Das einfache Leben

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Из серии: Klassiker bei Null Papier
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Er blieb an ei­nem Blu­men­la­den ste­hen und starr­te auf die Glä­ser mit Treib­h­aus­flie­der. Wenn ich ge­schos­sen hät­te, grü­bel­te er, so wür­den sie mich er­schla­gen ha­ben und al­les wür­de gut sein … eine Se­kun­de ver­säumt, nein, eine hal­be Se­kun­de … die Ent­schei­dung ver­passt, das ist es, wes­halb der En­gel nicht kommt …

In der Stadt­bahn saß ein al­ter Mann ihm ge­gen­über, der auf ein Blatt Pa­pier starr­te, das mit Krei­sen und Zei­chen be­deckt war. Sein Haar fiel bis zum Rock­kra­gen, und sei­ne Füße steck­ten in wun­der­li­chen, viel­fach ge­flick­ten Re­form­schu­hen. Wie reich und ge­dul­dig ist die­se Zeit, dach­te Tho­mas. Soll­te sie nicht auch für mich einen Platz und ein Ziel ha­ben? Man muss nur war­ten, bis die Ma­gnet­na­del zu be­ben be­ginnt …

Der Mann sah seuf­zend auf und blick­te Tho­mas an. Er hat­te gute Au­gen, von ei­nem et­was wäs­se­ri­gen Braun, lei­se er­staunt und viel ge­prüft, und Tho­mas dach­te, dass eine Kuh so vor sich hin­se­hen könn­te, wenn sie au­ßer der Rei­he ge­mol­ken wür­de. Doch miss­fiel ihm der Ver­gleich so­fort, und er ta­del­te sich, dass er so über Men­schen ur­tei­le.

Doch da hob der Mann den Zei­ge­fin­ger der rech­ten Hand und sag­te flüs­ternd: »Stein­bock, nicht wahr? Drei­und­zwan­zigs­ten De­zem­ber bis drei­und­zwan­zigs­ten Ja­nu­ar, ja?«

Aber Tho­mas ver­gaß sei­ne gu­ten Vor­sät­ze über dem Form­lo­sen und Ver­trau­li­chen der An­spra­che. »Nein«, er­wi­der­te er schroff und wech­sel­te den Platz.

Der Stern­kun­di­ge stieg an der nächs­ten Hal­te­stel­le aus, und als er die Tü­ren öff­ne­te, beug­te er sich ohne Krän­kung zu Tho­mas und flüs­ter­te hin­ter der vor­ge­hal­te­nen Hand: »Die Knie sind be­denk­lich beim Stein­bock … sehr ge­fähr­lich … im­mer schön auf die Knie ach­ten, mein Herr!« Er lä­chel­te freund­lich, hob noch ein­mal mah­nend den Zei­ge­fin­ger und ver­schwand.

Die Stra­ße senk­te sich leicht zum Strom, und als Tho­mas die Stu­fen zum Boll­werk hin­un­ter­schritt, dach­te er an sei­ne Knie und lä­chel­te. Dann ging er lang­sam am Was­ser ent­lang.

Die Flut zog dun­kel und trä­ge da­hin, mit zit­tern­den Stern­bil­dern, die auf der glei­chen Stel­le ver­harr­ten. Käh­ne la­gen an der Mau­er ver­täut, die Deck­plan­ken glänz­ten, und die Bord­la­ter­nen leuch­te­ten über Tau­werk und Holz. Mit­un­ter bell­ten die Wach­hun­de, zu­erst ein­zeln und dann den gan­zen Strom ent­lang. Dann war nur wie­der das Was­ser zu hö­ren und der leich­te Wind, der durch das Ge­äst der Bir­ken zog.

