Doch fühlte Thomas sich nun durch diese kindliche Erinnerung über die Schranken des Alters und des Ranges leichter hinweggehoben und glaubte auch alle Wunderlichkeiten, auf die er vorbereitet war und deren Anfang er nun schon erfahren hatte, guten Mutes überstehen zu können.
»Heißen Orla?« fragte die heisere Stimme, die die Worte wie aus einer Gewehrmündung hervorstieß.
»Jawohl, Herr General.«
»Gedient?«
»Jawohl, Herr General.«
»Dekoriert?«
»Jawohl, Herr General.«
Eine kleine Pause trat ein, in der der General fortfuhr, seinen Besucher gleichsam durchbohrend zu betrachten, nicht etwa aus Misstrauen, sondern aus einer alten Übung, die sich ihm vor der erstarrten Front unzähliger Soldatenkolonnen als nützlich erwiesen haben mochte. Thomas war überzeugt, dass er ein Waisenkind oder ein neugeborenes Kalb im Stall auf genau die gleiche Weise zu betrachten pflegte, blieb also unverändert in seiner guten Haltung und wich den blauen Blitzen nicht für eine Atemlänge aus.
»Gruber erzählt«, fuhr die heisere Stimme fort, »Steuermann, Skagerrak und dergleichen. Misstrauisch gegen alles Seefahrende. Anfang mit Schande gemacht. Hoffe, Regel durch Ausnahme bestätigt sehen. Hier nur brauchen, was in Gesinnung und Haltung zuverlässig. Zu … ver … läs … sig! Verstanden?«
»Jawohl, Herr General.«
»Gut … Vorgänger Esel. Güterteilung, Weltfriede, rote Fahne und dergleichen. Kein Lump, aber Esel. Auf Barrikaden fallen. Gloriose Zeiten für Lumpen und Esel. Insel Stützpunkt Wasserseite. Vor dem Feinde fallen, wenn nötig, verstanden?«
»Jawohl, Herr General.«
Nach dieser Versicherung entspannte das drohende Gesicht sich ein wenig, und eine zweite Pause trat ein, in der Thomas sich zu erinnern versuchte, welcher der preußischen Könige diese Redeweise geliebt hatte. Doch begann nun, als er des weiteren Verlaufes sicher war, die Insel sich wieder zwischen seine Gedanken zu schieben, und unvermittelt überkam ihn nach diesen ruhelosen und von fremden Bildern überladenen Tagen das warme Gefühl tröstlicher Geborgenheit, eine glückliche Müdigkeit, die danach verlangte, den Schein des Herdfeuers auf den dunklen Bohlen zu sehen und den Wind um das Rohrdach gehen zu hören.
Zuvor aber hatte er noch einmal seine Worte mit Bedacht zu wägen, um die etwas zögernden Fragen des Generals nach Schulbildung, Reisen und Familienverhältnissen zu beantworten; empfing darauf seine Dienstanweisung, die sich auf den Jagdschutz erstreckte, und unterschrieb schließlich den kurzen Vertrag, den sein Brotherr nach einem alten, schon vergilbten Muster mit großen, altertümlichen Buchstaben aufsetzte und ihm hinschob.
Thomas las, was er an Rechten und Pflichten besitzen würde, an Geldlohn und »Naturalien«, erfuhr, dass Mehl, Kartoffeln und Winterobst ihm zuständen, wobei er das letzte besonders bemerkenswert fand, dass »ein grauer Fischerrock nebst einem Paar Wasserstiefeln, so bis über die Knie zu ziehen«, ihm jährlich zukämen und dass er »allezeit in Treue zu seiner Herrschaft zu stehen« habe, wie auch diese gelobte, ihn »in Bedürfnissen des Leibes und der Seele gut und geachtet zu halten«. Schien ihm also, als er dies langsam gelesen hatte, dass der Vertrag wohl aus der Zeit jenes wortkargen Königs stammen mochte, dass aber gleichwohl Rührendes in diesen alten Wendungen liege, mehr als er sonst in Verträgen mit Hauswirten oder Mietern erfahren hatte, und als er noch einmal, bevor er die Feder ansetzte, in die Augen des alten Mannes sah, wusste er, dass dieser Vertrag noch niemals mit besserem Willen und vielleicht auch mit tieferer Berechtigung unterschrieben worden war als eben nun.
