Gewalt

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I. Über den Umgang mit Gewalt

Der Stellenwert der Gewalt in der Gesellschaft

Es ist interessant zu beobachten, wie sich in der Geschichte der Stellenwert der Gewalt geändert hat, ohne dass sich indes etwas an der allgemeinen Situation geändert hätte. Das fängt im Grunde schon vor den ersten Aufzeichnungen in der Menschheitsgeschichte an. Immer war Gewalt vorhanden und wurde als Mittel zur Problemlösung akzeptiert.

Im indischen Arthashastra, das vor etwa 2300 Jahren geschrieben wurde, geht man soweit, Empfehlungen und Methoden für das Töten der Mitbewerber um die Macht auszusprechen.1 Das betraf auch die eigenen Geschwister. Das hört sich für uns sehr grausam an, gewiss. König Ashoka (ca. 304 - 232 v. Chr.), der sich mittels dieser Methode den Thron des Reiches verschaffte, bereute später seine Taten und wurde einer der friedfertigsten Herrscher der Weltgeschichte. Jedoch versäumte er es nicht, überall mittels Grenzmarken ebenso klar wie drohend darauf hinzuweisen, wo sein Einflussbereich begann.

Das Arthashastra hat viel Ähnlichkeit mit dem chinesischen strategischen Denken einiger Philosophen und Feldherren wie Sūnzǐ (ca. 545 - 470 v. Chr.) oder Cao Cao (ca. 155 - 220), der formulierte: »Betrüge lieber die Welt und die Menschen, als dass die Menschen und die Welt dich betrügen

Auch die berühmten 36 Strategeme (siehe Fußnote 45 auf Seite 52) lassen mitunter Menschenfreundlichkeit vermissen. Sie sind pragmatisch für die Lösung spezieller Probleme ausgelegt. Wenn ein Mensch das Problem ist, wird zur Beseitigung desselben geraten. Jedes Mittel, wenn es denn hilfreich ist, wird empfohlen. Ein alter Spruch aus Europa belegt, wie sehr ein derartiges Denken in der Vergangenheit verbreitet war. Er lautet: »Ist der Mensch die Krankheit, ist der Tod die Medizin

Der Athener Kleon2 sagte treffend: »Es ist unmöglich – und wer es glaubt, ist sehr einfältig –, den Menschen von den Handlungen, zu denen er sich nun einmal von der Natur getrieben fühlt, durch den Druck der Gesetze oder durch andere Schreckmittel abzubringen

Die griechische Schwerathletik und die römische Gladiatur waren alles andere als zimperlich. Der Tod wurde in der Antike immer in Kauf genommen. Bei der Gladiatur war er Teil des Wesens dieser Spiele. Es wurde erwartet, dass ein schlechter Kämpfer mit seinem Blut bezahle. Unterliegen durfte er durchaus ungestraft, wenn er nur tapfer war. Aber wehe ihm, er verstand es nicht, sich zu wehren. Die Römer waren in diesem Punkt sehr entschieden.

Die ritterlichen Zweikämpfe des Mittelalters waren in der Anfangszeit nicht viel friedfertiger als die Gladiatur. Zwar war der Tod von einem der Kämpfer nicht unbedingt beabsichtigt, aber wenn er umkam, dann wurde das gleichmütig in Kauf genommen. Die Krieger des Mittelalters wurden von der Kirche gebremst, aber nur dann, wenn sie ihre Kampfkraft zum eigenen Vergnügen oder zum Schaden der Kurie verschwendeten. Ging es gegen äußere Feinde, besonders gegen Nichtchristen, dann gab es keine Schranken für die Gewalt. Bei der Eroberung Jerusalems 1099 töteten die Kreuzfahrer fast die gesamte Einwohnerschaft. 110 Jahre später, im Jahre 1209, ereignete sich etwas Ähnliches bei den Albigenserkriegen. Nur dass es hier gegen »ketzerische« Christen, die Katharer, ging. Kurz vor der Eroberung der Stadt Béziers wiesen einige Feldherren darauf hin, dass es schwierig werden könnte, zwischen Katholiken und Katharern zu unterscheiden. Daraufhin verkündete der katholische Legat Arnaud Amaury: »Tötet sie alle. Gott wird die Seinen schon erkennen

In der Renaissance blühte der Meuchelmord. Das war keine neue Idee, aber nun löste man häufiger damit Probleme, als durch richterliche Schiedssprüche. Spanier und Italiener perfektionierten den Meuchelmord. Er wurde geradezu zu einer Kunstform erhoben.