»Was­ser müss­te es doch sein«, sag­te Tho­mas, »nur stil­ler als das Meer … ich möch­te kei­ne Bran­dung mehr hö­ren …«

Auf ei­nem der Ufer­pfäh­le saß er dann lan­ge, rauch­te und hielt dann die Hän­de mü­ßig zwi­schen den Kni­en ge­fal­tet. Die Luft war warm, und es roch nach Er­len und Schilf. In der Fer­ne glit­ten die glü­hen­den Bän­der der Züge durch die Nacht, fast ohne Lärm, wie schö­ne Schnü­re. Der Him­mel war hell, wie be­stick­te Sei­de, und ein­mal mein­te er ganz weit Wild­gän­se zie­hen zu hö­ren. Er ver­gaß nun al­les, die letz­ten Stun­den und die müh­sa­men Jah­re. Wie ein Bau­er auf sei­nem Grenz­stein saß er da und hör­te zu, wie die Erde sich reg­te. Dies war ih­nen al­len doch ge­blie­ben, wie viel der Brand auch ver­zehrt ha­ben moch­te: die Füße still auf der küh­len Erde zu hal­ten und zu se­hen, wie die Ster­ne kreis­ten. Auch Joa­chim soll­te das ler­nen, so bald wie mög­lich, ehe sie ihn ver­der­ben mit ih­rer frag­li­chen Wis­sen­schaft.

Erst als ihn zu frie­ren be­gann, stand er auf. Die La­ter­nen brann­ten im­mer noch, und ein dün­ner Ne­bel hing müde über dem Was­ser. Die nahe Stadt sah aus, als sei sie nur zu Gas­te bei die­sem Strom.

Nie­mand sprach ihn mehr an auf der Heim­fahrt, und dann ging er auf Um­we­gen nach Hau­se, da­mit die Gäs­te schon fort wä­ren, wenn er käme. Doch fand er alle Fens­ter noch hell und kehr­te noch ein­mal um. Vom na­hen Kirch­turm schlug es Mit­ter­nacht, und er hör­te zu, wie der letz­te Klang in im­mer dün­ner wer­den­den Wel­len ver­ging. Dann fiel ihm et­was ein, und er ging schnell die we­ni­gen Stra­ßen zur Kir­che hin. Der Turm stand dun­kel in der hel­len Nacht, aber im Pre­di­ger­haus, hin­ter dem großen Gar­ten, wa­ren zwei Fens­ter noch er­leuch­tet.

Tho­mas stieg über den nied­ri­gen Zaun und ging auf das Licht zu. Die Fens­ter la­gen zu ebe­ner Erde, und als der Kies un­ter sei­nen Schu­hen knirsch­te, trat oben ein Mann ins Licht. Er war dun­kel ge­klei­det, und Tho­mas mein­te noch nie­mals einen so großen, schwe­ren Men­schen ge­se­hen zu ha­ben. Er war noch nicht in der Kir­che ge­we­sen.

»Es ist spät, Herr Pfar­rer«, sag­te er, »aber ich wür­de Sie gern noch ge­spro­chen ha­ben.«

Der Geist­li­che beug­te sich schwei­gend vor, um das be­leuch­te­te Ge­sicht zu er­ken­nen. Dann trat er wort­los zu­rück, und Tho­mas hör­te ihn die kur­ze Trep­pe her­un­ter­kom­men, bis er die Haus­tür auf­schloss. »Tre­ten Sie lei­se auf«, sag­te er, »sie schla­fen schon alle.«

Der große Raum war nur mit Bü­chern ge­füllt. Ein bäu­er­li­cher Chris­tus aus grau­em Holz hing le­bens­groß zwi­schen den Fens­tern. Tho­mas setz­te sich nicht ohne Ver­wir­rung, weil das Aus­maß der Fi­gur ihn er­schreck­te. Doch ließ der Pfar­rer sich nichts mer­ken und sah ihn nur ru­hig an. »Es kom­men man­che um die­se Zeit«, sag­te er, »Sie brau­chen sich nicht zu ent­schul­di­gen. Ich weiß dann we­nigs­tens, dass es ernst ist.«

Nun erst sah Tho­mas ihn an. Sein Va­ter noch moch­te hin­ter dem Pflu­ge her­ge­gan­gen sein, aber es war wohl ein grüb­le­ri­scher Gang ge­we­sen, und in die­sem Sohn war es nun aus­ge­bro­chen. Stirn und Mund wa­ren zer­sorgt und zer­quält, aber über dem glat­ten grau­en Haar moch­te doch zu Zei­ten der­sel­be Schein ste­hen wie über dem Holz­bild an der Wand. Das Ge­sicht war zu­ge­schlos­sen, aber die Au­gen sa­hen ihn nicht ohne Freund­lich­keit an, alte und viel­wis­sen­de Au­gen, und Tho­mas fühl­te sich jung und tö­richt un­ter ih­rem Blick.

