Die Majorin

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Die Majorin
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Ernst Wiechert

Die Majorin

Roman

Inhaltsverzeichnis

1

2

Impressum

1

Die Majorin hielt auf ihrem Rappen vor dem niedrigen Kieferngehölz und sah zu, wie der Mann über das Moor kam. Sie war nicht hergeritten an die Grenze ihrer Felder, um das zu sehen, sondern sie hatte nur getan, was sie jeden Abend zu tun pflegte. Seit sehr vielen Jahren. Nach jedem langen, lauten und sehr einsamen Tage ritt sie hierher an die Grenze. Sie spielte ein bißchen mit diesem Wort, dessen Klang und Bedeutung ihr gefielen, obwohl es sich um keine Landesgrenze handelte, noch um die Grenze irgendwelcher wilder und verbotener Wünsche. Aber wer die Arbeit und Sorgen und Pflichten der Majorin hatte, durfte wohl ein wenig mit einem vieldeutigen Wort spielen, am Abend, wenn die Gespanne von den Äckern heimgekehrt waren, wenn kein Steuerbeamter dagewesen, kein Pferd gefallen, kein Schuldenbrief von ihrem Sohn gekommen war.

Das Moor lag nach Westen, und es war schön, eine Weile in den ungeheuren Himmelsbrand zu blicken, in den die Abendwolken stürzten und vor dem die schmalen Birken zwischen Schilf und Ried in starrer Schwärze standen. Auch den Flug eines Reihers gab es mitunter zu sehen, taumelnd wie über einem Feuermeer, oder der Flötenruf eines Brachvogels fiel herab und berührte ihr Herz mit einer bittersüßen Gewalt. Und dann war es gut heimzureiten, zu den dunklen Parkwipfeln am Horizont, die abgewandten Augen noch erfüllt von dem wilden Abendrot und im Ohr noch die weglose Klage der großen, fremden Vögel, die man niemals sah.

Aber heute kam nun der Mann über das Moor, und sie drängte das Pferd zwischen die niedrigen Kiefern zurück, damit er sie nicht vor der Zeit erblicke. In zwanzig Jahren hatte sie nie einen Menschen dort herkommen sehen, und die Leute sagten auch, daß dort niemand gehen könne, außer er suche den Tod, und der lasse sich dann auch ohne viele Mühe finden.

Aber der Mann sah nicht aus, als ob er den Tod suche. Er machte wohl Umwege um die vielen Wasserblänken und um die hellgrünen Grasflächen, er mußte wohl auch ab und zu zurückspringen, wenn sein Auge ihn getäuscht hatte, aber er kehrte immer wieder in die alte Richtung zurück, die aus der Sonne herzukommen und bei der Majorin enden zu wollen schien. Und da seine Gestalt, hoch und schmal und schwarz, aus dem Abendrot aufgebrochen zu sein schien, aus den Flammen des Unterganges sich herausarbeitend, bedrohlich einsam in der Öde des Moores, war es nicht verwunderlich, daß die Hände der Majorin unruhig auf dem Sattelknopf lagen und daß es ihr in den Sinn kam, als halte sie zwischen diesen Händen das Ende einer Brücke, auf der der Fremde von einem brennenden Ufer herüberkomme.

»Dummkopf!« sagte sie laut und ärgerlich. Und sie kniff die Augenlider zusammen, um seinen Weg besser verfolgen und seine Gestalt besser erkennen zu können.

Nun war nicht allzuviel Seltsames an dem Mann, außer daß er über das Moor kam, während doch rechts und links zwei glatte und stille Landstraßen es umgingen. Höchstens noch die Farbe seines Kleides, die nun langsam erkennbar wurde, ein fleckig verblaßtes Khakibraun, und eine Art von uniformmäßigem Zuschnitt, mit Gürtel und Wickelgamaschen, so daß er wie ein verschollener fremder Soldat aussah.

Also ein Landstreicher, dachte die Majorin und atmete nun doch auf, als der letzte Gürtel rotbeglänzten Wassers hinter ihm lag. Aber da geschah das Unerwartete, daß der Mann stehenblieb, sich umwandte und nach langer Regungslosigkeit plötzlich die Arme hob. Und nach der aufmerksamen Sorgsamkeit seines Weges und vor dem ungeheuren Hintergrund war diese Gebärde rätselvoll und ganz unverständlich. Auch war sie in sich nicht eindeutig, denn sie konnte einem Menschen angehören, der fliegen oder beten oder die Welt umarmen wollte. Sie hatte etwas Unvollendetes, wie sie sich dort in den roten Himmel zeichnete, eine fast hilflose Zwecklosigkeit, und so sank sie auch in sich zusammen, fiel herab und endete, und als der Mann sein Gesicht nun wieder nach Osten kehrte, schien er sich der vergangenen Gebärde zu schämen, denn er kam nun schnell und geraden Weges auf die Majorin zu.