Jahrhunderte hindurch wurde das Duell als akzeptable Form der Konfliktlösung betrachtet. Auch wenn diese Duelle nach festen Regeln abliefen und die Duellanten sich höflich zueinander verhielten, so war es doch nur ein Weg, einen Gegner durch Gewalt umzubringen, ohne dabei mit dem Staat in Konflikt zu geraten, der ansonsten Gewalttätigkeit außerhalb von Kriegen verbot.

Heute wird oft heute suggeriert, dass Gewalt keine Lösung für Probleme sei. Der Staat versucht, die Gewalt in der Öffentlichkeit durch massive Überwachung einzudämmen. Ob dies sinnvoll ist, ist zumindest fraglich.3 Wenn es wirklich einmal hart auf hart kommt, dann ist höchstwahrscheinlich niemand da, der Ihnen beistehen wird. – Wehren Sie sich mit allen Mitteln! Es gibt keinen Grund, Schuldgefühle gegenüber einem Angreifer zu empfinden, wenn dieser durch Ihre Notwehrhandlung zu Schaden kommt. Der Angreifer ist derjenige, der für den Kampf verantwortlich ist, niemand sonst.

Wir möchten an dieser Stelle aber nochmals betonen, dass man sich im Klaren darüber sein muss, dass man mit aktivem Selbstschutz leicht in eine rechtliche Grauzone geraten kann. Zwar existiert ein Notwehrparagraph, und selbst die Überschreitung der Notwehr, wenn diese aus Angst oder Verwirrtheit geschieht, wird für gewöhnlich nicht geahndet. Aber niemand kann sich letzten Endes darauf verlassen, dass ein Richter seine Notwehrlage auch als solche anerkennt. Tatsache ist jedoch, dass es unmöglich ist, sich mit Zurückhaltung und Bedenken gegen einen skrupellosen Angreifer zu schützen.

»Gewinnen ist eine Angewohnheit«

Dieser Spruch stammt von Vince Lombardi.1 Er verweist mit knappen Worten auf den Kern der Sache. Gewinnen muss man wollen. Es spielt dabei keine Rolle, ob man einen Kampf am Ende tatsächlich gewinnt oder nicht. Wenn man aber die Möglichkeit eines solchen in Betracht zieht, sollte man auch gewinnen wollen. Ohne diesen unbedingten Willen ist es nicht ratsam, sich auf Gewalt einzulassen. Doch auch wenn Sie bereit sind, sich darauf einzulassen, sollten Sie sich der Gefahren bewusst sein. Es ist immer möglich, dass Sie während eines Kampfes verletzt oder getötet werden. Und auch nach einem erfolgreich bestandenen Kampf drohen unter Umständen große Gefahren: Sie könnten das Opfer eines Racheakts werden, oder Sie werden zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil Sie aus Sicht des Richters unverhältnismäßig auf eine Bedrohung reagiert haben.

Hinzu kommt der Aspekt des Gewissen. Falls Sie gezwungen waren, den Gegner zu töten – selbst wenn das Recht dabei auf Ihrer Seite war –, bleibt abzuwarten, ob Sie damit umzugehen verstehen. Der beste Weg ist und bleibt der, sich, soweit es geht, von körperlicher Gewalt fernzuhalten, obwohl wir fairerweise zugeben müssen, dass man diese Gewalt oft nur verstehen lernt, wenn man sich mit ihr direkt befasst, d. h., wenn man Auseinandersetzungen nicht immer aus dem Weg geht. Doch Gewalt erzeugt grundsätzlich Gegengewalt. Rache und Vergeltung sind starke Motivationen. Und die Situation kann derart eskalieren, dass Sie als Einzelner keinen ausreichend Schutz vor der Gewalt mehr finden können.

