Das einfache Leben

Текст
Автор:
Из серии: Klassiker bei Null Papier
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

»Und … es gibt kei­ne Hil­fe?« frag­te er.

Der an­de­re schüt­tel­te den Kopf. »Pfar­rer und Ärz­te«, sag­te er, »die ar­bei­ten im­mer mit den Din­gen, die für sie auf­ge­hört ha­ben, wis­sen Sie. Gott und Pf­licht und gu­ter Wil­le und so wei­ter.« Er sah sich vor­sich­tig um. »Ich bin ein ein­fa­cher Mensch«, fuhr er lei­se fort, »aber ich weiß es. Es gibt Müt­ter und Kin­der, bei de­nen man die Na­bel­schnur nicht zer­schnit­ten hat, ver­ste­hen Sie? Und so war es hier. Sie blei­ben im­mer eins, sie wer­den nie zwei. Sie hat es auch ge­wusst, als das dort ge­sch­ah. Sie kam zu mir auf den Hof, weiß wie eine Tote, und zeig­te mit dem Arm in den Wald. ›Jetzt ha­ben sie ihn fort­ge­ris­sen‹, sag­te sie. ›Mein Blut fließt aus.‹ Und so war es auch, dass ihr Blut aus­ge­flos­sen ist … Mein lie­ber Herr, das muss man nun so las­sen, und nun ist es so gut, dass Sie hier­blei­ben und ich manch­mal ein biss­chen bei Ih­nen sit­zen darf … wie ist Ihr Name, lie­ber Herr?«

Sein Ge­sicht war von in­nen be­glänzt, als er sich vor­beug­te und lä­chelnd in Tho­mas’ Au­gen sah.

»Orla«, sag­te Tho­mas. »Tho­mas Orla … es ist ein mär­ki­scher Name. Aber wes­halb mei­nen Sie im­mer, dass ich hier­blei­ben wer­de?«

»Sie sind ge­sandt, lie­ber Herr Orla, ja, ich muss es wohl so nen­nen. Ge­sandt wie ein En­gel des Herrn. Se­hen Sie, manch­mal in die­sen Jah­ren habe ich ge­zwei­felt, an Gott, ja, das habe ich ge­tan. Aber an den Hei­li­gen nicht. Von Kind auf war ich bei ih­nen, das ist in un­se­rem Glau­ben so, nä­her bei ih­nen mit­un­ter als bei Gott. Er ist so weit, so schreck­lich weit. Aber sie sind nahe, an un­se­rer Sei­te, denn sie ha­ben auch ge­lit­ten, eben­so wie wir, mehr noch. Aber Gott lei­det nicht, wis­sen Sie? Nun, und die Hei­li­gen, sie ha­ben Sie ge­sandt. Sie ha­ben ge­se­hen, dass ich nicht mehr wei­ter wuss­te, und da ha­ben sie mir das ge­schickt, das von Staub und Asche, nicht wahr? Das ist wie ein neu­es Le­ben, denn ich glau­be es. Und da­für wer­den Sie hier fin­den, was Sie su­chen. Al­les hängt zu­sam­men bei den Men­schen, gute Tat und gu­ter Lohn … Der See hier, er ist zu ver­pach­ten, oder nicht zu ver­pach­ten, son­dern der Fi­scher­pos­ten ist zu ver­ge­ben, Fi­scher und Jä­ger, bei­des zu­sam­men. Ein ru­hi­ger Pos­ten, auch wenn der Ge­ne­ral wun­der­lich ist … alle sind hier wun­der­lich … man kann le­ben da­von, be­quem le­ben, wenn man ein­fach ist. Ein klei­nes Haus auf der In­sel, mir ge­gen­über, einen Büch­sen­schuss weit, ein Rohr­dach, ein großer Herd, ein Netz­schup­pen. Und ein klei­ner Wald, ein schö­ner Wald, Jung­holz mit Fich­ten und Bir­ken und da­zwi­schen alte Ei­chen mit tro­ckenen Wip­feln, wo die Rei­her abends ein­fal­len. Und ganz al­lein, ver­ste­hen Sie? Ganz al­lein, nur Was­ser und Wald in der gan­zen Run­de. Man braucht ein Boot, um zu Ih­nen zu kom­men …«

»Und der Ge­ne­ral?« frag­te Tho­mas. Sei­ne Pfei­fe war aus­ge­gan­gen, und er lausch­te wie in ei­nem Mär­chen. Ein Zau­ber fiel von dem al­ten Mann über ihn.