Zuerst war die Majorin verblüfft, ja fast erschrocken, denn so etwas gab es in dieser Landschaft nicht, daß jemand über die Äcker oder die Heide oder das Moor ging und plötzlich die Arme hob, in das Abendrot hinein. Vielleicht gab es das in den Ländern der Feueranbeter, in Persien vielleicht, aber nicht hier. Hier gab es den schweren Schritt der Heimkehrer, am selbstgeschnittenen Stock, oder den leichtsinnigen der Landstreicher oder den tanzenden unwissender Kinder. Aber dann verlief sich das Erschrecken, und es blieb nur eine gesteigerte Aufmerksamkeit, wach und hilfsbereit zugleich, wie vor einer Gefahr oder einer Krankheit.

Der Mann lief ihr fast in die Arme. Vielleicht war er geblendet von seinem langen, feierlichen Blick ins Abendrot, vielleicht auch kamen nun, nach der Stunde der Gefahr, die vergessenen Sorgen wieder über ihn, der Nahrung oder des Schlafes oder der Sicherheit, denn seine Stirn war gesenkt, und seine Augen erfreuten sich nicht an dem Festen des Waldes, das sich nun vor ihm erhob. Es erwies sich in der Nähe nun als richtig, daß er eine Art von vergangener Uniform trug, und die Majorin glaubte zu sehen, daß viele Sonnen- und Regentage über sie hingegangen waren, viele Morgen in Nebel und Tau, viele Nächte unter Sternen und Gebüsch. Aber doch war noch etwas anderes an diesem Kleid, was sie nicht denken konnte, aber was doch da war: etwas Großes und Weites und fast Gefährliches. Sie hätte doch reiten sollen, ja, vielleicht war es nicht gut, hier zu warten. Jeden Sonntag sagte der Pfarrer, daß die Menschen Gott verloren hätten. Ja, mein Lieber, da suche ihn doch, dachte sie schnell, dazu seid ihr doch da … und vielleicht hat dieser Mann Gott gesehen, als er die Arme hob …

Aber als sie nun das Gesicht des Mannes ganz nah erblickte, wußte sie nicht, ob er wirklich Gott gesehen habe. Oder es mußte ein düsterer und trauriger Gott gewesen sein, denn die Lippen des Mannes waren sehr schmal und bitter, und zwischen den Brauen stand eine müde Falte, als lohne es sich nicht mehr, sie fortzuwischen. Aber das Seltsamste an dem schmalen und in der Versunkenheit sehr abweisenden Gesicht war doch seine Farbe, ein fahles und trockenes Braun, wie Holz, das in Meeressand gelegen hat und sich kühl und tot zwischen den Händen anfühlt. Aber da die Majorin nicht will, daß der Mann gegen ihr Pferd läuft, holt sie einmal Atem und sagt dann mit ihrer leisen, tiefen Stimme: »Das war nun ziemlich dumm, mein Lieber, das da mit dem Moor.«

Der Mann erschrickt, und das ist natürlich. Aber er erschrickt auf eine seltsame Weise. Wie ein Tier. Denn beim ersten Laut springt er mitten im Schritt zur Seite, hinter eine junge Birke, und seine rechte Hand greift in die Tasche, noch ehe er das Bild des Pferdes und der Reiterin begriffen hat.

Man muß viel gejagt worden sein, denkt die Majorin, um so schnell zu sein … Das Ganze ist ein bißchen unheimlich, das Moor und das Feuer hinter der Welt, und davor der fremde Wanderer, den sie nun so erschreckt hat. Aber die Majorin fürchtet sich nicht. Sie hat in zwanzig einsamen Jahren das Fürchten verlernt. Sie wundert sich nur, daß der Mann, nachdem er das Grundlose seiner Angst begriffen hat, weder lächelt noch böse wird. Nichts als Abweisung ist in seinem Gesicht, der kalte Hochmut eines Erwachsenen über einen dummen Kinderscherz, und schon suchen seine grauen Augen nach der Fortsetzung seines Weges, an der Reiterin vorbei, wo es wieder still und ganz einsam um ihn sein könnte.