Früher, vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, war es oft so, dass Straßenschläger sich nach einem Kampf die Hände reichten. Man sah das Ganze in einem sportlichen Sinne. Von roher Gewalt hatten die Menschen damals mehr als genug. Doch wir sind vergesslich. Bereits in den 60ern nahm man es mit der Fairness nicht mehr so genau. In den letzten Jahren hat die Gewaltbereitschaft potentieller Gewalttäter ein Maß erreicht, das kaum noch steigerbar zu sein scheint.2

Geht es um Gewalt und Gegengewalt, zählt nur noch das Recht des Stärkeren beziehungsweise des Gewalttätigeren. Um sich einen Vorteil zu schaffen, muss man in vielen Fällen einfach zuerst zuschlagen, nachsetzen und alles an Zerstörungskraft auf den Gegner niederprasseln lassen, was in den eigenen Kräften steht, vor allem, wenn man es mit einem offenkundig kampferprobten Gegner zu tun hat. Das bedeutet auch, dass wir im Falle eines Angriffs geistig sofort auf Kampf umschalten.

Im Vorfeld eines Kampfes ist jeder Trick, jede List zulässig. Seien Sie freundlich, verlegen, ängstlich, schüchtern, wenn es Ihrem Ziel, den Konflikt zu gewinnen, dienlich ist. Führen Sie den Gegner mit falschen Emotionen hinters Licht. Die meisten Schläger verwechseln Freundlichkeit mit Schwäche. Dann, wenn es die Situation erfordert, schalten Sie um. Werden Sie rücksichtslos und brutal. Gute Türsteher und erfolgreiche Schläger kennen sich mit den menschlichen Emotionen besser aus als mancher Psychologe. Die alten Chinesen prägten für diese Herangehensweise einen klugen Spruch: »Verstecke das Messer hinter einem Lächeln.« Diese Art des hinterlistigen Kampfes ist tatsächlich uralt. Je rücksichtsloser und hinterlistiger Sie vorzugehen bereit bist, desto freundlicher und bescheidener können und sollten Sie auftreten. Wer häufig mit Gewalt konfrontiert wird, dem gelingt es oftmals nur schwer, die Maske der Freundlichkeit aufzusetzen. Aber eine herausfordernde Haltung bringt einem letztendlich nur umso mehr Herausforderungen ein. Viele Meister der Kampfkünste befanden sich in diesem Dilemma. Sie bauten sich einen Ruf auf, um potentielle Angreifer abzuschrecken und mussten dann oft gerade deswegen kämpfen.

Umgekehrt bedeutet dies auch, sich stets ein gesundes Misstrauen zu bewahren, wenn jemand sich ohne erkennbaren Grund Ihnen gegenüber freundlich und zuvorkommend verhält. Naivität kann in solch einer Situation sehr gefährlich sein. Es kann geschehen, dass auf diese Weise nur Ihre Aufmerksamkeit abgelenkt werden soll, und im nächsten Augenblick sind Sie plötzlich das Opfer eines Raubüberfalls. Viele Diebesbanden gehen so vor.

 

Im Grunde geht es bei all dem um Anpassungsfähigkeit. Halten Sie sich stets alle Möglichkeiten offen, soweit dies machbar ist. Bleiben Sie so flexibel, wie es geht.

Für Gewalttäter gibt es keine Regeln und Grenzen. Der Kampf mit ihnen kann demzufolge auch nicht wie im Schulunterricht gelehrt werden. Aus diesem Grund funktionieren so viele Kampfsportarten bei einer Schlägerei auf der Straße nur selten. Deren Techniken sind an das Umfeld der Sporthalle angepasst. Sie haben sich im Laufe der Zeit verändert, wurden entschärft und vielfach sogar ästhetischen Vorstellungen unterworfen. Die ursprünglichen Bewegungen der alten Kampfkünste sind hingegen knapp, ohne Schnörkel und nur auf Wirksamkeit ausgerichtet. In der Tat erkennt man zwischen den Kampfbewegungen eines Schlägers und denen eines traditionell ausgebildeten Kampfkünstlers oft keinen Unterschied. Das hat den Vorteil, dass diese natürlichen Bewegungen »leicht zu merken« sind. Sie werden vom Körper als natürlich empfunden, da sie eben nicht künstlich anerzogen wurden. Während eines Kampfes brauchen Sie daher nicht zu überlegen, ob Ihre Technik »korrekt« ist oder nicht. Sie wird funktionieren, wenn Sie gewillt sind, sich zu schützen.

