Das einfache Leben

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Das einfache Leben
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Ernst Wiechert

Das einfache Leben

Ernst Wiechert

Das einfache Leben

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021

EV: Langen & Müller, München, 1939

1. Auflage, ISBN 978-3-962817-90-9

null-papier.de/699


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Inhaltsverzeichnis

Zi­tat

1

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5

6

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8

9

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  Ha­zard

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  Katz’ und Maus

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Zitat

Ein drit­tes Mal be­geg­ne­te Yen-Hui Kung-Fu-Tse und sag­te: »Ich kom­me wei­ter.«

»Wie das?« frag­te Kung-Fu-Tse.

»Ich bin al­les los­ge­wor­den«, ant­wor­te­te Yen-Hui.

»Al­les los­ge­wor­den!« sag­te Kung-Fu-Tse er­grif­fen. »Was meinst du da­mit?«

»Ich habe mich von mei­nem Kör­per frei ge­macht«, ant­wor­te­te Yen-Hui.

»Ich habe mei­ne Ge­dan­ken ent­las­sen. Da ich so Lei­bes und Geis­tes le­dig wur­de, bin ich eins mit dem All­durch­drin­gen­den ge­wor­den. Das ist es, was ich da­mit mei­ne, dass ich al­les los­ge­wor­den bin.«

Re­den und Gleich­nis­se des Tschuang-Tse

1

Nicht lan­ge nach dem großen Krie­ge stand um die Abend­zeit ei­nes Vor­früh­lings­ta­ges ein Mann an ei­nem der West­fens­ter sei­nes Hau­ses und hob, in Ge­dan­ken ver­lo­ren, den Blick von ei­nem al­ten und un­an­sehn­li­chen Buch, das er in den Hän­den hielt. Der große Abend­him­mel, wol­ken­los und von fer­nen Feu­ern bren­nend, er­füll­te durch das wei­te Fens­ter den gan­zen Raum mit röt­li­chem Licht. Die far­bi­gen Ein­bän­de in der Bü­cher­wand glüh­ten, die fremd­ar­ti­gen Waf­fen und Mas­ken in ei­nem seit­li­chen Schrank schim­mer­ten in ei­nem fast bö­sen Glanz, und der un­ter Qualm und Ne­bel feu­ern­de Kreu­zer auf dem ein­zi­gen Bil­de an der Wand schi­en, so be­glänzt, ge­ra­des­wegs in den flam­men­den Ab­grund ei­ner Göt­ter­däm­me­rung hin­ein­zu­stür­men.

Aber das ver­zau­bernds­te Licht sam­mel­te sich auf der ge­wölb­ten Flä­che des rie­si­gen Glo­bus, der auf ei­nem schwar­zen So­ckel frei vor der Mit­te der Bü­cher­rei­hen stand. Sei­ne Ge­bir­ge wa­ren mit brau­nen Er­he­bun­gen an­ge­deu­tet, sei­ne Ebe­nen wie Wie­sen ge­tönt, von dem Netz­werk der Stro­me durch­floch­ten, und sei­ne blau­en Mee­re schim­mer­ten nun pur­purn im Abend­licht.

Die Bli­cke des Man­nes, vom Lich­te ge­löst, wen­de­ten sich dem be­strahl­ten Ab­bild der Erd­ku­gel zu, wo die klei­nen In­sel­grup­pen wie Per­len im In­di­schen Ozean schwam­men und der Pik von Co­lom­bo einen spit­zen Schat­ten über die Flut zu wer­fen schi­en. Die Küs­ten der Mee­re wa­ren mit ei­nem fei­nen Glut­strich ge­gen die Fest­län­der ab­ge­setzt, und jen­seits des Hi­ma­la­ja, auf den gel­ben ti­be­ta­ni­schen Län­dern, schi­en schon eine schwei­gen­de Däm­me­rung auf frem­de Stern­bil­der zu war­ten.

Lan­ge blieb der Mann in die­ses Bild ver­sun­ken, bis es un­ter grün­li­chen und grau­en Schat­ten im­mer mat­ter wur­de, die Küs­ten ver­schwam­men, die Tä­ler sich ver­dun­kel­ten und es zu ei­ner blas­sen Schei­be er­losch, ei­nem fer­nen Gestir­ne gleich im Rau­me schwe­bend.

Nun, in der wach­sen­den Stil­le des Abends, hob das Brau­sen der ab­sei­ti­gen Haupt­stadt sich über die Gär­ten der Vor­städ­te und stand wie der Ton fer­ner Bran­dung, un­merk­lich stei­gend und fal­lend, über der Däm­me­rung. In den licht­grün ver­blass­ten Him­mel rag­ten die Stäm­me der Kie­fern, schwarz und un­be­wegt, über ei­ner fer­nen Stra­ße schim­mer­ten wei­ße Lam­pen auf, schnell und nach­ein­an­der, und wer lan­ge auf dem Mee­re ge­lebt hat­te, moch­te nun bei halb­ge­schlos­se­nen Au­gen leicht sich ein­bil­den, wie­der auf ei­ner Brücke zu ste­hen oder hin­ter den Fens­tern der Ka­jü­te,1 das lei­se Brau­sen des Schif­fes im Ohr, in­des die Lich­ter des Lan­des sich fern und laut­los ver­scho­ben, zu­rück­g­lit­ten und erstar­ben, hin­ab­ge­taucht hin­ter die Krüm­mung der Erde, und das Un­be­fah­re­ne vor dem Bug2 sich nun be­herr­schend er­hob.