Aber so kann man mit der Majorin nicht verfahren. Es ist nicht nur ihr Grund und Boden, auf dem er steht, sondern sie selbst ist auch eine Frau, die eine Antwort wünscht, wenn sie eine Frage gestellt hat. Eine Frau, die zu jedermann »du« sagt, der irgendwie zu ihrem Reich gehört, die Krieg, Russeneinfall, Plünderung, Streik und Aufruhr gesehen hat, die einen nackten Holzsarg aus Frankreich geholt hat, um ihn unter den Parkwipfeln in die Erde zu legen, einen Sarg mit einem Major, der schon graues Haar hatte, als sie noch mit einer Erzieherin französische Gespräche führte, und der dann auf eine wunderbare, aber bedrückende Weise ihr Mann wurde.

»Sehr dumm war es, nicht wahr?« fragt sie also und läßt das Pferd aus den Kiefern heraustreten.

Und das geht dem Mann nun wohl doch gegen den Stolz, daß er mit einem solchen Tadel davongehen soll. Außerdem hat sich bei seinem Sprung seine rechte Wickelgamasche gelöst, die schwarz von Moorwasser ist, und es würde nicht gut aussehen, wenn er sie wie eine schmutzige Schlange hinter sich herzöge. Ein Abgang mit einer losen Wickelgamasche kann niemals sehr stolz sein. »Von hier mag es wohl so aussehen«, sagt er, nicht eben höflich, indem er den schmutzigen Stoff wieder zu einer festen Binde legt, »aber von mir aus war es eben anders.«

»So, so …«, sagt die Majorin. »Außerdem darf man nasses Zeug nicht so fest binden, weil es nachher einspringt …« Nun sieht der Mann doch auf, und er hat ein etwas spöttisches Lächeln um seine schmalen Lippen, als er sagt: »Das ist also dasselbe geblieben, daß die Frau Majorin alles besser weiß, sogar wie man eine Wickelgamasche bindet …«

Zuerst ist die Majorin still, ganz still. Sogar ihre Reitpeitsche, mit der sie die Fliegen gescheucht hat, liegt bewegungslos auf dem Hals des Pferdes. Dann drückt sie die Augenlider wieder zusammen, wie sie sich das angewöhnt hat, wenn sie vom Hoftor nach den Gespannen späht. Und als auch das ihrer Erinnerung nicht hilft, steigt sie ab und steht dicht vor dem fremden Mann. Sie sind beide gleich groß, und sie können einander bequem in die Augen sehen. Es ist für jeden Menschen guten Gewissens schön, in das ruhige, etwas strenge Gesicht der Majorin zu blicken, wo alles an seinem rechten Platz ist, und auch der Fremde hat nun keine Scheu, diesem nahen Antlitz Linie für Linie nachzugehen. Vielleicht ist er ein Geringgeborener, aber dann hat er wohl vieles in der Welt gesehen, Tod und Liebe, Einsamkeit und Schmerz, und die Scheu vor einem Menschengesicht verloren. So daß er es betrachten kann wie eine Landschaft, die den Augen des Wanderers wehrlos gehört, Wolken und Seen und das Band der Straße, und von der man sich wenden kann, wenn sie einem nicht gefällt, oder bleiben, wenn sie dem Herzen wohltut.

 

Der Blick der Majorin ist nicht ganz so ruhig, nicht nur, weil dies jemand ist, der sie kennt und auf eine fast beleidigende Weise zu kennen vorgibt, ohne daß sie selbst sich seiner erinnern könnte, sondern auch weil nun, Auge in Auge, dies fremde Gesicht etwas schmerzlich Verwirrendes hat, eine Erstarrung des Leidens, über die Lächeln, Abweisung und Spott nur wie Wolkenschatten über ein Lavafeld gehen. Aber nicht Sentimentalität oder Resignation des Leidens, sondern eine erschreckende Nacktheit des Schmerzes, ausgewaschen gleichsam bis auf den steinigen Urgrund. Ein Mann aus einem Kerker, oder einem Schiffbruch, oder aus einem Schlachtfeld. Oder auch alles zugleich.