Eine feste, breite Hand streckte sich ihm über die Tischplatte entgegen, und als er aufsprang und sie ergriff, war es ihm, als könnte er für diesen alten, wunderlichen Mann, um den eine vergangene Zeit gleichsam wie eine Rüstung stand, gern, »wenn nötig«, vor dem Feinde fallen.
»Gute Haltung!« sagte die drohende Stimme. »Gleich gesehn. Gut auskommen.«
Sie traten an den Gewehrschrank, und der General zeigte ihm die kleine Büchse und Doppelflinte, die er ihm ins Forsthaus schicken werde. »Dem Esel abgenommen«, sagte er. »Auf Eiche gestanden und auf ›Blutsauger‹ gewartet. Bei armen Leuten Auge mal zudrücken, bei Lumpen Finger krumm machen! Denken, dass Eigentum aufgehört hat. Zucht und Ordnung halten! Selbst darin groß geworden. Soldat bleiben auch im Fischerrock, verstanden?«
»Jawohl, Herr General.«
Sie vereinbarten, dass Thomas den Dienst in vierzehn Tagen antreten sollte, mit dem Fischfang aber nicht vor dem Mai zu beginnen sei. »Mal auf Insel besuchen«, schloss der General und streckte noch einmal seine Hand aus. »Kein Weltmeer herum, aber gutes Wasser. Nicht schlechteste Devise: ›Ich dien.‹«
Dann war Thomas entlassen. Der friderizianische Riese lehnte schwermütig an der Kanonenmündung, und Thomas hatte ihn im Verdacht, mit seiner Nase beschäftigt gewesen zu sein. Doch half er ihm freundlich in den Mantel.
»Unbequem?« fragte Thomas und deutete auf die Uniform.
»Nein, Herr, bloß im Dorf rufen sie ›Kasperle‹ und schmeißen mit Pferdeäppeln.« Er lächelte melancholisch und begleitete den Gast zur Tür.
»Damals«, sagte Thomas und zeigte auf das weiße Bandelier,4 »haben sie noch mit anderen Dingen geworfen …«
»Jawoll, Herr, und ich kriege sie schon noch einmal!«
Als er die Tür öffnete und Thomas hinaustrat, kam ein schwarzgekleidetes Mädchen die Steintreppe heraufgestiegen. Es war vielleicht dreizehn Jahre alt, hielt sich sehr gerade und warf eben mit einer Kopfbewegung das Haar zurück, das ihm lose bis auf die schmalen Schultern fiel. Ein junger, hagerer Mann mit einer Brille, ebenfalls in Schwarz gekleidet, beendete eben einen Satz, aus dem Thomas entnahm, dass von der Stellung der germanischen Frau im Altertum die Rede gewesen war.
Beide blieben stehen und sahen Thomas an, der junge Mann zerstreut und noch mit seiner Beweisführung beschäftigt, das Mädchen aufmerksam und ohne Verlegenheit.
Thomas wollte mit einer leichten Verneigung zur Seite treten, doch blieb er stehen, nahm den Hut ab und sagte zu beiden gewendet, er sei Thomas Orla, der neue Fischer.
Während der junge Mann sich überrascht verbeugte und einen unverständlichen Namen murmelte, neigte das Kind auf eine altertümliche Weise den Kopf, ohne die Augen von seinem Gesicht zu lassen, und fragte: »Wie heißt du?«
Thomas wiederholte seinen Namen.
»Ist das ein Name aus einem Märchenbuch?«
Nein, das sei sein wirklicher Name.
Das Kind ließ die linke Hand nachdenklich über die schwarze Holzperlenkette gleiten, die es um den Hals trug. »Ich heiße Marianne von Platen«, sagte es. »Alle Mädchen heißen so bei uns. Und das ist mein Lehrer, Herr Bergengrün … aber ›Orla‹ habe ich noch niemals gehört … wirst du mit Christoph zusammen fischen?«
Nein, Christoph gehe fort. Er werde allein auf der Insel leben.
Christoph sei ein armer Mann, sagte das Kind. Er habe immer böse zu ihr sein wollen und sei immer freundlich gewesen.
Ob es nicht besser sei als umgekehrt, fragte Thomas.
Das wohl, aber am besten sei es doch, freundlich sein zu wollen und es auch zu sein, nicht wahr?
Da habe sie sicherlich recht.