Im letz­ten Licht nahm der Mann noch ein­mal das Buch vor die Au­gen, als woll­te er sich ei­ner be­stimm­ten Stel­le ver­ge­wis­sern, dass sie auch noch da­ste­he, nicht mit­ge­löscht von der Däm­me­rung der Welt. Dann ließ er es sin­ken und blick­te hin­aus, die lin­ke Schlä­fe an den Vor­hang des Fens­ters ge­legt. Sein Ge­sicht über dem dunklen Rock emp­fing nun das letz­te Abend­licht. Schat­ten sam­mel­ten sich un­ter der Stirn und in den tie­fen Fal­ten, die von den Na­sen­flü­geln zum Mun­de lie­fen, und so war das Ge­sicht nun nicht un­ähn­lich ei­nem ver­klei­ner­ten und ver­schmä­ler­ten Ab­bil­de je­ner Erde, die vor den Bü­cher­rei­hen schweb­te, de­ren Tä­ler im Schat­ten ver­dun­kel­ten und de­ren Um­ris­se sich ver­lo­ren, so­dass nur ein mat­ter Schein an der Stel­le des Ge­gen­ständ­li­chen blieb.

Spä­ter, als die Tür sich plötz­lich öff­ne­te und das Licht des Flu­res fast grau­sam in den schwei­gen­den Raum hin­ein­brach, ließ der Mann sich Zeit, das Ge­sicht nach der im Tür­rah­men Ste­hen­den zu wen­den, und be­vor er sie er­blick­te, tra­ten zu­erst die we­ni­gen nun er­hell­ten Din­ge des Rau­mes in sein Be­wusst­sein: das Bild des Kreu­zers an der Wand, der nun. wie im Licht ei­nes Schein­wer­fers, im­mer noch aus den Pan­zer­tür­men sei­ne düs­ter­ro­ten Sal­ven schoss, eine schma­le Bü­cher­säu­le, die scharf be­grenz­te Bahn ei­nes ro­ten Tep­pichs und eine schma­le Kan­te des Glo­bus, die wie eine Si­chel leuch­te­te.

Dann erst sah er die Frau, die im Abend­kleid auf der Schwel­le stand und den blo­ßen Arm nach dem Licht­schal­ter aus­streck­te.

»Lass das!« sag­te er scharf.

 

Sie hielt in der Be­we­gung inne, ohne den Arm sin­ken zu las­sen, und auch wenn sie nicht im Licht ge­stan­den hät­te, wür­de er ge­wusst ha­ben, dass sie lä­chel­te, nicht ohne Spott, aber auch nicht ohne Scho­nung.

»Träumt man wie­der?« frag­te sie.

»›Man‹ hat ge­le­sen«, er­wi­der­te er, trat an den Schreib­tisch und leg­te das ge­öff­ne­te Buch sorg­fäl­tig auf die lee­re Plat­te. »In ei­nem Psalm, in dem man seit der Kon­fir­ma­ti­on nicht mehr ge­le­sen hat­te, und dort hat man den Vers ge­fun­den: ›Wir brin­gen un­se­re Jah­re zu wie ein Ge­schwätz.‹ Dar­über hat man nach­ge­dacht.«

»Hel­den und Den­ker«, sag­te sie mit ih­rer tie­fen Stim­me, »das ist uns nun üb­rig­ge­blie­ben aus dem Krie­ge …«

Es habe Zeit­al­ter ge­ge­ben, mein­te der Mann, die auf einen sol­chen Be­sitz sehr stolz ge­we­sen sei­en.

Ja, aber eben Zeit­al­ter … nun je­doch, nach die­sen furcht­ba­ren Jah­ren, wol­le man we­der kämp­fen noch den­ken, son­dern eben le­ben, nichts als le­ben.

Auch die Tie­re woll­ten das, und zwar das al­lein.

Ja, das sei eben das Schö­ne und Ge­sun­de an ih­nen. Sie lä­sen we­der Psal­men noch starr­ten sie in die Abend­däm­merung.

»Manch­mal«, sag­te er, in­dem er auf die be­leuch­te­te Kan­te des Glo­bus starr­te, »ver­ste­he ich nun die ganz ein­fa­chen, ganz pri­mi­ti­ven Män­ner, die ab und zu die Lust an­kommt, ihre Frau­en zu schla­gen …«

Sie lach­te, ganz hei­ter und sorg­los, und un­ter ih­rer Hand brach nun doch ohne War­nung das wei­ße Licht aus der Kup­pel un­ter der De­cke her­aus. »Das muss ich se­hen«, sag­te sie, »den Mann, den die­se Lust eben an­ge­kom­men ist.«

»Ich habe nicht von mir ge­spro­chen«, er­wi­der­te er und sah sie über den Raum hin­weg fins­ter an. Ihre Ge­stalt war schmä­ler ge­wor­den in die­sen dump­fen Jah­ren, ihre Züge schär­fer, ihre Au­gen glän­zen­der. Nur ihr Kin­der­mund war der glei­che ge­blie­ben, trotz der leuch­ten­den Far­be, die sie nun auf­trug, klein, mit weh­mü­tig ge­neig­ten Win­keln, und nie­mals wuss­te er, ob sie im Zorn oder im Wei­nen er­be­ben wür­den.