Und plötzlich vergißt die Majorin, daß sie sich doch erinnern wollte. Es ist so lange her, daß sie solche Gesichter gesehen hat, damals, als die Geschichte über dies Land ging, daß sie sich nun verliert in dieses Werk der Natur, ein hartes, vielleicht ein böses, aber doch ein vollendetes Werk. Und weil sie vierzig Jahre alt ist und graue Fäden in ihrem Haar hat und einen Sohn, der nicht ganz unschuldig daran ist, hebt sie ein wenig die Hand zu einer hilflosen Gebärde und sagt ganz leise: »Nein, dann war es sicherlich nicht dumm …«

Und diese unerwartete Güte der Stimme und der Antwort haben eine wunderbare Wirkung. Sie sind wie ein warmer Hauch gegen eine gefrorene Fensterscheibe. Der Mann lächelt einen Augenblick lang, nun ohne Spott und Abweisung, und einen Augenblick lang kann die Majorin wie durch ein geöffnetes Tor in ihn hineinsehen, und sie fürchtet sich nun nicht mehr, obwohl das Abendrot erlischt und die Stimmen über dem Moor erwachen, die niemand kennt, auch wenn er zwanzig Jahre in der Landschaft gelebt hat. Sie wird sich niemals mehr fürchten, auch wenn dieser Mann aus dem Kerker gekommen sein sollte.

Und das ist er nun wirklich. Aus Gefangenschaft und Kerker und Landstreichertum, bis an den Rand der großen Wüste, in der die Pyramiden schlafen, die Sphinxe und die vielen Königsgräber. Er macht keine Geschichte daraus, viel weniger noch einen Roman, und das meiste muß sie erfragen, während sie nebeneinander über die dunkelnden Felder gehen. Jawohl, verwundet und gefangen, im Argonnenwald, und zweimal geflohen und das letztemal einen Wachtposten halbtot geschlagen. Wieviel? Zehn Jahre Kerker. Milde genug für ihre Kriegsgesetze. Und die letzten fünf Jahre Deportierung und Straßenbau am Rand der Wüste. Sie rechnet nach, da ihr noch zwei Jahre fehlen. Ja, zwei Jahre brauche man von dort unten, wenn man keine Sehnsucht habe. Und er habe keine Sehnsucht gehabt … »Ausgebrannt«, sagt er. Briefe? Nein. Wozu Briefe? Dichter schreiben Briefe, aber er sei kein Dichter. Habe nur von weitem wiedersehen wollen, deshalb auch der Weg übers Moor statt über die Landstraßen. »Zwei Leben«, sagt er, »ein geschenktes und ein eingebranntes, und aus dem eingebrannten kann man nicht mehr zurück … hat den Menschen verändert, böse gemacht, wild. Und die Wilden gehen nicht hinter dem Pfluge her.«

Sie fühlt in der Dämmerung, daß er sich wieder verwandelt, an seinem Schritt, an dem unruhig Fliegenden seiner Augen, der Gespanntheit seines Gehörs. Es muß die Nacht sein, die sich von allen Seiten nähert, die das erzeugt, und es wird wohl so sein, daß er einen neuen Instinkt erworben hat oder einen verlorenen wiedergewonnen, wie ein verwildertes Haustier, das zu seinen Ahnen wiederkehrt, mißtrauisch, wach, gespannt.

Sie fragt nun nichts mehr. Sie fühlt, daß nur noch ein Faden ihn an ihre Gegenwart bindet und daß eine unbedachte Silbe genügen könnte, damit er mit einem Sprung ins Dunkel entweiche, in die große Einsamkeit, aus der er kommt und in der er bleiben möchte. Sie ist ziemlich ratlos, ja, fast hilflos, und in ihrer Hilflosigkeit verfällt sie auf eine ihrer Kinderunarten, für die sie oft gestraft worden ist: leise vor sich hin zu singen, ohne Worte, nur so, daß der Boden der Melodie gerade noch erkennbar ist. Und es ist auch ein Kinderlied, das sie vor sich hin summt.

Einen Augenblick scheint es, als wolle der Mann stehen bleiben, zurückgestoßen von der Unzartheit des Singens nach seinem kurzen Lebensbericht. Aber dann bleibt er doch an ihrer Seite, es ist sogar, als trete er leiser auf, damit kein Ton ihm verlorengehe. Es ist lange her, daß er eine Frau hat singen hören, dicht an seiner Seite, fast für ihn allein, indes die Sterne aufzuziehen beginnen und die Büsche wie dunkle, sanfte Tiere im Felde liegen.