Selbstschutz ist heute genauso notwendig wie vor tausend Jahren. Angegriffen konnte man damals und kann man heute werden. Aber die Bequemlichkeiten und die scheinbare Sicherheit der modernen Zeit lassen uns dies vergessen. Zwar werden wir mit unzähligen Gewaltberichten in den Medien konfrontiert, aber die meisten von uns haben das Gefühl, dass sie so etwas gar nicht betreffen kann. Wir blenden die Gefahr aus oder verharmlosen sie zumindest. Das ist gefährlich, denn wir bereiten uns nicht mehr energisch genug auf einen möglichen Angriff vor. Der Staat, so gut er auch insgesamt für seine Bürger sorgen mag, ist machtlos bei einem gegen Sie gerichteten Angriff. Die Staatsmacht ist nicht da, wenn wir auf offener Straße, bei Tag oder Nacht, angegriffen, schwer verletzt oder getötet werden. Je besser der Staat zu sein scheint und je demokratischer seine Ausrichtung, desto weniger werden Sie vor Übergriffen durch Gewalttäter sicher sein. In autoritären Regimes wirkt die vom Staat ausgeübte Gewalt, die massive Präsenz von Polizei und Militär der Gewalttätigkeit Krimineller wirksamer entgegen, als dies in Demokratien der Fall ist. Doch der Preis für die höhere Sicherheit ist die Beschränkung der persönlichen Freiheiten.

Verlassen Sie sich nur auf sich selbst, wenn es um Ihre Sicherheit geht. – Gewinnen ist eine Angewohnheit … Es liegt vollkommen bei Ihnen, wie Sie mit einer realen Gefahr von Seiten anderer Menschen umgehen. Das Motto für die Art des Kämpfen, die wir für sinnvoll halten, lautet: »Agiere, wenn du kannst; reagiere, wenn du musst.« Beim ersten Anzeichen einer gegen Sie gerichteten Gefahr müssen Sie der Bedrohung zuvorkommen. Lassen Sie sich niemals das Heft aus der Hand nehmen. Ergreifen Sie vor ihrem Kontrahenten die Initiative, machen Sie seine Vorteile zunichte. Es kann natürlich sein, dass ein erheblicher Unterschied in Ihrer Biographie und der Ihres Angreifers existiert. Sie sind vielleicht von Natur aus friedfertig, und das kriminelle Milieu ist Ihnen völlig fremd. Ihr Gegner hat dagegen vielleicht schon Jahre hinter Gittern verbracht. Damit haben Sie wahrscheinlich einen gut motivierten und umfassend trainierten Kämpfer vor sich. Denn das Gefängnis dient vielen Insassen in dieser Hinsicht als »Schule«. Werden sie entlassen, sind sie oft gefährlicher als vorher. Sie sind häufig voll Hass, haben nur wenige Skrupel, aber dafür haben sie viel Erfahrung darin gesammelt, wie sie friedfertige Leute noch besser terrorisieren können als zuvor. Sollten Sie von einem derartigen Zeitgenossen angegriffen werden und bringen nicht die nötige Entschlossenheit zur Gegenwehr mit, dann haben Sie verloren.

Vergessen Sie, wenn Sie bedroht werden, aber jeglichen Vorsatz in Bezug auf Ihre Techniken. Techniken lassen Sie nachdenken. Vergessen Sie auch alles, was Sie über die Verhältnismäßigkeit der Mittel gehört haben.3 Das würde Sie in die Defensive zwingen. Während eines gegen Sie gerichteten Übergriffs haben Sie keine Zeit, über solche Aspekte nachzudenken. Lassen Sie das Tier in sich los. Oder anders ausgedrückt: Ihre Gegengewalt muss die gegen Sie verübte seelische oder körperliche Gewalt noch überbieten.