»Ja, ihm ge­hört das al­les, lie­ber Herr. Das Schloss und das Gut und der See. Ein ar­mer Mann, bei­de Söh­ne ge­fal­len, und ich habe sie bei­de auf den Kni­en ge­hal­ten. Nur eine En­ke­lin ist bei ihm, und sie ist wie ein En­gel in dem dunklen Haus … und Sie wer­den die Stel­le be­kom­men, ich selbst will es ihm sa­gen. Der sie jetzt hat, ist ein Bol­sche­wik, ver­ste­hen Sie? Ei­ner, der ›Herr‹ ge­nannt wer­den will, und sei­ne Mut­ter hat noch Kar­tof­feln von mei­nem Feld ge­stoh­len. Und der den Ge­ne­ral einen ›Blut­säu­fer‹ nennt, und je­des Kind weiß, dass er nur Rot­wein trinkt. Nur dass Ka­no­nen in der Schloss­hal­le ste­hen und zwei Die­ner in Uni­form da­bei. Ei­nen Putsch will er ma­chen, sa­gen die Bol­sche­wi­ken, aber je­der weiß, dass die Ka­no­nen nicht ge­la­den sind.«

»Kön­nen wir es se­hen?« frag­te Tho­mas und stand auf. »Die In­sel, mei­ne ich, und al­les … der Mond scheint doch, und viel­leicht ist mor­gen früh al­les fort und Sie ha­ben nur ge­träumt …«

Der alte Mann lä­chel­te. »Auch er war so«, sag­te er, »al­les gleich und so­fort, da­mit es nicht ver­schwun­den ist am nächs­ten Tag. Aber nichts ver­schwin­det, lie­ber Herr. Wenn man alt ge­wor­den ist, weiß man, dass nichts ver­schwin­det. Aber wir kön­nen ge­hen … beim Mond­licht wirft es die Net­ze über Sie, mehr noch als am Tage.«

Die Luft war noch wär­mer ge­wor­den, und ein paar Re­gen­trop­fen aus ei­ner ver­lo­re­nen Wol­ke fie­len schwer in das tro­ckene Laub un­ter den Ei­chen. »Geht dort wer?« frag­te Tho­mas lei­se. Nein, nein, das sei nur der Re­gen und eben der Zau­ber. Im­mer klin­ge es hier so, als gehe wer durch die Nacht. Aber nie­mand gehe, ganz still und leer sei der Wald. Au­ßer dass die To­ten um­gin­gen aus Land und Meer, aber dar­über wis­se er nichts.

Der Mond stand noch tief, vor ih­nen, und sie sa­hen nur sein Licht. Der Him­mel war sanft be­glänzt, wie aus ei­nem fer­nen Tor, und mit­un­ter blitz­te es im Wal­de auf, ein ein­zel­ner Strahl, der durch eine Lücke im Ge­äst auf feuch­te Rin­de fiel. Eu­len rie­fen, und vom Was­ser schrie ein un­be­kann­ter Vo­gel. Es war, als fra­ge je­mand nach dem Wege.

Der Fuß­pfad senk­te sich, und dann war das Was­ser zu se­hen. Es lag als eine mat­te Schei­be in ei­nem dunklen, viel­fach ge­sprun­ge­nen Rah­men. Es dehn­te sich, weit hin­aus, und in der Fer­ne wur­de es grau­er und mat­ter, bis es mit der Schwär­ze ver­floss. Eine schma­le Mond­bahn lief bis zu ih­ren Fü­ßen, und in der Höhe, zwi­schen dunklen, lei­se trei­ben­den Wol­ken, stan­den die Ster­ne. Nichts be­weg­te sich, nicht ein­mal die Brücke des Mond­lichts, und die Schilf­hal­me stan­den wie Spee­re mit glü­hen­den Spit­zen am Ufer. Und doch war es wie­der, als gin­ge je­mand lei­se durch den Wald und über das Was­ser hin, ver­stoh­len und atem­los, bald zur Rech­ten und bald zur Lin­ken.