Und als sie zu Ende gesungen hat, fragt er nicht etwa, was das gewesen sei oder wie die Worte hießen, sondern sie schweigen beide. Aber dies Schweigen ist anders als vorher, ein gleichsam gemeinsames Schweigen, und als sie die Höhe der Bodenschwelle erreichen, von der man Park und Gebäude wie eine dunkle Festung liegen sieht, von einzelnen Lichtern freundlich erhellt, bleiben sie gleichzeitig stehen und blicken hinunter.

»Da ist es nun«, sagt die Majorin, und es ist, als sei die Wärme des wartenden Herdes schon in ihrer Stimme.

»Ja, das ist es«, erwidert der Fremde.

Einen Augenblick sehen sie still auf das, was wie eine Insel des Lebens erscheint. Ein leiser Wind ist über den Feldern. Es riecht nach der ersten Kleeblüte, und der Geruch mischt sich mit dem des Pferdeleibes, der warm geworden ist unter Woilach und Sattelgurt.

»Ich bitte Sie, mein Gast zu sein, heute«, sagt die Majorin, und das letzte Wort fügt sie wie eine Entschuldigung hinzu. »Der Tag ist Ihnen wohl nicht leicht gewesen, und es würde mir traurig sein, Sie nun ins Dunkle gehen zu sehen … wir sind alle Ihnen wohl viel schuldig …«

Und damit geht sie voran, voller Angst nun, aber er bleibt an ihrer Seite. Es fällt ihm wohl keine Formel des Dankes ein, und sie ist auch froh, daß er es unterläßt. Nach einer Weile aber, als habe er ihre Einladung gar nicht gehört, sagt er: »Singen Sie oft?«

»Oft? Ach nein … aber wenn es nötig ist, für mich allein, dann tue ich es gern … als Kind durfte ich es nicht, aber wer viel allein ist, der tut es wohl gern, um eine Stimme zu hören, nicht wahr?«

»Nein«, sagt der Mann ziemlich schroff.

Und dann gehen sie durch das Tor.

An der ersten Linde der großen Allee steht ein Mann, der wie ein zweiter Baum aussieht, nur ohne Krone. »Das ist Jonas«, sagt die Majorin. »Ich habe ihm verboten, auf mich zu warten, aber er gehorcht nicht. Immer denkt er, daß mir etwas zustoßen könnte. Es ist spät geworden, Jonas, aber ich bringe auch einen Gast.« Der große Schweigende nimmt die Zügel. Zuerst sieht er die Majorin an und dann das Pferd, ob ihnen nichts geschehen sei. Dann bleibt noch der Blick für den Fremden übrig. »Das Kind ruft um die Eulenstunde«, sagt er, »die Frau Majorin sollte früher heimkommen …«

»Nun schilt nicht, Jonas«, sagt sie und klopft dem Pferd zum Abschied auf den Hals, dort, wo die schwere Hand des Knechtes liegt.

»Er ist wunderlich«, sagt sie leise im Weitergehen. »Damals, als die Kosaken kamen, fingen sie ihn, aber sein kleiner Bruder lief über die Felder, bis ins Moor, und ertrank dort. Sie hörten ihn rufen, vielleicht eine Stunde lang, und er kniete vor ihnen, damit sie hülfen. Aber sie lachten ihn aus. Seither hört er es rufen …«

»Waren Sie hier damals, als das war?«

»Ja, ich und Jonas … Wußten Sie das nicht?«

»Nein, das nicht«, erwidert er einsilbig.

Es riecht nach jungem Laub, und der Fremde sieht einmal nach oben, wo der Wind an die schweren Kronen rührt. Die Majorin denkt, daß er diesen Laut wohl kennen werde, der allen Heimatlosen die Nacht anzeigt, und noch einmal fürchtet sie, er könne ihn fortlocken, dicht vor der Stille des Hauses. Aber dann erscheint das erste erleuchtete Fenster zwischen den Stämmen, und sie hören die Hunde anschlagen im Haus.

»Ich stehe früh auf«, sagt der Fremde an der weißen Steintreppe. »Wenn es so sein könnte, daß ich niemand zu wecken brauche, bevor ich gehe …«

»Man soll nicht an den Weizen denken, solange das Gras noch nicht gemäht ist, sagte mein Vater«, meint die Majorin und lächelt. »Aber auch das wird eingerichtet … es wohnen genug wunderliche Leute hier.«

Ein Mädchen schaltet das Licht in der Halle ein, knickst und starrt mit runden Augen auf den Fremden. »Wach auf, Lena«, sagt die Majorin gutmütig. »Da ist ein Gast, führ ihn ins grüne Zimmer und klopfe nach zehn Minuten an, ob du ihn herunterführen darfst. Wir essen dann zusammen.«