Er seufz­te, be­vor er be­gann. »Ich bin kein Kir­chen­gän­ger, Herr Pfar­rer«, sag­te er ent­schul­di­gend.

Der an­de­re er­hob nur die Hand. »Wir wol­len von den wich­ti­gen Din­gen spre­chen«, un­ter­brach er.

»Auch die Bi­bel habe ich lan­ge nicht ge­le­sen«, fuhr Tho­mas fort, »seit mei­ner Ein­seg­nung nicht. Der Dienst war schwer, und es woll­te nie recht zu­sam­men­stim­men … Heu­te nun fand ich un­ter mei­nen Bü­chern den Psal­ter, eine ganz alte Aus­ga­be, groß ge­druckt, durch eine Erb­schaft wäh­rend des Krie­ges zu mir ge­kom­men. Ich habe dar­in ge­blät­tert und fand den neun­zigs­ten Psalm. Ich ent­sann mich wie­der, auf das meis­te we­nigs­tens, aber ein Vers war mir un­be­kannt. Als Kind liest man dar­über hin­weg, und auf Kin­der trifft er ja nicht zu. ›Wir brin­gen un­se­re Jah­re zu wie ein Ge­schwätz‹, steht dort ge­schrie­ben. Zu­erst las ich wei­ter, als sei es wie das üb­ri­ge, aber dann kehr­te ich gleich wie­der zu­rück und las ihn noch ein­mal. Und dann las ich nicht mehr wei­ter … es war wie ein Mast, der über einen stürzt, und man kann nicht auf­ste­hen un­ter ihm …«

Der Pfar­rer nick­te. Er hat­te den Kopf in die rech­te Hand ge­stützt und Tho­mas un­be­weg­lich an­ge­se­hen. »Ja«, sag­te er, »Sie wer­den das na­tür­lich als einen Zu­fall be­zeich­nen, dass Sie ge­ra­de dies ge­le­sen ha­ben. Ich selbst, wenn es mir wi­der­fährt – und es wi­der­fährt mir oft –, ich sehe es na­tür­lich an­ders an. Ich weiß dann, dass ein sol­cher Vers ge­war­tet hat, bis es Zeit ge­wor­den ist. Ver­ste­hen Sie? Es ist nicht so, dass ein Mensch für sich lebt und ein Vers wie­der für sich und viel­leicht kreu­zen ihre Wege sich ein­mal. Son­dern es ist so, für mich na­tür­lich nur, dass der Vers auf sei­nen Men­schen war­tet und der Mensch auf sei­nen Vers. Aber wenn es sich er­füllt hat, ein be­stimm­tes Stück der Le­bens­bahn, ein Sturz oder ein Auf­stieg, oder auch nur eine be­stimm­te Düs­ter­nis und Ver­wir­rung, dann ist der Vers da. Er schlägt ge­wis­ser­ma­ßen das Buch auf, er selbst, er ent­hüllt sich, er stellt sich auf den Weg. Und dann kann man nicht her­um­ge­hen oder aus­wei­chen. Er ist wie Ei­sen, das zu­schlägt. Er hat uns … ist es nicht so?«

»Ja«, sag­te Tho­mas lei­se, »er hat uns … so ist es.«

»Und nun soll ich Ih­nen sa­gen, was Sie da­mit an­fan­gen sol­len, nicht? Der Vers be­drückt Sie, er ist wie ein lei­ser, dump­fer Schmerz, der im­mer da ist. Sie le­sen et­was an­de­res, oder Sie ge­hen spa­zie­ren, vie­le Stun­den lang, am Tage oder lie­ber in der Nacht. Oder Sie den­ken an Ska­ger­rak oder an das Ende. Aber er geht im­mer mit Ih­nen, er ist nicht mehr au­ßen, in ei­nem Buch, das in Ihrem Hau­se bleibt, wenn Sie das Haus ver­las­sen. Er ist schon in Ih­nen, in Ihrem Blut, ganz tief, Sie sind nicht mehr sein Herr.«