»Dort ist sie«, sag­te der Förs­ter lei­se.

Tho­mas sah die In­sel, einen Büch­sen­schuss weit. Sie lag in voll­kom­me­ner Schwär­ze auf der mat­ten Schei­be, nur um die Wip­fel­li­nie war ein flie­ßen­der, wei­ßer Schein, und die tro­ckenen Äste der Ei­chen stan­den wie Git­ter­mas­ten ge­gen den Mond. Dunkle, schwe­re Vö­gel sa­ßen re­gungs­los in ih­rem Netz­werk.

»Hier ist der Kahn«, sag­te der Förs­ter.

Aber Tho­mas woll­te nicht fah­ren. Er wuss­te, dass es hier war, wo er le­ben und wahr­schein­lich auch ster­ben wür­de. Sei­ne Au­gen sa­hen es, und mehr noch sag­te es sein Herz. Aber er woll­te nicht hin­ge­hen wie in ei­nem Zau­ber. Zu viel stand auf dem Spiel. Er war fünf­und­vier­zig Jah­re alt und brauch­te den Tag, um dies zu se­hen. Auch am Mor­gen wür­de es noch da sein, und es wür­de gut sein, wenn es reg­ne­te und ein har­ter Wind gin­ge, dass al­les grau und wirk­lich aus­sä­he. »Nein, mor­gen früh«, sag­te er.

Sie stan­den noch eine Wei­le und sa­hen hin­aus. Ei­ner der großen Vö­gel über der In­sel rich­te­te sich auf und schlug mit den Flü­geln. Ein hei­se­rer Ruf kam über das Was­ser her­über. Dann war al­les wie­der wie zu­vor.

»Das sind die Rei­her«, sag­te der Förs­ter. »Der Ge­ne­ral liebt sie nicht, aber es sind edle Vö­gel, und au­ßer ih­nen ha­ben Sie nie­mand auf der In­sel.«

»Ich hof­fe, dass das gut sein wird«, sag­te Tho­mas.

Dann gin­gen sie den glei­chen Weg wie­der zu­rück.

Das Haus war dun­kel, und Tho­mas stieg mit ei­ner Ker­ze die Trep­pe hin­auf.

»Ne­ben­an war sein Zim­mer«, sag­te Gru­ber. »Sie lässt kei­nen hin­ein. Aber es ist ganz still dort, und Sie brau­chen sich nicht zu fürch­ten.«

Tho­mas stand noch am of­fe­nen Fens­ter. Nein, er fürch­te­te sich nicht. Al­les wür­de gut sein, wie er es ge­se­hen hat­te. Er wuss­te, dass es auf ihn ge­war­tet hat­te, sonst wür­de er ja wei­ter­ge­fah­ren sein, die brei­te Stra­ße zur Stadt. Man muss­te nur ge­hor­sam sein.

Er ließ das Fens­ter of­fen und sah noch im Dun­keln zur nied­ri­gen Zim­mer­de­cke auf. Der große Vo­gel … wie er die schwe­ren Flü­gel ge­öff­net hat­te … und dann wie­der in Schlaf ver­sun­ken war … der Mond fiel in ihre ge­schlos­se­nen Au­gen … die Ster­ne kreis­ten … al­les war gut und ru­hig dort … er woll­te aus­stei­gen dort und ar­bei­ten … nie war er al­lein ge­we­sen … Schif­fe, Men­schen, Häu­ser … er hat­te kei­nen Ehr­geiz mehr und we­nig Glau­ben … wie ein Ge­schwätz … aber dort woll­te er sich be­re­den, so ein­sam wie die großen Vö­gel …

Dann schlief er ein.