Lena steht auf der ersten Treppenstufe und dreht sich um. Ein Taubstummer, denkt sie, und ihre Neugier wächst. Der Fremde steht noch an der Tür, wie er eingetreten ist, und blickt in die Dämmerung der Halle hinauf, die durch beide Stockwerke läuft, dorthin, wo die ausgestopften Steinadler schweben und die Geweihe und Elchschaufeln hängen, dunkel, mit weißlichen Enden. Sein Gesicht ist nicht mehr finster, aber gleichsam geblendet und ein bißchen verstört, wie bei einem gefangenen Wolf, der sich umblickt und den Wald nicht mehr sieht.

»Bitte«, sagt das Mädchen und knickst noch einmal.

Der Mann fährt zusammen und sagt etwas in einer fremden Sprache, und dann geht er gehorsam die Treppe hinter dem Mädchen hinauf, und Lena fühlt etwas Kaltes im Nacken, als ob das ein Werwolf hinter ihr sei, und oben werde er über sie herfallen und ihr die Kehle durchbeißen. Und in aller Angst freut sie sich, daß viel zu erzählen sein wird in der Küche und daß die Majorin doch wunderliche Gäste habe, ohne Hut und mit Moorerde an den Beinen und mit einer Haut wie die Wilden im Zirkus.

Ihr Gesicht ist noch blaß, als sie wieder in der Küche ist, aber sie hat schnell eine rote Korallenschnur um den Hals gelegt, bevor sie die Treppe wieder hinuntergelaufen ist. »Ein Indianer«, sagt sie, »ganz gewiß ein Indianer! Und er hat oben im grünen Zimmer gestanden und auf den Teppich gesehen, wie das schwarze Wasser aus seinen Schuhen gelaufen ist. Und dann hat er das Fenster aufgemacht und gesehen, ob man herausspringen kann …«

»Du bist ein Kalb, Lena«, sagt die Mamsell mit ruhiger Entschiedenheit und stützt den Schaumlöffel unter das Doppelkinn.

»Und wenn die Frau Majorin Indianer empfängt, so sind es sicherlich Häuptlinge, und sie heißen Weißer Adler oder Fliegender Hirsch, verstanden? Und man sieht es daran, daß sie dir gleich eine rote Kette mitbringen als Geschenk.«

Darauf ist ein großes Gelächter in der Küche, bis Jonas hereinkommt, der das Pferd versorgt hat. Jonas hat eine Stube im Insthaus, aber er darf jeden Abend am Feuer in der Küche sitzen und Holzlöffel oder Quirle schnitzen, oder ganz leise auf seiner Harmonika spielen, oder den schweren Kopf in beide Hände stützen und schweigend in das Feuer starren. Er darf das, seit er damals wiedergekommen ist, nachdem die Kosaken ihn mitgeschleppt hatten, krank, zerschlagen, verwirrt, mit einem Lanzenstich durch die linke Schulter. Und viele Monate haben sie allein am Feuer gesessen, die Majorin und er, und draußen war nichts gewesen als das Gebrüll herrenlosen Getiers und der dumpfe Lärm ferner Geschütze und mitunter die Stimme eines Kindes, versinkend im Moor. Aber diese Stimme hat nur er allein vernommen. Seither sitzt er hier, jeden Abend, fast zwanzig Jahre lang, und mitunter kommt die Majorin herein, bleibt vor dem Feuer stehen und legt eine Hand auf seine gebeugte Schulter. »Ja, Jonas«, sagt sie, »wir beide, nicht wahr?«

Eine treue Kameradin ist sie, und sie vergißt nicht so schnell, wie die Männer vergessen. Der Pastor zum Beispiel, dem er die beiden Kühe gerettet hat und der ihm nur zunickt, als sei er ein Tagelöhner.

Die Mädchen stürzen über ihn her und halten ihn an den Rockklappen fest. »Was ist, Jonas, ist es wahr, daß es ein Indianer ist? Du hast ihn doch gesehen, als er ankam?«

 

Jonas sieht sich unruhig um. Er kann es nicht vertragen, wenn so viele Menschen dicht um ihn sind. Er öffnet einmal vorsichtig seine Arme und schiebt die Mädchen zur Seite. Dann sitzt er vor dem Fenster, legt mit bloßen Händen eine Kohle auf den Tabak seiner Pfeife und starrt dem Rauch nach.

»Jonas!« rufen sie zornig im Chor.

