Wetterwechsel nicht gut vertragen, denn er zog das rechte Bein nach. Seine Hüftgelenksarthrose machte sich zunehmend bemerkbar. Charlie fragte sich, wie lange er eine Operation noch hinausschieben konnte.

»So früh schon unterwegs?« Reiners Haar war von der Dusche nach dem morgendlichen Melken noch feucht.

»Ich muss für einen Mandanten in Odenbrunn bei OdenwaldForst was klären.« Charlie steckte die Sonnenbrille, die auf dem Armaturenbrett lag, in das Handschuhfach. Heute war eher Regen- als Sonnenschutz gefragt.

»Und danach gehst du nach Erbach und verzockst das schwer verdiente Geld auf der Pferderennbahn?«, wollte Theo mit einem Augenzwinkern wissen. Er ließ sich seine gute Laune durch die Hüftprobleme nicht verderben.

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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294 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783839267745
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