»Ja«, sag­te Tho­mas, »so ist es.«

»Sie müs­sen es nun so an­se­hen«, fuhr der Pfar­rer fort, »oder viel­mehr, es ist wohl rich­tig, wenn Sie es so an­se­hen: der Vers hat das Sei­ne ge­tan, er hat sich gleich­sam vom Tode auf­er­weckt, er ist für Sie auf­er­stan­den. Und nun fragt sich, ob Sie das Ihre tun wol­len. Ich will es nicht ›au­fer­ste­hen‹ nen­nen, denn das ist ein sehr großes Wort. Es fragt sich, ob Sie den Vers wie­der be­gra­ben wol­len, ihn er­wür­gen und zu­schüt­ten … ja, ich sag­te, ›er­wür­gen‹! Dann rührt er sich noch eine Wei­le, so wie das Kind bei Tol­stoj, wis­sen Sie? In der Nacht, wenn Sie aus ei­nem Traum auf­fah­ren, oder in ei­ner Ge­sell­schaft, oder viel­leicht, wenn Sie Ihren Jun­gen an­se­hen. Aber dann ist er still, so still wie vor­her. Er hat an­ge­klopft, und Sie ha­ben nicht auf­ge­macht. Sie ha­ben die Hun­de auf ihn ge­hetzt, und er ist tot. Für Sie ist er tot, ewig und un­ab­än­der­lich.

 

Das ist der eine Weg. Der an­de­re ist eben­so klar, näm­lich, dass auch Sie nun das Ih­ri­ge tun, nicht wahr? Dass Sie eben auf­hö­ren da­mit, Ihre Jah­re zu­zu­brin­gen wie ein Ge­schwätz. Und wenn Sie das tun, dann ist der Vers still. Das heißt, sei­ne Mah­nung ist still, sein Vor­wurf, sei­ne Kla­ge. Er trifft nicht mehr zu für Sie, Sie ha­ben ihn er­löst. Im Mär­chen wird aus ei­nem Dra­chen eine Prin­zes­sin. Im Le­ben ist es so, dass man eben auf­hört, so zu sein. Dass man an­ders wird, kein Hei­li­ger und kein Pro­phet, aber eben an­ders, nicht?«

»Ja«, sag­te Tho­mas, »aber wenn man nun das nicht so ohne wei­te­res kann … fromm wer­den, mei­ne ich, oder glau­ben, oder wie man es nennt …«

»Fromm wer­den? Glau­ben?« Der Pfar­rer beug­te sich vor und sah ihn er­staunt an. »Wie kom­men Sie dar­auf? Ar­bei­ten soll man, ar­bei­ten! Ver­ste­hen Sie? Nichts als ar­bei­ten! Das heißt es.«

»Aber Sie als Pfar­rer …«

Der schwe­re Mann stand auf und trat vor das rie­si­ge Chris­tus­bild. Er war eben­so groß wie das Bild­werk, und sie sa­hen ein­an­der aus glei­cher Höhe in die Au­gen. »Die­ser hier«, sag­te der Pfar­rer lei­se, sich halb um­wen­dend, »wird mir ver­zei­hen, dass ich sei­nen Na­men so sel­ten nen­ne. Dass ich nur von dem einen spre­che, das uns heu­te not tut, von der Ar­beit. Auch in der Kir­che, ge­ra­de in der Kir­che. Vier Jah­re ha­ben wir sei­nen Na­men miss­braucht, nun wol­len wir ihn vier Jah­re ver­schwei­gen. Wir ha­ben ge­tö­tet, und nun wol­len wir ar­bei­ten, schwer und keu­chend und schweiß­be­deckt, nichts als ar­bei­ten. Und dann wol­len wir se­hen, ob wir wie­der wür­dig sind, sei­nen ge­lieb­ten Na­men aus­zu­spre­chen.«