3

Er er­wach­te da­von, dass der Re­gen auf das Dach rausch­te und dass ne­ben­an, hin­ter der dün­nen Wand, je­mand ging. Er er­riet es nur dar­aus, dass in re­gel­mä­ßi­gen Ab­stän­den eine Die­le lei­se knarr­te. Es war ein seuf­zen­der Ton, als wenn im Wal­de zwei Bäu­me sich an­ein­an­der rie­ben. Ein ganz schwa­cher Schein stand schon hin­ter dem Fens­ter, aber es muss­te noch Nacht sein. Die Din­ge des Zim­mers zeig­ten noch kei­nen Um­riss.

Er rich­te­te sich auf und lausch­te. Die Schrit­te mus­s­ter lang­sam und ganz re­gel­mä­ßig sein, auch glaub­te er, als seir Atem ru­hi­ger ging, das Knis­tern ei­nes Sei­den­klei­des zu hö­ren. So war es die Frau, die im Zim­mer ih­res Soh­nes war. Er wuss­te nicht, ob sie dort zu schla­fen pfleg­te.

Der Re­gen rausch­te, kein Wind ging, und der Wald emp­fing be­we­gungs­los die strö­men­den Trop­fen. Ein ein­zi­ger tiefer Ton stand um das Haus, groß und tröst­lich wie Mee­res­rau­schen. Aber nun hob sich eine Stim­me da­zwi­schen auf, tief und ganz lei­se, die mit ge­schlos­se­nen Lip­pen eine Me­lo­die er­klin­gen ließ. Die Frau sang, so lei­se wie über ei­nem schla­fen­den Kind, aber das Lied son­der­te sich doch ab von dem ein­tö­ni­gen Rau­schen des Re­gens, weil es Höhe und Tie­fe hat­te, einen Gang der Töne, der an­ders ge­ord­net war als das Fal­len der Trop­fen, eine mensch­li­che Be­wegt­heit, die nicht ein­mal die der Kla­ge war, son­dern fast wie ein lei­ser Marsch vor sich hin­ging, selbst­ver­ges­sen wie ein Kind auf abend­li­cher Stra­ße.

 

Tho­mas war es, als ken­ne er das Lied, ja er wuss­te, dass er es kann­te, so ge­nau, wie man sei­nen Na­men kennt, aber in dem Zwie­licht des däm­mern­den Mor­gens und in der Un­wirk­lich­keit al­les Ge­sche­hens konn­te er sich nicht er­in­nern. Traum und Mor­gen ver­wisch­ten sich ihm, und wäh­rend er lausch­te, war er ge­neigt zu mei­nen, dass auch dies da­zu­ge­hö­re zu dem neu­en Le­ben, die sin­gen­de Frau wie der Re­gen, dass der Kum­mer sich hier nicht ver­ber­ge wie in den Städ­ten, son­dern sin­gend durch die Nacht gehe und es ihn nicht be­rüh­re, ob ein Mensch zu­hö­re, ein Frem­der gar. den es aus dem Schla­fe we­cke.

Nun ver­stumm­te das Lied oder es ver­schmolz mit dem Re­gen, und auch die Be­we­gung der Die­le klang nun weit her, als sei­en es doch zwei Kie­fern im Wal­de, die in der Mor­gen­luft er­schau­ernd sich rühr­ten. Schließ­lich war es, als la­che es lei­se hin­ter der Wand, ein Mensch, der mit sich al­lein wäre, ganz al­lein, und eine Erin­ne­rung rie­fe den lei­sen Ton in sei­ner Brust her­auf.

Doch war Tho­mas wohl schon ein­ge­schla­fen, als dies ge­sch­ah.