»Ja«, sagt er erwachend und sieht die Kinderfrau des jungen Herrn an, die seit zwanzig Jahren im Hause ist. »Ja, es ist Michael, des Waldbauern Sohn.«

Es ist so still, daß sie oben den Schritt des Fremden hören, einen unruhigen, schnellen Schritt, der von Wand zu Wand läuft, hin und her.

Dann lacht Lena hellauf, und auch die andern lächeln, außer der Kinderfrau.

»Michael Fahrenholz steht auf unserm Denkmal«, sagt die Mamsell vorwurfsvoll. »Sie haben ihn tot in Frankreich liegen sehn … mach keine Scherze mit den Toten, Jonas!«

Jonas hebt die schweren Augen mit den vielen dunklen Gesichten und sieht sie an. »Ich habe nicht gesagt, daß er ein Lebendiger ist«, antwortet er ernst. »Ich habe nur gesagt, daß es Michael ist, des Waldbauern Sohn, und wir haben die Schafe zusammen gehütet, als wir klein waren.«

Wieder der Schritt von Wand zu Wand und der leise Ton des Feuers hinter der Herdtür, das in einem feuchten Buchenscheit klagt. Und dann die Klingel der Majorin, scharf und hell, und Lenas erstickter Schrei: »Ich gehe nicht! Ich kann nicht! Ich kann ihn nicht holen, oben aus dem Dunklen …«

Bis die Kinderfrau aufsteht und sie um die Schulter faßt und die Mamsell zornig wird. Und dann gehen sie beide hinauf, die alte Frau in ihrem dunklen Tuch um das graue Haar und Lena, mit gefalteten Händen vor der Brust, dicht unter der roten Korallenkette, die ein Geschenk roter Häuptlinge sein soll.

Er sah nicht wie ein Toter aus, der Fremde, als er der Majorin gegenüber hinter dem weißen Tischtuch saß, aber wie ein Verirrter, der in eine unheimliche Herberge geraten ist. Aber der keine Verwirrung zeigen will und deshalb kalt und fremd zu sein sich bemüht.

Er aß wenig und das Wenige schweigend und schnell, und auch die Majorin sagte nichts außer ein paar Worten freundlicher Nötigung. Dagegen konnte sie nicht vermeiden, ihn anzusehen, seine braunen, nicht unedlen Hände, auf denen die Jahre des Leidens eingeschrieben waren, und seine gesenkte Stirn, auf der der Schein der Lampe teilnahmslos lag. Sie grübelte tief in die Vergangenheit zurück, Kinderzeit und erste Ehe, Menschengesicht nach Menschengesicht, Lebende und Tote, Freunde und Feinde, aber die Stirn blieb verschlossen, und die grauen Augen, mitunter sich hebend, gaben keine Erinnerung, weder im Guten noch im Bösen.

Und langsam wurde die Majorin traurig, nicht weil sie ein Gesicht nicht wiederzuerkennen vermochte, sondern weil hier jemand über ihren klaren und tapferen Weg ging, ohne anzuhalten, in Bitterkeit eingeschlossen. Ein Mensch, der vom Menschen nichts wissen wollte, obwohl er jahrelang an andere gekettet gewesen war, und indes sie hier schafften im angehenden Jahr, Mensch und Erde, Herr und Knecht, Sonne und Regen, ein einträchtiger und gerundeter Kreis, stand er plötzlich draußen, mit zerschnittenen Wurzeln, die Seele vergiftet von bitteren Bildern, ein Mensch der Landschaft, der gelitten hatte über das Maß hinaus, der über seinem Teller schon wieder an die Straße dachte, die er gehen würde, aus der Heimat hinaus, Zorn im Herzen über die Festen und Wurzelnden, für die es ihn umgetrieben hatte, zwanzig Jahre lang.

Und wenn die Majorin den Blick über die schweigende Stirn ihr gegenüber hob, zur dunkelbespannten Wand über der breiten Tür, konnte sie den goldenen Rahmen sehen und in ihm das junge und hochmütige Gesicht ihres Sohnes, den sie vor zwanzig Jahren empfangen hatte, erschreckt und ohne Liebe. Der aufgewachsen war in zuchtloser Zeit, Wankendes und Zerfallendes vor den jungen Augen, und der nicht mehr zurückfand in Zucht und Ordnung, in harte Arbeit und stillen Verzicht. Ein Mensch der Städte, der über ihr Tagewerk lächelte und vor dem sie die Hausmädchen bewahren mußte, wenn er einkehrte bei ihr, ein Grammophon im Koffer und ein Album mit Photographien, vor denen die klare Stirn errötete.