»Und wie ar­bei­ten, Herr Pfar­rer? Wel­che Ar­beit? Ich selbst, ich …«

Der Pfar­rer hob die Hand. Er stand nun mit dem Rücken ge­gen das Fens­ter, als sei er eben aus dem Dun­kel der Nacht her­aus­ge­stie­gen, ein Bau­er, den sei­ne Fel­der nicht schla­fen las­sen. »In die­ser Ge­mein­de«, sag­te er, »woh­nen Mi­nis­ter und Stra­ßen­keh­rer. Bei­de kom­men nicht in die Kir­che, aber bei­de ar­bei­ten, und bei­der Ar­beit ist mir gleich wert. Die eine kann ich se­hen, wenn ich aus dem Haus tre­te, die an­de­re kann ich nicht se­hen, ich er­ra­te sie höchs­tens oder lese in der Zei­tung da­von. Ich glau­be auch, dass der Stra­ßen­keh­rer glück­li­cher ist mit sei­ner Ar­beit als der Mi­nis­ter. Er hat sei­nen Ab­schnitt, sei­nen Be­sen und sei­ne Kar­re. Er hat sei­ne Gren­zen, über die ihm kei­ner her­ein­kommt. Das hat der an­de­re nicht. Und ein Pfer­des­ap­fel ist leich­ter zu be­sei­ti­gen als Int­ri­gen, oder po­li­ti­sche Feind­schaft, oder was sie sonst wol­len. Aber au­ßer­dem kann der Stra­ßen­keh­rer im­mer hof­fen, ein­mal Mi­nis­ter zu wer­den, wäh­rend je­ner kei­nen Stern hat, den er aus dem Him­mel her­un­ter­ho­len könn­te. Aber das ist al­les gleich, ganz gleich. Sie dür­fen nicht fra­gen: ›Wel­che Ar­beit?‹ Se­hen Sie mei­nen Tisch an! Se­hen Sie die Brie­fe! Dut­zen­de, Hun­der­te von Brie­fen, mit Blut ge­schrie­ben, ja, ich sage es aus­drück­lich: ›Mit Blut ge­schrie­ben!‹ Wis­sen Sie nicht, wie Gott uns ge­schla­gen hat? Furcht­bar und er­bar­mungs­los ge­schla­gen? Ach …« Er hob die Hän­de und rang sie über sei­nem grau­en Haar, und für einen Au­gen­blick war sein Ge­sicht ver­zwei­fel­ter als das des grau­en Bil­des an der Wand.

Aber dann ließ er die Hän­de sin­ken und lä­chel­te wie zur Ab­bit­te. »Es ist nur manch­mal«, sag­te er, »und geht gleich vor­bei … ich sehe Ih­nen schon lan­ge zu, fast fünf Jah­re, Herr von Orla. In die­ser Ge­mein­de bleibt ja nichts ver­bor­gen. Wie Sie mit Ihrem Jun­gen ge­hen und wie Sie al­lein ge­hen, lan­ge und viel al­lein. Aber ich war im­mer ge­trost, wenn ich an Sie dach­te. Er trifft sei­nen En­gel schon, habe ich ge­dacht. Wer so viel geht, trifft ihn schon ein­mal. Ich bin nicht zu Ih­nen ge­kom­men, das sind so neu­mo­di­sche Din­ge. Wenn die Kir­chen leer sind, wan­dern die Pfar­rer in die Häu­ser, um Ein­tritts­kar­ten zu ver­schen­ken. Nein, nein. Die Bau­ern war­ten auch, bis man kommt. Aber Sie wol­len ja auch nicht das ›Wort Got­tes‹, wie es so heißt. Sie woll­ten nur eine Be­stä­ti­gung, dass es nicht recht ist mit Ihrem Le­ben. Und Sie ha­ben ge­dacht, ein Pfar­rer, wenn er um Mit­ter­nacht noch auf ist, viel­leicht weiß der es …«

»Ich war schon an mei­nem Hau­se«, sag­te Tho­mas, »und erst als ich sah, dass die Fens­ter noch alle hell wa­ren und die Wa­gen un­ten hiel­ten, bin ich um­ge­kehrt.«

»Ja, sie le­ben wie Bel­sa­zar und sei­ne Knech­te … im­mer war das so in sol­chen Zei­ten … man soll nicht schel­ten, man soll nur im­mer da sein, im­mer da sein …« Er leg­te den Kopf an die Leh­ne sei­nes Stuh­les und schloss die Au­gen. Jede Li­nie des Ge­sich­tes erstarb in er­schre­cken­der Mü­dig­keit.

Tho­mas stand lei­se auf. »Ich dan­ke Ih­nen, Herr Pfar­rer«, sag­te er.