In einem Kampf auf Leben und Tod können Sie sich keine Skrupel erlauben.4 Aber woher soll man wissen, ob man sich mit allen Mitteln schützen muss oder ob es sich bloß um eine normale Rauferei handelt? Nun, das herauszufinden ist recht einfach. Entweder Sie üben sich im Kämpfen, und wenn Sie das nicht wollen oder können, dann verlassen Sie sich auf Ihre Instinkte. Meist werden Sie damit richtig liegen. Aber um es noch einmal klar auszudrücken, für einen im Kämpfen mehr oder weniger unerfahrenen Menschen kann sich eine bewusste Situationsanalyse fatal auswirken. Die Sekunden, die Sie benötigen, um sich angemessen zu entscheiden, sind vielleicht die letzten Ihres Lebens. Gehen Sie kein Risiko ein. Das heißt zum Beispiel: Greift man Sie mit einem Faustschlag an, kontern Sie mit einem Handkantenschlag auf die Halsschlagadern Ihres Kontrahenten und zwar mit doppelter Wucht und Aggressivität.5 Wer das für übertrieben hält, dem halten wir entgegen, dass der Angriff mittels Faustschlag meist nur der Auftakt ist und dass manche Schläger, wenn sie erst die Oberhand gewonnen haben, eine geradezu unglaubliche Brutalität entwickeln und selbst reglos am Boden liegende Opfer noch mit Fußtritten traktieren, und dies ohne die geringsten Hemmungen. Wenn man die Gewalt nicht im Ansatz neutralisiert, hat man oft keine Chance mehr dazu. Wer will also entscheiden, was für unser eigenes Leben das Beste ist? Das kann niemand, weder ein Richter, noch ein Staatsanwalt oder ein Polizist. Wir persönlich fänden es sehr vermessen, wenn uns jemand vorschreiben wollte, wie und mit welchen Mitteln wir uns verteidigen dürfen. Wenn wir angegriffen werden, dann haben wir jedes natürliche Recht, unser Leben zu schützen. Kommt unser Kontrahent dabei zu Schaden, ist dies nicht unsere Schuld. Er hätte eben seine Finger von uns lassen müssen.

Wir geben zu, dass es im größten Teil der Welt die meiste Zeit über friedlich zugeht. Auch in unserem Land mit seinen über 80 Millionen Einwohnern gibt es verhältnismäßig wenige »Entgleisungen«. Dieser Zustand ist lobenswert, doch trügerisch. Wir verlernen heute im Großen und Ganzen, uns auf uns selbst zu verlassen, auf unsere Sinne und Instinkte zu vertrauen. Es gab sicher nicht viele Zeitpunkte in der Geschichte, in denen wir Kurse und Seminare besuchen konnten und mussten, in denen wir dieses Auf-uns-selbst-vertrauen von Grund auf erlernen müssen. Jahrtausendelang war das eine reine Selbstverständlichkeit. Soldaten, Krieger und auch Jäger der früheren Tage bekamen leicht ein Gespür für die Situation. Sie erkannten Gefahren, ehe sie sich manifestierten. Wir hingegen bekommen kaum noch etwas von dem mit, was sich um uns herum abspielt. Funakoshi Gichin6 sagte einst: »Unglück geschieht immer aus Unachtsamkeit«. Das können wir unterschreiben.

Das Prinzip der Biene

Eine Biene sticht, wenn sie angegriffen wird oder wenn sie sich bedroht fühlt.1 Dass sie dafür sterben muss, ist der Preis, den sie dafür zahlt. Dieses Verhalten ist wirklich interessant, da die meisten wehrfähigen Insekten keinen so hohen Preis für ihre Verteidigung zahlen. Auf den Menschen übertragen heißt das, wir sind friedlich, solange wir nicht bedroht werden. Aber falls man uns angreift, nutzen wir jedes zur Verfügung stehende Mittel zu unserem Schutz, wenn es sein muss, unter Einsatz des eigenen Lebens.

Um sich selbst zu schützen, benötigt man eigentlich keine gezielte Ausbildung. Jeder Mensch hat das Rüstzeug für die Verteidigung und den Angriff von der Natur mitbekommen. Aber aufgrund der vielen Bequemlichkeiten im Alltag hat sich der moderne Mensch vom »Normalfall« weit entfernt. In diversen Selbstverteidigungskursen wird suggeriert, dass jeder, wenn er nur ein paar einfache Tricks lernt, sich wirksam verteidigen könne. Das ist leider ein Wunschtraum.