»Herr Bergengrün«, fuhr Marianne fort, »sagt immer, alle Menschen sind anders, als sie aussehen. Aber ich glaube das nicht. Herr Bergengrün sieht immer aus wie ein aufgeschreckter Wichtelmann, und so ist er auch, nicht wahr, Herr Bergengrün?« Ein leises Lächeln bewegte ihren Mund, und sie legte ihre rechte Hand mit einer zärtlichen Bewegung auf den Arm des verlegenen Kandidaten.
»Das sind so unsere Scherze«, sagte er entschuldigend, »doch würde es uns wohl tun, wenn wir dann und wann auf die Insel kommen könnten. Mit Christoph hatte es seine Sonderheiten …«
Mit dir auch, mein Guter, dachte Thomas und sagte, dass es ihn freuen werde, sie bei sich zu sehen.
»Und wirst du dort wirklich fischen?« fragte das Kind.
»Ja, ich habe Christoph gesagt, dass ich den Fisch mit der goldenen Krone fangen werde.«
»Gibt es den?«
»Die Märchen sagen es.«
»Und dann?«
»Dann will ich ihn dir schenken.«
Sie atmete einmal tief auf, und Thomas sah, wie die Perlenschnur über der zarten Kehle sich einmal bewegte.
Dann verneigte er sich ernsthaft wie vorher und stieg die Treppe hinunter.
Im Walde erst, als er seine Pfeife stopfte, kam ihm zum Bewusstsein, dass es nun geschehen war, ja dass er darüber hinaus gelobt hatte, vor dem Feinde zu fallen, wenn es nötig sei, und eine goldenene Krone zu verschenken, wenn er sie gewänne.
Er saß auf einem Baumstumpf in der Sonne und begann zu rechnen. Er war immer ordentlich in diesen Dingen gewesen und wusste, was einem Mann an Brot, an Fleisch, an Tabak und Kleidung zukam. Er wusste auch, was er hier nicht brauchen würde und wo die Grenze zwischen gewollter Einfachheit und erzwungener Ärmlichkeit lag. Es zeigte sich, dass seine Pension den Seinigen ohne Abzug bleiben konnte und dass ihm jeden Monat eine geringe Summe übrigbleiben würde, um ein paar Bücher zu kaufen oder einen Garten anzulegen. Dass also selbst in dem grauen Hause Schönheit oder Freude einkehren dürften, wenn ihn danach verlangte. Ja, dass er sogar Gäste mit Anstand würde aufnehmen können, das ernsthafte Fräulein, das wahrscheinlich aus einem Goldrahmen in der Halle heruntergestiegen war, und den biblischen Begleiter, der so feierlich sprach, als wäre er schon mit den Erzvätern durch die Wüste gezogen.
Er sah nun alles so weit, als hätten sich Jahre davorgeschoben: das Haus mit den Kiefern im Vorgarten, die donnernden Züge der Untergrundbahn, den Strom mit den Schiffslampen, vertraute und fremde Gesichter. Er bedachte, wie leicht es war, sich von allem zu lösen, außer von dem Kinde, und erschrak darüber. Ein brüchiges Gewebe, das unter den Händen zerfiel. Es konnte nicht nur so sein, dass er von allem Abschied genommen hatte, als sie ausfuhren damals, in den ersten Nächten des großen Krieges, dass sie die Fäden aufgelöst hatten, die sie mit der Zeit verbanden. Denn sie wollten doch wiederkehren, das hatten sie doch alle gehofft. Aber es war wohl so, dass sie nun mit anderen Augen wiederkehrten, er wenigstens, und die alte Welt ihnen seltsam verändert war, Menschen, Meinungen, selbst das Geliebteste der Erde. Das alte Glück war kein Glück mehr, ein welker Strauß stand da, und man ging um ihn herum, sah, dass es nicht an Wasser fehlte, nicht an Sonne, und doch blieb er welk. Dies war es: der welke Strauß! Man warf ihn nicht fort, wo die frischen Blumen wuchsen, ganz andere und noch unbekannte, und den anderen schien er auch nicht welk, sondern glühend und leuchtend wie zuvor. Sie sahen den Wurm nicht, aber er sah ihn. Etwas musste falsch gewesen sein, von Anfang an, aber er konnte es nicht erklären. Er hatte gefühlt, dass er den Boden verlor, und nichts war da, an das er sich klammern konnte.