Sei­ne Ge­dan­ken gin­gen zu­rück zu der Zeit ih­rer ers­ten Lie­be, und er be­griff, wie viel der Krieg ih­nen al­len ge­raubt hat­te. »Geh nun«, sag­te er freund­lich, »es führt ja doch zu nichts …«

Ihre Hand mit den fun­keln­den Rin­gen strich an den ro­ten Ein­bän­den ne­ben der Tür her­un­ter. »Es soll­te ja auch nur dazu füh­ren«, ant­wor­te­te sie, »dass du dich recht­zei­tig um­ziehst. Sie kom­men in ei­ner hal­b­en Stun­de, und du weißt, dass auch der Ad­mi­ral zu­ge­sagt hat. Es könn­te viel­leicht doch nicht ohne Wich­tig­keit für dich sein … er hat sehr viel Ein­fluss.«

Nun ging er doch quer durch den Raum bis zur Schwel­le und lösch­te das Licht. Dann fass­te er sie sanft bei den Ar­men, dreh­te sie um und schob sie in den Flur. Ihre küh­le Haut war ihm fast so fremd wie die ei­ner To­ten. »Set­ze dei­nen Nel­son auf mei­nen Glo­bus«, sag­te er, »und dann kniet vor ihm nie­der und be­tet ihn an, ihn und sei­ne Ein­flüs­se. Mich aber ekelt vor al­len die­sen Ge­s­pens­tern, ver­stehst du? Wer das Spiel ver­lo­ren hat, soll es zu­ge­ben, wie ich es zu­ge­be, und nicht be­haup­ten, be­teu­ern und be­schwö­ren, dass falsch ge­spielt wor­den sei.«

»Ach, Tho­mas«, sag­te sie und lä­chel­te über die Schul­ter zu­rück, »was bist du doch für ein un­vor­stell­ba­rer Narr …«

Er schloss die Tür, aber der Raum war nun nicht mehr der­sel­be. Eine Stra­ßen­lam­pe warf ihr un­ru­hi­ges Licht hin­ein, und der Schat­ten des Glo­bus lag als ein schwar­zer Kreis auf den Bü­cher­wän­den. »So ist es«, mur­mel­te er, »eine dunkle Erde, aber sie be­leuch­ten sie mit ih­ren Ei­tel­kei­ten … wer eine Schlacht ver­lo­ren hat, soll­te schweig­sam wer­den, und wir alle ha­ben mehr ver­lo­ren als eine Schlacht.«

Er lausch­te auf das Klir­ren von Glä­sern und Be­ste­cken in ei­nem fer­nen Raum. Dann trat er vor­sich­tig in den Flur, nahm Man­tel und Hut und öff­ne­te lei­se die Tür zum Kin­der­zim­mer. Die Schwes­ter saß auf dem Bett­rand und ver­such­te, ein klei­nes Holz­schiff un­ter der De­cke her­vor­zu­zie­hen. Aber die klei­nen Hän­de des Jun­gen hiel­ten es am an­de­ren Ende fest.

Bei­de Ge­sich­ter wen­de­ten sich ihm zu, das er­rö­ten­de der Schwes­ter und das zor­ni­ge des Kin­des. Er blieb ste­hen und be­trach­te­te es schwei­gend. Ja, es war sein Ge­sicht. Noch ein­mal wie­der­holt aus ei­ner Un­sum­me von Mög­lich­kei­ten. Lei­se ab­ge­wan­delt, fes­ter in der Stirn, här­ter in den Lip­pen, aber doch wie­der­holt. Sein Ge­sicht und nicht das an­de­re. Die Zu­kunft, das ein­zig aus dem Krie­ge Ge­ret­te­te.

»Was ist, Joa­chim?« frag­te er, noch im­mer ernst.

Die Schwes­ter öff­ne­te die Lip­pen, aber schon hat­te eine klei­ne, brau­ne, zer­schramm­te Hand sich über sie ge­legt. »Schwes­ter Bea­te sagt«, rief die hel­le Stim­me, »dass man mit ei­nem Kriegs­schiff nicht schla­fen geht, und ich habe ge­sagt, dass der Sohn ei­nes Ka­pi­täns mit zwan­zig Kriegs­schif­fen schla­fen ge­hen kann. Sag ihr, dass das recht ist, Va­ter!«