Vor einiger Zeit besuchten wir einen Lehrgang für Behinderten-Selbstverteidigung. Den Teilnehmern, meist Rollstuhlfahrer, wurde gezeigt, wie sie sich im Falle eines Überfalls zu wehren hätten. Die vorgegebenen Beispiele funktionierten aber nur, wenn der potentielle Angreifer von vorn kommt und als solcher zu erkennen ist. Solche Angreifer gibt es nicht. Das ist nicht realistisch. Auch wenn es unangenehm ist, so etwas gesagt zu bekommen: Ein entschlossener Gewalttäter überrumpelt schon die meisten gesunden Menschen. Ein Rollstuhlfahrer hat außer lautem Schreien so gut wie keine Möglichkeit, sich vor einem Überfall zu schützen. Es sei denn, er besitzt eine Schusswaffe, kann mit dieser umgehen, hat die Waffe auch rechtzeitig zur Hand und, vor allem, erkennt den Angreifer früh genug als solchen …

Foto 1


Foto 2


Foto 3

Fotos 1 bis 3: In einem für Sie aussichtslosen scheinenden Kampf mit einem körperlich überlegenen Gegner, in dem ihr Leben bedroht ist, greifen Sie mit aller Macht einen letalen Punkt (zum Beispiel Kehlkopf oder Genick) an. Die Bilder zeigen einen Angriff von zwei Seiten auf den Hals. Aus dem gegenläufigen Zug und Druck kann der Angreifer nur schwer entkommen. Seien Sie sich bewusst, dass Sie in einer solchen Situation höchstwahrscheinlich selbst schwere Schäden erleiden werden, da der Angreifer Sie hemmungslos attackiert.


Foto 4


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Foto 6


Foto 7

Fotos 4 bis 7: In den Formen der traditionellen Kampfkünste sind viele Techniken enthalten, die Anwendungen, wie sie auf Fotos 1 bis 3 gezeigt werden, entsprechen. Hier ein Beispiel aus dem chinesischen Kampfstil bāguàzhǎng.

Das Prinzip der Biene soll verdeutlichen, dass Entschlossenheit in einem Kampf überlebenswichtig ist. Wir hätten das Kapitel auch »Prinzip der Ameise« nennen können; im Buch »Walden« von Henry David Thoreau2 beschreibt dieser einen sehr interessanten Kampf, den wir hier wiedergeben:

Als ich eines Tages zu meinem Holzstoß, vielmehr zu meinem Stoß von Baumstümpfen ging, beobachtete ich zwei große Ameisen. Die eine war rot, die andere schwarz und fast einen Zoll lang. Sie kämpften erbittert miteinander. Hatten sie sich einmal festgebissen, dann ließen sie nicht wieder los, sondern kämpften, rangen und rollten unentwegt auf den Hobelspänen umher. Mit Erstaunen entdeckte ich überall auf den Spänen solche Kämpfer. Also war es nicht ein duellum, sondern ein bellum3; zwei Ameisenrassen bekämpften einander. Überall stellten sich die Roten gegen die Schwarzen, häufig zwei gegen eine. Die Legionen dieser Myrmidonen4 bedeckten alle Hügel und Täler meines Waldplatzes; der Boden war mit Toten und Sterbenden beider Parteien bedeckt. Das war die einzige Schlacht, der ich je beiwohnte, das einzige Schlachtfeld, das ich während der Schlacht betrat. Vernichtungskampf. Auf der einen Seite die roten Republikaner, auf der anderen Seite die schwarzen Imperialisten. Beide Seiten waren in den tödlichen Kampf verstrickt. Ich konnte jedoch keinerlei Geräusch vernehmen. Niemals kämpften menschliche Soldaten verbissener.

 