Sie seufzte, schob dem Fremden noch einmal den Brotkorb zu und bat dann, mit ihr noch eine Weile am Kamin zu sitzen, im Nebenzimmer, um sich zu wärmen. Sie bat auch zu entschuldigen, daß sie eine kurze Pfeife rauche, seit der Zeit, als Jonas und sie am Herdfeuer gesessen hätten. Es habe damals nichts anderes gegeben, und dann hätten sie es eben beibehalten. Wer viel allein sei, werde ja leicht ein wenig sonderlich.

Der Mann reichte ihr Feuer und sah sie ohne Verwunderung an. Wahrscheinlich hatte er noch anderes gesehen als Frauen, die eine kurze Pfeife rauchten und dabei eine gestickte Krone in ihrem Taschentuch hatten.

Ob es hier ein Denkmal gäbe, für die Gefallenen, fragt er endlich, die Hände um die Knie gefaltet und den Blick in das Feuer gerichtet. Und wo es zu finden sei? Und nach der Antwort der Majorin erklärt er, daß das eine seiner »Sonderlichkeiten« sei, überall die Totenmäler aufzusuchen und die Namen zu lesen. Bei den meisten stehe Geburts- und Todestag geschrieben und wo sie gefallen seien, und er sitze gern davor und suche nach den Orten, die auch ihm bekannt seien. Die russischen Namen klängen traurig und sehr weit, die französischen aber hätten einen harten und unheimlichen Klang, und es tue gut, sie wieder vor sich hin zu sprechen, nachdem das alles gewesen sei. Und mitunter finde er auch den Namen eines toten Kameraden, und so wandere er eigentlich die Reihe der Toten entlang, von Landschaft zu Landschaft, denn mit den Lebenden sei es schwerer als mit den Toten.

Die Majorin sieht ihn an, und immer schwerer wird ihr Herz. »Da habe ich nun gelebt und geschafft«, sagt sie, »Jahr für Jahr, und die Menschen sagen, das sei eine tapfere und tüchtige Frau. Denn wenn eine Frau allein lebt und Menschen und Felder in Ordnung hält, dann scheint ihnen das schon etwas Großes zu sein. Aber ich weiß nun, wie klein das alles ist, denn die Menschen wollen ja arbeiten, und die Felder wollen ja Früchte tragen, und sie brauchen nichts als etwas Mühe und Liebe und Gerechtigkeit. Und ein einziger guter und gerechter Tag zieht alle anderen nach sich, denn wer gepflügt hat, der sät auch von selbst. Was ist da Großes dabei? Aber nun, da ich Sie gesehen habe … wie soll ich Ihnen helfen? Jedes Tier kommt am Abend heim, und wenn es nicht da ist, suchen wir es, die ganze Nacht. Sie aber gehen davon, an der Heimat vorbei, haben gelitten und wollen nicht, daß wir es gutmachen. Und die, die nichts gelitten haben, bleiben im Frieden und sehen Ihnen nach …«

»Auch die Frau Majorin hat gelitten«, sagt der Fremde.

Es wäre nun Zeit zu fragen, woher er das wisse und wer er sei, aber eben schlägt die Uhr, und er wendet den Kopf, lauschend und unruhig, und da muß sie es lassen. Raubvögel sehen so aus, auf dem trockenen Wipfel einer Kiefer, wenn ein Zweig sich gerührt hat am Boden unter ihnen.

»Es gab ein Sprichwort dort unten«, fährt er nach einer Pause fort. »Wenn die Tore sich öffnen, fällt die Tür zu. Das war für die, die immer von der Freiheit redeten … im Französischen reimte es sich.«

»Aber das ist nicht wahr!« sagt sie mit plötzlicher Erbitterung und ballt die Faust auf der Sessellehne. »Das ist die Philosophie von Gefangenen, aber nicht von freien Menschen!«

Nun lächelt der Fremde ganz arglos und sieht sie lächelnd an.

»Ist die Frau Majorin ein freier Mensch?« fragt er. Und dann, ohne eine Antwort abzuwarten, steht er auf und verabschiedet sich.

Sie bringt ihn bis an die Halle und sieht zu, wie er die Treppe hinaufsteigt. Sein Schatten, vielfach geknickt, liegt über den Stufen, und es sieht aus, als zöge er ihn hinter sich her.

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