Tho­mas trat ans Bett und griff nach dem plum­pen Spiel­zeug. Die feind­li­chen Hän­de lie­ßen ge­hor­sam los, und er hob es vor die Au­gen wie vor­her das alte Buch. »Der Sohn ei­nes Ka­pi­täns kann in ei­nem Kriegs­schiff schla­fen, Joa­chim, oder auch un­ter ei­nem Kriegs­schiff, aber mit ei­nem Kriegs­schiff schla­fen, glau­be ich, nur klei­ne Mäd­chen, die es für eine Pup­pe hal­ten. Ein Jun­ge stellt sein Schiff auf den Schrank, dort, wo die Mor­gen­son­ne es trifft, und wenn er auf­wacht, dann steht es da und ruft ihn zu sei­nem Dienst, nicht wahr?«

Er sah, wie die Haut über der jun­gen Stirn sich fal­te­te in der An­stren­gung, je­des Wort zu ver­ste­hen, und er wen­de­te sich mit dem klei­nen Schiff in der Hand zum Spiel­zeug­schrank, um sei­ne Be­we­gung zu ver­ber­gen. Man hat­te im Krie­ge sel­ten Kin­der ge­se­hen.

»Du bist der klügs­te Mann auf die­ser Erde, Va­ter«, sag­te Joa­chim tief auf­at­mend, mit zwei­fel­lo­ser Si­cher­heit.

»Nicht ganz, Joa­chim, aber we­nigs­tens nicht der dümms­te … und jetzt wird ge­schla­fen, nicht wahr?«

»All­right, Va­ter. Lu­ken dicht und ge­pennt … sagt man so?«

»Ja, so sagt man.«

»Und wo­hin gehst du jetzt, Va­ter? Bleibst du nicht, wenn der Ad­mi­ral kommt?«

»Nein, ich habe vie­le Ad­mi­ra­le in mei­nem Le­ben ge­se­hen. Ich muss jetzt et­was su­chen ge­hen.«

»Was willst du su­chen?«

»Das wirst du spä­ter se­hen. Erst wenn man ge­fun­den hat, soll man sa­gen, was man ge­sucht hat. Ge­be­tet?«

»Ja, Herr Ka­pi­tän«, sag­te die Schwes­ter und zog die De­cke zu­recht.

Sei­ne Ge­dan­ken gin­gen schon wie­der fort. »Spä­ter, Schwes­ter«, sag­te er, »kön­nen Sie den Psalm mit ihm be­ten, in dem der Vers steht: ›Wir brin­gen un­se­re Jah­re zu wie ein Ge­schwätz.‹ Das ist ein gu­tes Ge­bet … ich habe es erst heu­te ge­fun­den …«

Ihre Au­gen, die ihn an­sa­hen, füll­ten sich lang­sam mit Trä­nen, aber er stand schon an der Tür und wink­te mit der Hand. »Wis­sen Sie, dass es eine Grab­schrift auf Ihren Na­men gibt, Schwes­ter Bea­te?« frag­te er. »Hö­ren Sie zu:

›Hier ru­het, die Bea­te hei­ßen soll­te,

und lie­ber sein als hei­ßen woll­te.‹

Ja, von Les­sing so­gar. Ich habe es neu­lich ge­fun­den … ›und lie­ber sein als hei­ßen woll­te …‹ Nun gute Nacht und schlaft wohl!«

Er lä­chel­te sein zer­streu­tes Lä­cheln und schloss lei­se die Tür hin­ter sich.

Drau­ßen blieb er eine Wei­le un­ter den Kie­fern des Vor­gar­tens ste­hen und sah zu den ers­ten Ster­nen auf. Im­mer noch war er auf dem Meer und such­te die lei­ten­den Bil­der über dem Ho­ri­zont. Ein Un­glück, dass sie schon zu An­fang des Krie­ges in die­se Stadt ge­zo­gen war, aber der Ha­fen war ihr ver­hasst ge­we­sen, von An­fang an. Sie hat­te das Meer nie­mals ge­liebt, die großen Win­de, das streng in den Rah­men des Diens­tes ge­spann­te Le­ben. Sie hat­te sei­ne Uni­form ge­liebt und ih­ren Traum, dass er in jun­gen Jah­ren Flot­ten­chef wer­den wür­de.

Er ging nun schon die Stra­ße zur Un­ter­grund­bahn ent­lang. Nein, so war es doch wohl nicht ge­recht … Lie­be war ge­we­sen, aber ohne Prü­fung und Leid, das war es. Sie alle hat­ten das Le­ben ja ge­nom­men wie Früch­te von ei­nem gu­ten Baum. Der lie­be Gott hat­te ihn in ih­ren Gar­ten ge­stellt, und sie pflück­ten und aßen. Wehe dem, der zu sa­gen wag­te, dass sie es nicht ver­dien­ten! Und doch ver­dien­ten sie es nicht, kei­ner von ih­nen. Der Aus­gang hat­te es be­wie­sen und auch das, wie sie es nun hin­nah­men. Ohne Wür­de, und wer ohne Wür­de ist, ist ohne Wert.