Nun also würde er fortgehen, und nur als von einem Narren würde von ihm geredet werden. Sein Vater würde es wissen, aber sein Vater war tot. Man musste es nun allein wissen. Sich abends mit frohem Herzen niederlegen können, das war vielleicht das ganze Geheimnis. Froh, wenn man an den gewesenen Tag, und froh, wenn man an den kommenden Tag dachte. Keine Erlebnisse, keine Heldenrolle, kein Glanz um die Stirn. Die Netze auslegen und wieder einziehen, Haus und Insel sauberhalten, ein paar Seiten lesen und abends am Wasser sitzen und in die Sterne sehen. Den Vertrag erfüllen, den man unterschrieben hatte.
Wann war er froh gewesen zur Nacht? Er legte Jahr auf Jahr beiseite und kam wieder bis zu seiner Kinderzeit. Der Vater, der gute Nacht sagte, das offene Fenster, durch das die leisen Geräusche des Gutshofes kamen, der Zigarrenrauch aus dem Nebenzimmer, wo der Vater noch über den Rechnungsbüchern saß oder in einem Band Fontane las. Die Bilder, die sich immer mehr verwirrten … der Weizenschlag mit der brennenden Sonne … der Waldsee mit den alten Hechten … das Pferd, das er ritt, immer mit etwas klopfendem Herzen … die Uhr auf dem Hof, die ihre Schläge über die nebligen Felder schickte, und der letzte Schlag tönte lange nach, Welle auf Welle, immer mehr ersterbend … frohen Herzens, so war er eingeschlafen und wieder aufgewacht.
Aber dann nicht mehr. Nicht als Kadett und nicht als Leutnant. Dienst und Pflicht immer wie eine Rüstung auf der Brust, und manchmal schmerzte die Rüstung … die Segel, der Mastkorb und dann die Geschütze, die Navigation, Zahlen, Formeln, Kurven, Rechnungen, Gesichter, die feierlich oder höhnisch oder spöttisch waren … und dann der Krieg, Menschenleben und Boote, die in seiner Hand lagen, und die Hand war nicht immer stark, nein, nicht immer … kein frohes Herz, auch nicht unter den Kameraden, ein Sonderling, still, scheu, verschlossen … der Krieg, ein bitteres Handwerk, ohne Glanz, töten und vernichten … und dann das Ende und die Leere der Tage und Nächte, wie ein Brett auf dem Ozean, auf … ab. auf … ab … wie ein Geschwätz …
Dies aber war gut, die hohen, grauen Stämme, ernst wie Masten; die Wipfel, aus denen der Dampf vergangenen Regens stieg; der Specht, der hinter dem Hügel hämmerte, fleißig wie ein einsamer Hausvater; der See, der durch die Bäume blitzte, und Vögel riefen über sein Glänzen hin; Wolken, hoch im blauen Raum, durch den die Keile der Kraniche sich drängten. Gut und still. Alte Gesetze, denen die Kreatur gehorchte, die den Tag einschlossen und die Nacht. Krieg auch hier, Leiden auch hier, aber aus Gesetz und nicht aus Willkür.
Und der Vertrag, der ihn einschloss in diese Welt, der ihm die Stunde erfüllte und die geöffneten Hände. Ein einfaches Werk, in dem die Räder sich kreuzten und überschnitten, ein Werk, das nichts brauchte als Fleiß und guten Willen und Gehorsam vor der Ordnung der Dinge. Zu erfüllen auch von denen, die noch die alten Waffen trugen, deren Sinn nach dem Einfachen trachtete, weil sie fremd waren im Verwickelten der Zeit. Die ein Dach wollten, einen Herd, eine Arbeit und ein frohes Herz.
Es fiel ihm ein, dass er die Mönche immer geliebt hatte, obwohl er anderen Glaubens war. Die aus der alten Zeit, die den Wald urbar machten und beim Kerzenlicht die großen Buchstaben auf gelbe Pergamente malten. Die das Schwert nahmen, wenn es um den Acker ging oder um Gott, aber es wieder fortstellten, wenn der Acker und Gott gerettet waren. Fern rauschte ihnen die Welt, ein Strom hinter Weiden, aber sie wollten nichts von ihr. Sie wollten den Pflug und das Bild der Heiligen Mutter und den Kerzenschein über der weißen Zellenwand. Sie wollten sein wie die Steine auf dem Grund, und das Werk ihrer Hände sprach immer noch, hin durch die Jahrtausende. Kein vertanes Leben, kein Aufruhr, kein Geschwätz. Getreue Knechte, die unter Steinplatten schliefen, aber der Hausvater hatte ihre Namen gesammelt und bewahrt.