Am Mor­gen dann fand er nie­man­den in der Stu­be un­ten, aber ne­ben sei­nem Früh­stück lag ein Zet­tel des Förs­ters, dass er auf die In­sel fah­ren (der Kahn lie­ge un­ten am Ufer) und ihn dort oder wie­der im Hau­se er­war­ten möge. Die Schrift war fest und ge­ra­de, und Tho­mas dach­te wie­der an das Lied in der Nacht und wie selt­sam es wohl aus­se­hen wür­de, wenn die Frau die Wor­te in ih­rer Schrift dar­un­ter set­zen woll­te. »Sie­ben Jah­re, mein lie­ber Herr …«

Lei­se ging er aus dem Haus. Der Re­gen hat­te fast auf­ge­hört, aber die Wol­ken zo­gen noch dun­kel, in lan­gen Zü­gen über den Wald. Aus den Bäu­men tropf­te es un­auf­hör­lich in das wel­ke Laub, und bei je­dem Wind­stoß rausch­te es schwer und sprü­hend her­ab. Es war im­mer noch warm, und die Wal­der­de roch bit­ter und schwer.

Dün­ne Ne­bel zo­gen über den See, und die In­sel lag düs­ter über dem grau­en Was­ser. Das Haus war nun zu se­hen, nicht mehr als eine große Hüt­te, und es war ei­gent­lich nur ein schwe­res Rohr­dach über ei­ner nied­ri­gen wei­ßen Wand. Aber Rauch stieg aus dem Schorn­stein, und da­ne­ben hob der be­wal­de­te Hü­gel sich bis zu den Ei­chen auf sei­ner Kro­ne. Die tro­ckenen Wip­fel ver­schwam­men im Ne­bel.

Tho­mas stand am Ufer und lausch­te, ob er einen Ton ver­näh­me, aus den Wäl­dern oder über dem Was­ser, aber nur der Rohr­sän­ger rief im ho­hen Schilf, und die Trop­fen fie­len im Wald. Er stand lan­ge und sah hin­über. Er hör­te sein Herz mit ru­hi­gen Schlä­gen klop­fen und dach­te, dass er als ers­tes ein klei­nes, leich­tes Boot für Joa­chim be­sor­gen müss­te, wenn er zu den Som­mer­fe­ri­en käme. Al­les an­de­re schi­en ihm ge­ord­net und selbst­ver­ständ­lich.

Er fuhr ste­hend hin­über, da die Ru­der­bän­ke nass wa­ren. Das Boot hat­te einen fla­chen Bo­den, und mit je­dem Schlag des lan­gen Ru­ders hob die Spit­ze sich lei­se rau­schend aus dem Was­ser. Zu­erst sah er den Grund, hel­len Sand, über den klei­ne, er­starr­te Wel­len­mar­ken lie­fen, dann wur­de das Was­ser dun­kel, fast schwarz, und grü­ne Ge­wäch­se ho­ben sich schwan­kend aus der Tie­fe auf. Mit­un­ter sprang ein schwe­rer Fisch ins Licht, und ein sil­ber­ner Schein blitz­te matt durch die graue Luft. Dann lie­fen dün­ne Rin­ge über den See, grif­fen über sein Boot hin­aus und erstar­ben wie­der. Es war ihm, als sei er im­mer so ge­fah­ren, als brauch­te es nicht auf­zu­hö­ren und als sei­en Schif­fe und Meer nur ein Traum ge­we­sen, eine ge­spens­ti­sche Ver­grö­ße­rung aus un­ru­hi­gem Schlaf, und nun zie­he sich al­les wie­der zu­recht zu ge­ord­ne­ter und be­schei­de­ner Wirk­lich­keit.

Der fla­che Kiel stieß lei­se auf den Sand des Ufers, und er stieg aus. Ohne sich um­zu­se­hen, ging er den Hang zum Hau­se hin­auf und klopf­te an die graue Tür. Als nie­mand ant­wor­te­te, trat er ein.