Man muss fort, dach­te er, wie aus ei­ner Pest­stadt. Sie wird nicht mit­ge­hen, aber ich muss fort. Ich will nicht ei­ner die­ser »un­be­sieg­ten Hel­den« wer­den. Ich weiß, bei Gott, wie be­siegt ich bin, mehr als sie ah­nen … nur das Kind, das Kind …

Er stand schon in dem küh­len Tun­nel und starr­te auf die Fahr­kar­te in sei­ner Hand. Ein un­ge­heu­rer Preis war quer über das brau­ne Blatt ge­druckt … wo­her nahm sie all das Geld? Für das Haus, die Mäd­chen, die Schwes­ter? »Es ist ei­nes Of­fi­ziers un­wür­dig, an der Bör­se zu spie­len.« Hieß es nicht so? Aber sie spiel­te si­cher­lich Tag und Nacht. Nicht nur Ad­mi­ra­le wa­ren un­ter ih­ren Gäs­ten. Die al­ten Göt­ter stürz­ten, Stun­de für Stun­de. Ein un­vor­stell­ba­rer Narr, das war er si­cher­lich.

Und wes­halb war­te­te er nur auf einen die­ser Züge? Auf die­se don­nern­den Un­ge­tü­me mit ih­rem grel­len Licht, ih­rer ver­brauch­ten Luft und den ver­wüs­te­ten Ge­sich­tern, die ge­ra­de­aus ins Lee­re starr­ten? Wes­halb war­te­te er fast je­den Abend auf sie, um ziel­los und sinn­los durch die­se Stadt zu fah­ren, die er hass­te? Stun­de für Stun­de, kreuz und quer? Mit der Stadt­bahn, dem Au­to­bus, der Stra­ßen­bahn? Durch die Elends­vier­tel und die Pa­läs­te (aber sie wa­ren elen­der als jene), die Au­gen von Ge­sicht zu Ge­sicht wen­dend, als such­ten sie et­was schreck­lich Ver­lo­re­nes? Konn­te er nicht mehr er­tra­gen, al­lein zu sein, oder tat er es ge­ra­de, um al­lein zu sein, hoff­nungs­los al­lein un­ter Ver­fluch­ten und Ver­lo­re­nen? Die an­de­ren kauf­ten Rausch­gif­te; an dunklen Stra­ßen­e­cken, fins­te­ren Tor­we­gen konn­te man sie ha­ben. Und er fuhr und fuhr, stieg aus und fuhr wie­der wei­ter, be­rausch­ter als sie alle, aber doch mit der eis­kal­ten Angst im Her­zen, es könn­te ihm ent­ge­hen, es könn­te nicht ge­fun­den wer­den, was er such­te: ein Ge­sicht, eine Er­kennt­nis, der Frie­de … er wuss­te es nicht.

»Nun, auch das wird ein Ende ha­ben«, sag­te er laut. Er sprach nun manch­mal mit sich selbst.

Er hat­te nicht auf das be­leuch­te­te Schild ge­se­hen und wuss­te nun nicht, wo­hin der Zug ihn führ­te. Er woll­te es auch nicht wis­sen. Er saß in sei­ner Ecke, sau­ber und ge­ra­de, und ließ wie im­mer die Bli­cke von Ge­sicht zu Ge­sicht wan­dern. Man­che wa­ren ihm nun längst be­kannt: der Mann mit dem Holz­bein und den Schnür­sen­keln, der nach­her an der großen Kir­che stand; die Schau­spie­le­rin, die zu ih­rer Vor­stel­lung fuhr und aus de­ren er­lo­sche­nem Ge­sicht zu le­sen war, dass sie an die­sem Abend zum hun­derts­ten- oder zwei­hun­derts­ten Mal die­sel­be Rol­le spiel­te; das Fa­brik­mäd­chen mit der ro­ten Schlei­fe und die alte Ex­zel­lenz, an der al­les lei­se und un­auf­hör­lich zit­ter­te au­ßer dem Mo­no­kel, das wie vor ei­nem To­ten­au­ge schim­mer­te.

Die Tü­ren wur­den ge­öff­net und wie­der zu­ge­schla­gen, wie Fal­len, die sich hin­ter Ge­fan­ge­nen schlos­sen. Dann heul­te der Mo­tor auf, und die un­ter­ir­di­schen Lam­pen zo­gen wie ein zer­ris­se­nes Band vor­über. Mit­un­ter hob sich der Zug, Schäch­te und Fens­ter spran­gen aus ver­wit­ter­ten Haus­wän­den, und der Fet­zen ei­ner Licht­re­kla­me schoss wie auf der Flucht die Dä­cher hin­auf. Dann don­ner­ten wie­der die Tun­nel­wän­de, Kel­ler­luft ström­te durch die halb ge­öff­ne­ten Fens­ter, und wei­ße Ge­sich­ter er­schie­nen an den Schei­ben, wie tote Fi­sche hin­ter Glas­wän­den, von un­sicht­ba­ren Strö­mun­gen auf und ab ge­trie­ben.

Mit­un­ter sah Tho­mas eine Ma­tro­sen­uni­form, ins Bür­ger­li­che ver­wahr­lost ab­ge­wan­delt, und er be­trach­te­te sie aus halb­ge­schlos­se­nen Au­gen. Den em­pö­re­ri­schen Tri­umph in dem Ge­sicht dar­über, auf des­sen Grun­de doch auch nur das Ver­las­sen­sein haus­te, die Sehn­sucht, zu vie­len sol­chen Ge­sich­tern zu fin­den, zu ei­ner schutz­ge­ben­den Mas­se, in der es un­ter­tau­chen konn­te, ge­bor­gen in der Na­men­lo­sig­keit.