Ich beobachtete ein eng miteinander verflochtenes Kämpferpaar in einem kleinen sonnigen Tal zwischen den Spänen. Jetzt unter Mittag schickten sie sich an, bis Sonnenuntergang oder bis zum letzten Atemzug zu kämpfen. Der kleinere rote Soldat hielt wie ein Schraubstock des Gegners Vorderseite fest umklammert. Bei allem Hin und Her auf diesem Feld ließ er niemals davon ab, den einen Fühler des Gegners nahe der Wurzel zu benagen; den anderen hatte er schon kleinbekommen. Der stärkere Schwarze schleuderte den Gegner von einer Seite zur anderen. Wie ich bei näherem Hinschauen bemerkte, hatte er ihm schon mehrere Glieder abgerissen. Sie kämpften hartnäckiger als Bulldoggen. Offensichtlich war ihr Schlachtruf: »Sieg oder Tod!« Unterdessen kam ein einzelner roter Krieger mit allen Zeichen der Aufregung am Hang des Tales daher. Entweder hatte er seinen Feind schon erledigt oder sich bisher noch nicht an der Schlacht beteiligt. Das letztere war wohl der Fall, denn er hatte noch keines seiner Glieder eingebüßt. Sicher hatte die Mutter ihm aufgetragen, entweder mit seinem Schild oder darauf zurückzukehren. Vielleicht war er auch ein Achill und hatte abseits seinen Groll genährt, kam aber nun, um Patroklos5 zu retten oder zu rächen. Dieser Krieger sah den ungleichen Kampf von ferne. Denn die Schwarzen waren fast doppelt so groß wie die Roten. Mit schnellem Schritt kam der rote Soldat heran und blieb einen halben Zoll von den Kämpfenden entfernt im Hinterhalt. Dann sprang er im günstigsten Moment auf den schwarzen Krieger los und begann seine Operationen im Ansatz von dessen rechten Vorderbein. Mochte der Feind unter seinen eigenen Gliedmaßen wählen! So waren diese drei fürs Leben verkettet, als hätte man eine neue Befestigungsart erfunden, die alle Schlösser und jeden Zement in den Schatten stellte. Mich hätte es nicht gewundert, die jeweiligen Musikkapellen der beiden Armeen auf einem hochgestellten Span aufgestellt zu finden, wo sie unterdessen die Nationalhymnen spielten, um die Zögernden anzufeuern und die Sterbenden zu trösten. Ich selbst war fast so aufgeregt, als kämpften hier Menschen. Je mehr man darüber nachdenkt, desto geringer wird der Unterschied. Ganz gewiss liest man weder in der Geschichte Amerikas noch in den Annalen Concords6 von einer Schlacht, die auch nur einen Augenblick den Vergleich mit dieser aushält, weder was die Zahl der Kämpfenden anlangt, noch den entfalteten Patriotismus und Heroismus. Nach Zahlen und Gemetzel war dies ein Austerlitz oder Dresden7. Was ist dagegen die Schlacht bei Concord? Zwei Tote bei den Vaterlandstreuen und Luther Blanchard8 verwundet. Nun, hier war jede Ameise Buttrick: »Feuert, um Gottes willen feuert!« …9 Nicht einen Söldner gab es hier. Für mich besteht kein Zweifel, dass diese Ameisen genauso für eine Idee kämpften wie unsere Vorfahren, freilich nicht, um einer geringen Steuer für ihren Tee zu entgehen. Die Ergebnisse dieser Schlacht werden für die, die es anging, mindestens ebenso bedeutsam und denkwürdig sein wie die Schlacht am Bunker Hill.10

Ich nahm den Span mit den drei beschriebenen Kämpfern auf und trug ihn in mein Haus. Dort stülpte ich auf dem Fensterbrett ein Glas darüber, um den Ausgang des Kampfes zu sehen. Durch die Lupe sah ich, dass der Leib der roten Ameise ganz aufgerissen war und die Eingeweide unter den Zangen des Schwarzen bloßlagen. Trotzdem nagte die Rote eifrig am Vorderbein des Feindes, dem sie beide Fühler schon abgerissen hatte. Die Brustplatte des Schwarzen war offenbar zu dick, der rote Kämpfer konnte sie nicht durchdringen. Die dunklen Karfunkelaugen des Leidenden glänzten in einer Wildheit, die nur der Krieg entfachen kann. Länger als eine halbe Stunde kämpften sie unter dem Glas. Als ich wieder hinsah, hatte der schwarze Krieger die Köpfe seiner Feinde abgerissen, und sie hingen – noch lebend – zu seinen Seiten wie grausige Trophäen am Sattelbogen, noch ebenso fest verbissen wie früher. Mit matten Bewegungen suchte er sich von ihnen zu befreien, das gelang ihm nach einer weiteren halben Stunde. Er selbst hatte keine Fühler mehr, nur noch den Stumpf eines Beines, und ich weiß nicht wie viele Wunden. Ich hob das Glas ab, da lief er in diesem verkrüppelten Zustand über das Fensterbrett davon. Ob er schließlich dieses Gefecht überlebte und den Rest seines Lebens in einem »Hôtel des Invalides«11 verbrachte, weiß ich nicht. Jedenfalls würde nach meiner Meinung künftig seine Tätigkeit wenig wert sein.