In dem dämm­ri­gen Licht sah er nur das Feu­er im Herd und eine dunkle Ge­stalt, die hin­ein­starr­te, die Arme auf die Knie ge­stützt, das Kinn in den Hän­den. Da kei­ne Ant­wort auf sei­nen Gruß er­folg­te, ging er um den Mann her­um und setz­te sich auf einen Holz­sche­mel ne­ben dem Herd. Un­ter dem grau­en Haar­busch sah er nun das Ge­sicht des Man­nes, fins­ter, aber nicht böse, wie es un­be­wegt in das Feu­er blick­te, den Wi­der­schein der Flam­me auf der ge­fal­te­ten Stirn und in den fast schwer­mü­ti­gen Au­gen. Ein grau­er Bart hing ihm un­ge­pflegt auf die Brust, und ein dump­fer Ge­ruch von Rauch und Fi­schen ging von ihm aus.

Es war noch stil­ler hier als auf dem Was­ser, nur das Feu­er knis­ter­te hin­ter der halb­ge­öff­ne­ten Herd­tür. Durch die klei­nen Fens­ter fiel das graue Licht wi­der­wil­lig auf die dunklen Boh­len, aus de­nen die Wän­de zu­sam­men­ge­fügt wa­ren. Net­ze hin­gen an Holz­pflö­cken, und Ru­der stan­den in den Ecken.

»Na?« sag­te der Mann und sah ein­mal flüch­tig auf.

Tho­mas er­wi­der­te, dass er sein Nach­fol­ger wer­den wol­le.

»Nach­fol­ger« sei gut, mein­te der Mann und sah ihn von der Sei­te an. »Thron­fol­ger« sei bes­ser, denn die Thro­ne wa­ckel­ten heu­te, und die­ser ins­be­son­de­re, auf den er sich zu set­zen ge­den­ke, sei mehr als wack­lig.

Nun, er habe nicht ge­ra­de die Ab­sicht ge­habt, sich auf einen Thron zu set­zen, sag­te Tho­mas.

Son­dern?

Son­dern zu ar­bei­ten. Er be­kom­me kein Schiff mehr als Steu­er­mann, und es sei ihm auch zu laut in den Städ­ten.

Der Mann nahm die Pfei­fe aus dem Mun­de und sah ihn lan­ge an. »Was du doch für ein ko­mi­scher Vo­gel bist«, sag­te er nach­denk­lich. »Bist du ein Ver­klei­de­ter, hm?«

Nein, er sei nicht ver­klei­det, er­wi­der­te Tho­mas lä­chelnd.

Tja, heu­te sei al­les mög­lich. Von rechts und von links. Nun, mit dem Lärm, da brau­che er hier nicht ban­ge zu sein. Auf der In­sel sei noch kei­ner von den Bon­zen ge­we­sen, um Re­den an das not­lei­den­de Pro­le­ta­ri­at zu hal­ten. Und ar­bei­ten? Das kön­ne er hier schon, wenn es ihm Spaß ma­che, für die Blut­sau­ger zu ar­bei­ten. Ihm ma­che es kei­nen Spaß mehr.

Auf See habe nie­mand da­nach ge­fragt, sag­te Tho­mas, für wen er ar­bei­te. Sie woll­ten eben zur See fah­ren, das sei ih­nen Freu­de ge­nug ge­we­sen. Und so wol­le er hier ar­bei­ten, weil es ihm Freu­de ma­chen wer­de.

»Na ja«, sag­te der Mann. »Warst du schon drü­ben?« Und er deu­te­te mit dem Dau­men über die Schul­ter.

»Nein.«

»Nicht un­eben in sei­ner Art, der Ge­ne­ral, aber däm­lich, sage ich dir, furcht­bar däm­lich. So aus der Zeit der Kreuz­zü­ge, ver­stehst du? ›Mein See, mein Wald, mein Schloss!‹ Nicht bei­zu­brin­gen, dass das eben­so mir ge­hört wie ihm. ›Ei­gen­tum ist Dieb­stahl‹, nie was ge­hört da­von. Aber or­dent­lich aus­ge­spro­chen wir bei­de manch­mal, al­les was recht ist … bis auf die Fah­ne.«

»Wel­che Fah­ne?«

Der Fi­scher knöpf­te lang­sam den Rock auf, an dem die Fisch­schup­pen glänz­ten, und hol­te aus der Brust­ta­sche sorg­sam ein ro­tes Tuch her­aus, viel­fach zu­sam­men­ge­legt und brü­chig in den Fal­ten. Er brei­te­te es auf sei­nen Kni­en aus und strich mit der schwe­ren Hand dar­über.