 

Nun wa­ren sie schon aus­ge­stie­gen, zu ih­rer Ar­beit oder der blo­ßen Fül­lung lee­rer Stun­den: der Mann mit dem Holz­bein, die Schau­spie­le­rin, die Ex­zel­lenz. Der Zug braus­te dem Nor­den zu, und an­de­re Ge­sich­ter tauch­ten auf, ver­härm­te, ver­dor­be­ne, ver­wüs­te­te. Es war, als schlin­ge der Zug die Ern­te der letz­ten Jah­re in sich hin­ein, zu dür­ren Gar­ben has­tig ge­bun­den: Müt­ter, die vor sich hin wie auf Grä­ber starr­ten, auf ein­ge­sun­ke­ne und ver­fal­le­ne Kreu­ze; Kin­der, die für eine ge­stoh­le­ne Stun­de beim Hass oder beim Las­ter zu Gast ge­we­sen wa­ren; Frem­de, die auf schmut­zi­ge Blät­ter un­le­ser­li­che Zei­chen mal­ten; und Krüp­pel, vie­le Krüp­pel, die Blut­zeu­gen der großen Op­fe­rung, die stumpf oder voll Hass auf die Ge­sun­den blick­ten; de­nen man ge­sagt hat­te, dass sie Hel­den sei­en, und die in den Bli­cken der an­de­ren nun zu le­sen glaub­ten, dass man sie für arme Nar­ren hielt, ein un­be­que­mes Heer, das nun mit­zu­schlep­pen war auf dem Wege zu ei­nem neu­en Ziel.

Tho­mas schloss die Au­gen. Er war ge­sund, auf­recht, gut ge­klei­det. Er war wie ein Mann in ei­nem To­ten­saal, der auf­ste­hen und da­von­ge­hen konn­te, in­des die an­de­ren sich hass­voll auf ih­rem La­ger krümm­ten und mit halb ver­wes­ten Glie­dern ihn fest­zu­hal­ten such­ten. Alle hat­ten zu ster­ben oder kei­ner von ih­nen. Nie­mand hat­te reich zu sein, und wer ge­sund war, war ein Räu­ber.

»Der Herr hat ein Ren­dez­vous?« frag­te ein Mann, der ihm ge­gen­über­saß. Die Haut über sei­nem ver­zehr­ten Ge­sicht war so dünn ge­spannt wie über ei­nem Draht­ge­stell, und Tho­mas dach­te, dass es einen hel­len Ton ge­ben müss­te, wenn der Fin­ger des To­des an­poch­te bei ihm. Aber der Klang der Fra­ge war böse, hohn­voll und von dem Hass des Ge­schla­ge­nen er­füllt.

»Ja, mit dem En­gel«, sag­te Tho­mas schnell.

Der Blick des an­de­ren ver­wirr­te sich und lief die Fens­ter­rei­he ent­lang, über der in läp­pi­schen Ver­sen die Un­fall­war­nun­gen stan­den. Dann kehr­te er lang­sam zu­rück. »Es gibt kei­ne En­gel mehr«, sag­te er, und sei­ne Stim­me war nun müde und hoff­nungs­los.

Die Brem­sen setz­ten ein, und Tho­mas stand auf. »Doch«, sag­te er im Vor­bei­ge­hen, »es gibt noch En­gel … nur ha­ben sie eine Rüs­tung an …«

»Ver­schüt­tet ge­we­sen«, mur­melt eine Stim­me, als Tho­mas aus­stieg.

Er bog in eine der Ne­ben­stra­ßen ein, die wie ein un­end­li­cher Schacht in eine fer­ne Wüs­te zu lau­fen schi­en. Ein grün­li­cher Mond hing über den Dä­chern, frag­wür­dig wie al­les Licht in die­ser Stadt. Die Trit­te der Men­schen hall­ten an den Wän­den em­por, und man hör­te die­je­ni­gen her­aus, die noch auf Holz­soh­len gin­gen. Das Licht hin­ter den Fens­tern war trü­be, und wenn ein Tor­weg sich auf die Hinter­hö­fe öff­ne­te, weh­te es dumpf her­aus wie von ei­nem Fried­hof, auf dem die Krän­ze welk­ten. Gram­mo­pho­ne kreisch­ten aus der Fer­ne, er­stickt wie un­ter nas­sen Tü­chern, und ganz weit vor ihm, hoch über un­sicht­ba­ren Dä­chern, ras­te ein zer­ris­se­ner Kreis, bald grün, bald rot er­strah­lend, um sei­ne Ach­se. Er sah aus wie ein ver­stüm­mel­tes Si­gnal aus der Unend­lich­keit.