Wenn sie älter ist, dachte Thomas und stand auf, wird sie wissen, dass die goldene Krone unsichtbar ist, und vielleicht wird auch Joachim es wissen. Dass es nur das Letzte des Lebens ist, sein wahrer Sinn, heraufgezogen mit dem Netz, an dem das Leben gesponnen hat. Güte und Weisheit und nichts haben wollen. Frieden schließen, aber den Frieden, hinter dem kein Krieg mehr steht … vielleicht gewinne ich es, dass ich es ihnen zeigen kann, nur ihr und ihm … zwei Menschen sind schon viel, und ich selbst bin der dritte … drei … was für eine große Zahl, was für eine Riesenzahl für eine Menschenhand … Es war schwer, das Kind dort zu lassen, schwerer als alles andere, aber es gab Wege, die man ohne Kinder gehen musste, ohne Frau und auch ohne Kind. Erst musste man fest stehen wie der Mann im Zirkus, bevor man Frau und Kind auf seine Schultern heben konnte. Und er würde Joachim bei sich haben, ein paarmal im Jahr. Er würde ihn erfüllen mit dem, was er inzwischen gewonnen haben würde. Er würde getreulich teilen. Nur das Geringste würde er für sich selbst behalten wollen. Er ging schon zu Tal, aber das Kind würde fortzusetzen haben, in das neue Leben hinein …
Der Förster stand am Zaun und winkte ihm. »Ein gutes Jahr, lieber Herr. Die Saat steht schön, und auf der Insel wird es wieder lebendig sein. Ein Geist hat da gewohnt, und nun zieht der Mensch wieder ein. Ein gutes Jahr …«
Sie hatten ein schweigsames Mahl, und dann war Thomas den ganzen Nachmittag auf dem Wasser. Er fuhr das Ufer ab. Bucht für Bucht und Schilfrand nach Schilfrand. Er betrachtete den Grund, Sand und Moor, Seerosenstengel und verwitterte Baumstämme, deren Äste hinaufgriffen, einen schmalen Pfad im hohen Gras und die Otterspur, die sich weich in den Boden drückte. Er fuhr um die Waldecke und weiter bis zum Fließ, hinter dem der zweite See begann. Und überall Wald und Wiese, Erlengehölz und Feld, ein graues Dorf vor einem bläulichen Kiefernstreifen, ein Land ganz für sich, mit einem hohen Himmel, unter dem nur der Wind leise tönend ging.
Er sah Christoph abfahren und das Boot an der hohen Fichte verlassen. Er trug einen Sack auf dem Rücken, sein ganzes Hab und Gut, und grau und gebeugt verschwand er im Uferwald, die Fahne sicherlich um den Leib gebunden, ein Mann nach einer verlorenen Schlacht.
Nun war niemand auf der Insel. Die Sonne sank hinter die Eichenwipfel, Gewitterwolken hoben sich bläulich über den Wald, über dem Schornstein hing kein Rauch, ein großer Vogel kreiste über dem grauen Dach und verschwand im dunklen Gewölk.
Thomas holte das leere Boot und fuhr zur Försterei zurück. Sie wollten zusammen das Haus ansehen und was geändert werden sollte, solange Thomas wieder fort war. Am nächsten Morgen wollte er fahren und nach zwei Wochen wiederkommen.
Es war niemand auf dem Hof, aber aus dem kleinen Garten hörte er wieder den leisen, schlafwandlerischen Gesang. Die Frau stand über der frischgegrabenen Erde, im schwarzen Kleid wie bisher, ein Tuch um die Schultern, und streute Samen in die neuen Beete. Aber es war nichts in ihrer Hand. Die Hand war leer, und nur die Gebärde war voller Sinn. Das Lied ging eintönig durch die Stille, einfach und fast heiter, wie ein Kinderlied oder ein Lied über kindlichem Schlaf. Und Thomas meinte ihn dort knien zu sehen, den das Feuer im dunklen Turm versengt hatte, zu Staub und Asche verwandelt, eine kleine Gestalt, die nach den Samenkörnern griff, und sie wusste noch nichts von der kommenden Ernte der Zeit.