Viele Kämpfer bleiben weit unter ihren Möglichkeiten, weil sie nicht annähernd so aggressiv vorgehen, wie es für einige Situationen angebracht ist. Bei Kämpfen, die unser Leben bedrohen und bei denen wir keine Rückzugsmöglichkeit haben, sollten wir von den obigen Beispielen lernen. Dabei ist das Kämpfen eine einfache Sache. Wir können es uns nicht erlauben, dass die Begleitumstände unsere kämpferischen Fähigkeiten einschränken. Wir sollten uns immer an die Fakten halten, d. h., an die reale Bedrohung. Werden wir angegriffen, folgen wir dem Prinzip der Biene. Wir greifen dann an, wenn wir bedroht bzw. angegriffen werden. Da wir nicht nur »ein bisschen« angegriffen werden, schützen wir uns auch nicht nur ein bisschen. Wir schützen uns mit allen Mitteln.

Ein erfahrener Kämpfer weiß oft bereits vor dem eigentlichen Kampf, ob er gewinnt oder nicht. Egal, ob es sich um einen Straßenkampf oder um einen Duellkampf handelt. Das ist ein Dilemma, denn wenn Sie erkennen, dass Sie den Kampf nicht gewinnen können, ihn aber auch nicht mehr zu verhindern vermögen, dann bleibt Ihnen nur der Fatalismus der Biene oder der von Thoreaus Ameisen.

Wer eine ernsthafte Chance im Kampf gegen geübte Schläger haben will, muss sich kontinuierlich körperlich und geistig darauf vorbereiten. Die Chinesen drücken das mit dem Spruch aus: »Der Staat ernährt (trainiert) seine Soldaten tausend Tage, um sie einen Augenblick zu gebrauchen.« Das gilt für uns ebenso. Abgesehen davon, dass ein in Kampfesdingen unerfahrener, doch gut trainierter Mensch im Kampf ebenso effektiv sein kann, wie ein erfahrener Kämpfer, schützt ein regelmäßiges Training auch vor Krankheiten und hält den Körper lange leistungsfähig. Das Prinzip der Biene besagt nicht nur, dass Sie sich mit allen Mitteln schützen sollen, sondern auch, dass Sie ein gewisses Maß an Fleiß aufbringen müssen, um sich vorzubereiten. Wir reden hier aber nicht von Sport und schon gar nicht von Leistungssport. Es geht um wissenschaftlich fundierten Trainingsmethoden, die möglichst täglich absolviert werden sollten, jedoch für den ganz normalen »Durchschnittsmenschen« geeignet und durchführbar sind.12 Ein bis zwei Stunden Training reichen aus – die Zeit eines Spielfilms im Fernsehen … Gewisse physische Fähigkeiten sind einfach notwendig, um wenigstens eine minimale Grundlage zu haben, die in extremen Situationen von Nutzen sein kann. Diese Trainingsmethoden werden immer im Zusammenhang mit anwendbaren Techniken stehen, welche wiederum aus bewährten Kampfkünsten stammen. Diese haben sich in einer Zeit entwickelt, in der es noch keine Feuerwaffen gab, man jedoch darauf angewiesen war, sich jederzeit schützen zu können. Diese Techniken sind direkt, einfach und für den Alltag geschaffen. Sie wurden in der Vergangenheit in gefährlichen Gewaltsituationen wieder und wieder erfolgreich angewandt. Dies ist der Grund, weshalb sie überhaupt überliefert werden konnten.

Auch dieses Buch kann Ihnen keine allgemeingültigen Tipps geben, die für jede Situation passen. Es geht u. a. darum, Ihnen ein Gefühl für Gefahrensituationen zu vermitteln und eine mögliche Herangehensweise. In einem Buch werden immer Idealfälle dargestellt, die nur schwer in die Realität übertragbar sind. Wenn dieses Buch es vollbringt, Ihnen ein gewisses Grundverständnis für die komplexe Realität des Kampfes zu vermitteln, ist schon einiges erreicht.

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