Die Hän­de in den Ta­schen, den Hut zu­rück­ge­scho­ben, ging Tho­mas die Stra­ße hin­un­ter. Die­se und die nächs­te und wie­der die nächs­te. Plät­ze leuch­te­ten auf und blie­ben zu­rück, Gär­ten hin­ter brö­ckeln­den Mau­ern, ein Schie­nen­strang, ein Au­to­bus, der wie ein feu­ri­ger Dra­che in ei­ner Höh­le ver­schwand. Er lieb­te es, so zu ge­hen. Er hat­te nicht Freu­de dar­an. Er war nur wie ein Schiff vor dem Win­de. Fünf Jah­re wa­ren ver­tan. Der Krieg war die Pro­be ge­we­sen, und er hat­te nicht be­stan­den. Vie­le hat­ten nicht be­stan­den, aber das trös­te­te ihn nicht. Nur, er woll­te von Neu­em an­fan­gen, und das un­ter­schied ihn von vie­len. Er wuss­te noch nicht, wo es be­gin­nen wür­de, aber er hoff­te, ihm zu be­geg­nen. Hier viel­leicht, und wenn nicht hier, dann an ei­ner an­de­ren Stel­le. Er wuss­te, dass an­de­re stu­dier­ten oder in ei­ner Bank ar­bei­te­ten oder in ei­ner Fa­brik. Aber das woll­te er nicht, weil es kein neu­er An­fang war. Sie hat­ten ihn über Bord ge­wor­fen, als er nach der Flag­ge ge­fasst hat­te. Das Meer war über ihm zu­sam­men­ge­schla­gen, und er war nur durch ein Wun­der ge­ret­tet wor­den. Der En­gel hat­te ihn an­ge­blickt und war wei­ter­ge­gan­gen, aber er wür­de ihm wie­der be­geg­nen. Vi­el­leicht an der nächs­ten Stra­ßen­e­cke, wo das wei­ße Schild über dem Bür­ger­steig leuch­te­te. Vi­el­leicht vor der Erd­ku­gel, die vor sei­nen Bü­chern stand, viel­leicht erst im An­ge­sicht des To­des. Aber er wür­de ihm be­geg­nen.

Er sah an den mat­ten Ster­nen, dass er nach Os­ten ging, und er merk­te es an dem Ge­sicht der Stadt. Här­ter als in den an­de­ren Vier­teln hat­te der Krieg hier re­giert. Die Häu­ser wa­ren wie vom Aus­satz zer­fres­sen, die Fens­ter er­blin­det, die Ge­sich­ter ver­wüs­tet, und was aus den Tor­we­gen sich auf die Stra­ße schlich, hat­te fah­le Stir­nen und einen lei­sen Schritt, wie über ver­las­se­nen Schlacht­fel­dern. Mäd­chen spra­chen ihn an und folg­ten ihm eine Wei­le, und es war ihm, als könn­te man durch ihre Au­gen hin­durch­se­hen ins Bo­den­lo­se. Sel­ten emp­fing er ein bö­ses oder ro­hes Wort, und auch dies klang nur wie hin­ter ei­ner zu­ge­schla­ge­nen Tür. Er fürch­te­te sich nicht, denn er be­saß nichts. Er war so al­lein wie die­se Aus­ge­sto­ße­nen aus Kel­lern und Hinter­hö­fen, und was sie ihm zum Be­sitz rech­ne­ten, war ihm so schal, wie ih­nen die Luft, die sie at­me­ten.

Er woll­te sie we­der prü­fen noch be­keh­ren. Er woll­te nur eine Welt er­fah­ren, die er nicht kann­te. Was sie in sei­nem Hau­se hin­ter den dunklen Vor­hän­gen spra­chen und dach­ten und be­gehr­ten, kann­te er al­les. We­der Brot noch Wein wür­de ihm dar­aus wach­sen. Aber dies hier kann­te er nicht, und er woll­te al­les ken­nen, die gan­ze Erde, wie sie rund und schwei­gend vor sei­ner Bü­cher­wand schweb­te. Ge­fecht und Schlacht, Tod und Zer­stö­rung, das konn­te nicht al­les sein. Ir­gend­wo schleif­ten die zer­ris­se­nen Zü­gel die­ses Wa­gens über die Erde, und so lan­ge muss­te man ge­hen, bis sie über einen hin­weg­feg­ten und man ver­su­chen konn­te, ein Stück zu er­grei­fen. Den Sinn muss­te man zu fin­den su­chen; nicht das Gan­ze, die Lö­sung, das Letz­te, aber ein Stück­chen Sinn, den Schim­mer ei­nes Pla­nes, und dann woll­te man in Got­tes Na­men noch ein­mal an­fan­gen.

Der Weg führ­te über eine Brücke, die sich hoch und weit über Schie­nen­strän­ge spann­te. Im Os­ten er­lo­schen die Lich­ter all­mäh­lich in der Nacht, und er sah die Fern­zü­ge hin­ein­brau­sen in die schwei­gen­de Schwär­ze, die schon über Äckern und Wäl­dern stand. Im Wes­ten aber scho­ben die Si­gna­le sich dicht zu­sam­men, wei­ße, rote und grü­ne Lich­ter, wie in ei­ner Ha­fen­ein­fahrt. Ein lei­ser Wind ging über sei­ne Hän­de, die auf dem kal­ten Ei­sen des Ge­län­ders la­gen, und es war nun al­les wie­der wie vor frem­den Küs­ten, mit halb­ge­lösch­ten Feu­ern, wo man nach trü­ge­ri­schen Licht­sek­to­ren steu­er­te und der Tod, schwei­gend, aber wach­sam, un­ter den Ster­nen hing.