Die Luft war schwül wie am Abend zuvor, die Wolken hatten die Sonne bedeckt, und ein gedämpftes Licht fiel von den glühenden Rändern über die Erde. In diesem Licht ging der schwarze Arm der Frau langsam hin und her, die Reihen der Beete auf und ab, eine arme, kindliche Mühle, die das tote Leben streute.
Wieder fröstelte es Thomas, und er ging leise ins Haus. »Ja, ein frühes Gewitter kommt«, sagte der Förster. »Dann ist sie unruhig und bleibt nicht im Hause. Sie kann das große Feuer nicht sehen über dem Wald, und doch bleibt sie auf, solange das Wetter leuchtet, die Hände vor den Augen. Sie sieht ihn wohl im Feuer, lieber Herr …«
Sie fuhren schweigend über den See und traten ins Haus. Es war so leer wie zuvor, und es war nicht zu sehen, dass ein Mensch es verlassen hatte. Sie sahen alles an, und Thomas schrieb sich die Maße in sein Buch. Er wusste gleich, was er brauchte, und sie rechneten die Preise aus. Ein Fußboden sollte gelegt, ein kleiner Herd zum Kochen im Nebenraum gesetzt und das Fenster sollte höher und um das Vierfache verbreitert werden. Alles andere sollte unverändert bleiben, und der Förster wollte zusehen, dass in zwei Wochen alles fertig wäre. »Ein Palast, lieber Herr«, sagte er lächelnd, »und im Winter werde ich das Licht durch die Bäume sehen … Gott segne Ihren Einzug, lieber Herr!«
Ja, Thomas wollte noch ein wenig auf der Insel bleiben. Er sah das Boot zurückfahren, in die Dämmerung hinein und verschwinden. Das Licht über dem See war schon erloschen, und hinter den Uferwäldern flammte das Wetter schon rötlich auf.
Thomas ging um die Insel herum über Sand und braunes Gras, am Schilf entlang, dessen Halme sich leise aneinander rieben, und wieder zurück. Er war so einsam wie auf dem Ozean. Sein Herz schlug, wie es vor der Schlacht geschlagen hatte, aber was vor ihm lag, war schöner als eine Schlacht. Er fand eine Stelle auf der Westseite des Hügels, unterhalb der Eichen, wo Heidekraut und junge Fichten sich zum Ufer senkten. Dort konnte man auf einem Baumstumpf sitzen und weit über das Wasser sehen. Es war wie auf einer Brücke, und hinter ihm ragten die Masten auf.
Es dunkelte jetzt über den Wäldern, und das Feuer hinter den Wolken blitzte scharf und rötlich über das Wasser hin. Der Wind strich niedrig über das Schilf, und wenn er erstarb, hörte Thomas das leise erzene Dröhnen hinter der Wolkenwand. Mitunter tastete nur ein fahler Schein über die Insel und den Wald, dazwischen aber flammte es böse und drohend auf, wie von langen Rohren über grauer Panzerwand, ein greller Strahl schoss den Himmel hinauf, und lange hinterher, aus begrabener Finsternis, rollte der ferne Donner lange nach und bewegte die Erde, auf der Thomas saß.
Er sah mit weitoffenen Augen in das Licht hinaus. Er sah die grauen Leiber vorwärtsstürmen und die zerwühlte See zwischen ihnen. Er hörte Glocken, Signale und verwehenden Schrei. Er saß wie in einem Traum, und vor seinen Augen und Ohren zog es vorbei, die Summe vergangenen Lebens, die Probe vieler Jahre, die Entscheidung junger und bebender Herzen: die Schlacht.
Dann hörte er die Flügel der großen Vögel rauschen und den heiseren, schwankenden Schrei. Er sah sie im nächsten Leuchten über sich, den schmalen Hals gehoben, und wie die trockenen Wipfel unter ihnen erbebten.
Da ging er leise fort, zum Ufer hinunter und an diesem entlang bis zu seinem Boot. Ein paar Tropfen fielen, warm und schwer, und er stand noch eine Weile, bevor er abfuhr, das Gesicht zu ihnen aufgehoben, mit offenen Augen, in denen die Blitze sich spiegelten.
1 von 1933 bis 1945 die Reichsfarben des Deutschen Reiches <<<
2 Uniformrock mit Umlegekragen <<<
3 reicher Mann <<<
4 Schulterriemen, aber auch (breiter) Patronengurt <<<
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