»Dies eben«, sag­te er. »Ich habe sie auf­ge­zo­gen über dem Haus, und je­des Mal sind sie ge­kom­men und ha­ben sie her­un­ter­ge­holt, er und sei­ne Scher­gen. Schließ­lich habe ich ge­kün­digt, Fah­ne muss sein!« Er stütz­te den Kopf wie­der in bei­de Hän­de und starr­te auf das rote Tuch.

»Aber hier, auf der In­sel?« frag­te Tho­mas. »Muss das sein?«

»Über­all«, sag­te der Mann fins­ter. »Über der In­sel und über dem Sarg …«

»Und nun?«

»Nun? Weiß nicht. In die Stadt zie­hen wahr­schein­lich und ’r­ein­schla­gen in die Ban­de, mit dem Ru­der rechts und links. Kei­ne Lust mehr zu ar­bei­ten. Sech­zig Jah­re ge­ar­bei­tet für einen Dreck, und jetzt kannst du nicht mal die Fah­ne auf­zie­hen, wenn du willst!« Er spuck­te ins Feu­er und nahm einen Schluck aus der wei­ßen Fla­sche.

Nein, Tho­mas dank­te.

»Al­les ler­nen, Freund­chen, hier, al­les ler­nen …«, mur­mel­te er fins­ter.

Tho­mas nahm aus sei­ner Brief­ta­sche ein in Sei­den­pa­pier ge­wi­ckel­tes Päck­chen, dünn wie ein Brief. Er schlug das Pa­pier aus­ein­an­der und nahm einen Tuch­fet­zen her­aus, nicht grö­ßer als eine Hand­flä­che, mit ein­ge­ris­se­nen Rän­dern. Er war schwarz, und nur an ei­ner Ecke, längs ei­ner ge­ra­den Naht, war ein wei­ßer Fleck wie an­ge­hef­tet. »Se­hen Sie«, sag­te er, »das ist nun mei­ne Fah­ne. Sie schlu­gen mich über den Kopf da­mals und war­fen mich über Bord, aber ich ließ nicht los und riss mit der Hand ein Stück her­aus. Ich hielt es noch in der Faust, als sie mich her­aus­fisch­ten, an­de­re, und ich habe es be­hal­ten. Es sieht nicht schlech­ter aus als Ihres, nicht wahr? Nur klei­ner und un­an­sehn­li­cher. Aber auf­zie­hen darf ich sie auch nicht mehr, das ha­ben wir nun ge­mein­sam.« Er lä­chel­te und ließ den Schein des Feu­ers über das Tuch spie­len.

»Also doch ver­klei­det!« sag­te der Fi­scher, beug­te sich aber vor und sah auf den Fah­nen­rest in Tho­mas’ Hand.

»Schlech­te Far­ben«, sag­te er be­küm­mert, »ha­ben vie­le dran glau­ben müs­sen … alle far­ben­blind … hin­ein mit ›Hur­ra!‹ und kopf­über auf den Grund … so dumm die Welt, so furcht­bar dumm …«

»Auch Sie wer­den kopf­über auf den Grund ge­hen, in der Stadt«, sag­te Tho­mas.

Der Mann fuhr mit der Hand waa­ge­recht durch die Luft. »Egal!« sag­te er. »Wer­de aber ei­ni­ge mit­neh­men, und dies kommt auf mei­nen Sarg!«

Er fal­te­te das Tuch wie­der zu­sam­men und barg es un­ter sei­nem Rock. »Mit Sech­zig hat man kei­ne Angst mehr, Freund­chen … ver­wah­re auch du dei­nes, hat mir ge­fal­len, auch wenn du ver­klei­det bist. Wer sich über den Schä­del hau­en lässt da­für, ist or­dent­lich. Die an­de­ren knei­fen nur den Schwanz ein wie die Kö­ter.«