»Dan­ken soll man erst, wenn man beim Mor­gen­licht nicht be­reut, Herr von Orla. Und auch dann ist es meis­tens über­flüs­sig. Es kommt uns näm­lich nicht zu, ver­ste­hen Sie? Sehr we­ni­gen kommt es zu, und ich bin nicht ei­ner von den we­ni­gen.«

Er brach­te ihn noch ans Gar­ten­tor, schloss hin­ter ihm zu und sah ein­mal zu den Ster­nen auf. »Ich war heu­te bei ei­nem Mör­der«, sag­te er halb im Fort­ge­hen. »Ja, Sie dür­fen nicht er­schre­cken, das sind so mei­ne Pf­lich­ten … Mor­gen wird er hin­ge­rich­tet. Ich saß eine Stun­de bei ihm und habe ge­be­tet. Al­lein, denn er woll­te nicht be­ten. Er woll­te auch nicht spre­chen, kein Wort. Aber ich dach­te, viel­leicht tut es ihm wohl, dass nun ei­ner da sei au­ßer den furcht­ba­ren Wän­den. Aber als ich fort­ging – der Wär­ter kam mich ho­len – und ich noch ein­mal zu­rück­sah auf sei­ne ge­krümm­te Ge­stalt, da rich­te­te er sich auf und sag­te: ›Ein Se­gen, dass es drü­ben kei­ne Pfar­rer ge­ben wird!‹ Ganz freund­lich sag­te er es … was aber muss ein Stand ge­sün­digt ha­ben, Herr von Orla, dass so et­was ge­sagt wer­den kann? Ver­ste­hen Sie? Aber es ist nicht der ein­zi­ge Stand, glau­ben Sie mir. Kei­ner von uns weiß, wie er schul­dig ist an al­lem, was ge­schieht. An al­lem, hö­ren Sie? Ja, an al­lem …«

Dann ging er zu den hel­len Fens­tern zu­rück, und Tho­mas sah, wie ge­beugt die schwe­ren Schul­tern wa­ren.

Spä­ter müss­te Joa­chim zu ihm, dach­te er, lang­sam die Stra­ße hin­un­ter­ge­hend. Wenn ich ein­mal ar­bei­te – und es wird si­cher­lich nicht hier sein –, dann müss­te er zu ihm und ab und zu in die­sem großen Raum sit­zen und ihm zu­se­hen. Wie sein Ge­sicht lebt un­ter al­len To­ten, die um uns sind.

Schwes­ter Bea­te stand schon in der Woh­nungs­tür, als er die Trep­pe hin­auf­kam. »Die gnä­di­ge Frau ist krank«, flüs­ter­te sie ver­stört, »ich weiß nicht, was es ist.«

Er ging noch im Man­tel hin­ein. Mit ei­nem schnel­len Blick um­fing er den großen Raum, die Ti­sche mit Glä­sern und Aschen­scha­len, die Fal­ten in den Tep­pi­chen, die ge­knüll­ten Kis­sen in den So­fas und Ses­seln. Der ab­ge­stan­de­ne Zi­ga­ret­ten­rauch mach­te ihm nach der rei­nen Nacht­luft übel. »Öff­nen Sie alle Fens­ter, Schwes­ter«, sag­te er lei­se. Dann ging er zum Ka­min, in dem das Feu­er noch brann­te.

Sei­ne Frau kau­er­te in ei­nem der tie­fen Stüh­le. Sie hat­te die Füße hoch­ge­zo­gen und den Kopf auf die Leh­ne zu­rück­ge­legt. Ihr Ge­sicht war weiß und er­schöpft, mit klei­nen Schweiß­trop­fen auf der ge­fal­te­ten Stir­ne. Als er die Hand aus­streck­te, um sie auf ihr Haar zu le­gen, öff­ne­te sie die Au­gen und lä­chel­te. Ihr Blick war trü­be und fast be­wusst­los, ihr Lä­cheln wie das ei­ner ent­stell­ten Mas­ke. »Tho … mas«, flüs­ter­te sie müh­sam. Sie war be­trun­ken.

Sei­ne Hand hielt in der Be­we­gung inne, und er starr­te re­gungs­los in ihr Ge­sicht. Er fühl­te, wie sei­ne Haut kalt wur­de und sein Mund sich in ei­nem bit­te­ren Ge­schmack zu­sam­men­zog. »An al­lem«, ging es ihm durch den Sinn, »ja, an al­lem …«

Sie tru­gen sie ins Schlaf­zim­mer, und Tho­mas schick­te die Schwes­ter nach ei­nem Gla­se auf­ge­wärm­ter Milch. Er blieb am Fu­ßen­de des Bet­tes ste­hen, bis sie zu­rück­kam. »Eine leich­te Ver­gif­tung«, sag­te er. »Nach die­sem wird es bes­ser wer­den, ver­ste­hen Sie? Wenn es schlech­ter wird, ru­fen Sie mich!« Er sah ihr be­feh­lend in die Au­gen, bis sie ver­stan­den hat­te.