Dann saß er auf dem Ver­deck ei­nes Au­to­bus. Die Licht­re­kla­men wur­den zahl­rei­cher, wil­der und ge­hetz­ter, die Stra­ßen be­leb­ten sich, Por­tiers stan­den wie Kö­ni­ge in Mar­mor­ein­gän­gen, und über die Köp­fe der Men­ge ho­ben sich far­bi­ge Arme mit Zei­tun­gen, und hei­se­re Stim­men schri­en die Ern­te des Ta­ges aus, die Kur­se, die Mor­de, die Streiks, die Re­vo­lu­tio­nen.

Tho­mas stieg aus und ließ sich trei­ben. Die Men­ge schluck­te ihn auf wie der Strom einen Trop­fen. Krüp­pel kau­er­ten an den Git­tern der Vor­gär­ten, und ihre ein­tö­ni­gen Ver­se fie­len wie stump­fe Mes­ser in die Men­ge. Geld klirr­te, und die meis­ten Hän­de fuh­ren schnell zu­rück, als hät­ten sie sich los­ge­kauft von dem stei­ner­nen Ant­litz des Krie­ges, das im­mer noch über die Dä­cher hin­un­ter­starr­te. Die brei­ten Hüte der Heils­ar­mee tauch­ten ab und zu aus licht­über­flu­te­ten Ein­gän­gen auf, und die Ge­sich­ter dar­un­ter blick­ten still und wie ent­rückt, als hät­ten sie schon auf der Schwel­le Hohn oder Mit­leid ab­ge­streift, die sie dort in­nen emp­fan­gen hat­ten.

Ei­nen Au­gen­blick lang lä­chel­te Tho­mas, als ihm der Ge­dan­ke kam, was sie für Ge­sich­ter ma­chen wür­den, wenn er zu Hau­se als Of­fi­zier die­ser Heil­s­trup­pe er­schei­nen wür­de. Tho­mas, der Leut­nant Got­tes. Gott war fort­ge­gan­gen, aber die Pro­phe­ten ka­men. Aus al­len Kel­ler­höh­len stie­gen sie em­por, auf den Tri­bü­nen ho­ben sie die nack­ten, ver­zehr­ten Arme, in den Par­la­men­ten be­schwo­ren sie das Reich der Lie­be, aus den Ster­nen ris­sen sie Weis­heit und Schick­sal: aber der En­gel war fort, der ein­zi­ge, der die Lose trug und wuss­te.

Ein Po­li­zist mit wei­ßen Hand­schu­hen sperr­te die Kreu­zung. Je­mand rief Tho­mas an, und er trat un­lus­tig an den hal­ten­den Wa­gen. Ein Ka­me­rad von sei­nem letz­ten Schiff, und er rück­te zur Sei­te, um ihm Platz zu ma­chen. Aber Tho­mas schüt­tel­te den Kopf. Nein, eine Bar sei nichts für ihn, er wol­le noch in der fri­schen Luft blei­ben. Was er denn trei­be? O … nichts … er war­te. Der an­de­re lä­chel­te: »Soll­test zu mir auf die Bank kom­men, Tho­mas«, sag­te er. »Geld wird dort ver­dient, sage ich dir, und das Gan­ze ist so wie ein Nacht­ge­fecht. Du weißt nie, wie du her­aus­kommst, aber wenn du her­aus­kommst, hat es ge­lohnt. Soll ich dir einen Tipp ge­ben, Tho­mas? Macht mehr aus als dei­ne Pen­si­on für ein Jahr!«

Nein, auch da­für dank­te Tho­mas. Die Stra­ße wur­de frei, und der Wa­gen fuhr lang­sam an. »Mach’s gut, Tho­mas! Bis zum nächs­ten Or­log …«

Eine Wei­le blick­te er dem Wa­gen nach, dann bog er die nächs­te Stra­ße zur Stadt­bahn ein. Ihn ver­lang­te plötz­lich, den Strom zu se­hen, dunkles Was­ser, in dem die Mas­ten sich spie­gel­ten und über dem die Ster­ne stan­den. Nein, der Er­folg konn­te nicht das Letz­te sein. Auch Spie­ler hat­ten Er­folg, aber ihr Le­ben ging nicht in die Bü­cher ein, aus de­nen Kin­der ler­nen, wie man le­ben soll. Ein gu­ter Of­fi­zier war je­ner ge­we­sen und ein gu­ter Ka­me­rad, aber wenn man die Uni­form aus­zog, muss­te man wohl mehr sein als dies. Das Le­ben ver­lang­te mehr, als ein Kriegs­schiff ver­langt. Un­ge­wiss­heit über­fiel ihn wie­der, und im Au­gen­blick dach­te er, dass es gut sein müss­te, Adres­sen zu schrei­ben oder Pa­ke­te aus­zu­tra­gen, ir­gen­det­was, das das Blut in den Fin­gern be­we­gen wür­de. Es gab kei­ne Fei­er­jah­re für jun­ge Hän­de.

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