»Ich ma­che es nun schon al­lein, Herr Ka­pi­tän«, sag­te sie.

In sei­nem Zim­mer setz­te er sich auf das schma­le Ru­he­so­fa und stütz­te den Kopf in die Hän­de. Er wuss­te, dass es ohne Hoff­nung war. Die Na­chern­te des Krie­ges war so er­bar­mungs­los wie sei­ne blu­ti­ge Zeit. Vor zehn Jah­ren noch wür­de er ge­glaubt ha­ben, mit dem Schiff un­ter­ge­hen zu müs­sen. Nun glaub­te er es nicht mehr. Sein Va­ter hat­te es nie ge­glaubt. »Ein Mann, Tho­mas, der sich von ei­ner Frau in den Stru­del zie­hen lässt, hat auf­ge­hört, ein Mann zu sein!« Sie hat­ten an der Lei­che ei­nes Ge­spann­knech­tes ge­stan­den, der sich er­tränkt hat­te, weil sei­ne Frau ihn be­trog. Tho­mas hat­te noch sei­ne Ka­det­ten­uni­form ge­tra­gen, aber der Va­ter hat­te ihn mit­ge­nom­men, um es ihm zu zei­gen. Er sah ihn da­ste­hen, bei­de Hän­de auf den Stock ge­stützt, und über den To­ten hin­weg auf die grü­nen Fel­der bli­cken. Wei­ße Wol­ken zo­gen wie dunkle Schat­ten über die jun­ge Saat, und in der Fer­ne hör­te man eine Sen­se den­geln. »Du wirst dich er­in­nern, Tho­mas«, hat­te der Va­ter ge­sagt. »Es wird eine Zeit kom­men, wo euer Le­ben nicht euch oder den Frau­en ge­hö­ren wird, kei­nem von euch …«

Nun er­in­ner­te er sich. Es war nicht gut, dass der Va­ter so früh ge­stor­ben war.

Er hol­te sich ein Kis­sen und eine De­cke aus dem Gast­zim­mer. Be­vor er das Licht lösch­te, trat er noch ein­mal an den Glo­bus. Er leg­te einen Fin­ger auf die Gip­fel des Hi­ma­la­ja und schob sie mit lei­sem Schwung zur Sei­te. Die große Ku­gel be­gann sich lei­se sur­rend in ih­rem La­ger zu dre­hen, und Ge­bir­ge, Ebe­nen und Mee­re glit­ten mit ei­nem flüs­tern­den Ton an sei­nen Au­gen vor­über. Tauch­ten wie­der auf und ver­san­ken wie­der, Farb­fle­cke und ein Netz von Li­ni­en, Licht, Däm­me­rung und Schat­ten, und er stand vor­ge­beugt, lei­se ver­wun­dert, als ste­he er auf ei­nem frem­den Stern und sehe zu, wie die alte Hei­mat vor­über­schwe­be, ganz weit, durch den ei­si­gen Wel­ten­raum, und al­les Schick­sal auf ihr sei so fremd wie ein Mär­chen aus längst ver­gan­ge­nen Ta­gen.

Dann wur­de die Dre­hung lang­sa­mer und erstarb. Der hei­mi­sche Erd­teil brei­te­te sich vor sei­nen Bli­cken aus, und sei­nem Ab­bild wa­ren Brand und Ver­wüs­tung der letz­ten Jah­re nicht an­zu­se­hen. Ru­hig la­gen die Fest­län­der und Mee­re, die Strö­me spann­ten sich blau und dünn über die ge­krümm­te Flä­che, und das Bild der Stadt, in der er leb­te, lag als ein klei­ner dunk­ler Kreis zwi­schen Was­ser und Wald.

Nach Os­ten aber zo­gen die großen, lee­ren Ebe­nen, im­mer lee­rer, je wei­ter sei­ne Blick ih­nen folg­ten, bis zur ver­stüm­mel­ten Gren­ze des Rei­ches, und dort, im wie­der ge­häuf­ten Blau und Grün der Seen und Wäl­der, ruh­te das Auge noch ein­mal aus, ehe das End­lo­se hin­ter der Krüm­mung der Ku­gel ver­schwand.

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