Ja, er wol­le ihm al­les zei­gen, sei nicht viel zu be­se­hen hier. In der Tür blieb er noch ein­mal ste­hen und sah zu­rück. »Fah­nen­wech­sel«, sag­te er, »was für ein Spaß! Wir bei­de, was?« Dann ging er auf dem schma­len Steig vor­an, der durch die Scho­nung bis zu den Ei­chen führ­te. Eine graue Lei­ter war an einen der Stäm­me ge­lehnt, und sie stie­gen sie hin­auf. Oben, zwi­schen den rie­si­gen Äs­ten, war eine klei­ne Platt­form und ein ein­fa­cher Sitz an­ge­bracht. Man sah die gan­ze In­sel un­ter sich, den See, die Wäl­der und ein fer­nes Dorf zwi­schen Wie­sen und Acker­strei­fen.

»Kom­man­do­turm«, sag­te der Alte und lehn­te sich über das Ge­län­der. »Von hier kannst du se­hen, ob sie kom­men, Rote oder Schwar­ze oder Schwarz­weiß­ro­te. Sau­be­rer Platz für ein Ma­schi­nen­ge­wehr, aber ich hat­te keins … nun pass auf! Reu­sen und Stell­net­ze in die bei­den Buch­ten! Bei Ost­wind hier, bei West­wind dort. Vor dem Ge­wit­ter über­all. Bei Nord­wind zu Hau­se blei­ben und Net­ze trock­nen. Krebs­reu­sen dort ent­lang! Zwei bis drei Me­ter tief. Wenn du was nicht weißt, nicht den Ge­ne­ral fra­gen, son­dern durch das Fließ dort in den nächs­ten See fah­ren. Da lebt der Alte, acht­zig oder hun­dert Jah­re alt. Heißt Pe­ter, die Leu­te sa­gen Pe­trus. Habe ihn aber noch nicht auf den Wel­len wan­deln se­hen. Weiß al­les von den Fi­schen, spricht mit ih­nen, weiß, wann sie zie­hen und wann nicht, sieht in die Zu­kunft und priemt … wie heißt du üb­ri­gens?«

»Tho­mas.«

»Na also, die gan­ze Jün­ger­schaft zu­sam­men … und ich hei­ße Chri­stoph und kann euch über das Was­ser tra­gen … will üb­ri­gens gar nicht, dass du viel fängst, der Alte. Stadt­men­schen sol­len ver­hun­gern, meint er. Hast ein gu­tes Le­ber hier, wenn du was aus­ge­fres­sen hast und dich ver­klei­den musst. Kommt hier kei­ner schnüf­feln, nicht mal der Fisch­meis­ter. Angst vor dem Al­ten … Aber ist nicht im­mer so wie jetzt, Freund­chen. Kom­men dunkle Tage, wenn der Schnee­sturm dir über den Schorn­stein heult. Denkst an al­les, was du falsch ge­macht hast, ist kei­ner da, der mit dir eine Pfei­fe raucht. Bloß das Eis brüllt im See, und die Füch­se bel­len, und manch­mal heult der Wolf aus den Scho­nun­gen. Dann fängst du an zu trin­ken, Freund­chen, weil wir nichts an­de­res ha­ben als Schnaps, ver­stehst du? Wer in kei­ner gol­de­nen Wie­ge ge­le­gen hat, kann sei­ne Net­ze stel­len wie er will, sech­zig oder acht­zig Jah­re lang, geht ihm doch der Fisch mit der Gold­kro­ne nicht hin­ein. Ob du Rot hier auf­ziehst oder Schwarz­weiß­rot,1 das bleibt sich al­les gleich … und still wirst du, sage ich dir, so still wie ein Stein auf dem Grund …«

 

Er fuhr mit der Hand durch den lee­ren Raum und stieg die Lei­ter wie­der ab­wärts. »Stimmt al­les mit den Net­zen«, sag­te er an der Haus­tür, »kei­nes zu viel und kei­nes zu­we­nig. Nur mit den Mäu­sen muss du auf­pas­sen im Win­ter, dass sie dir kei­nen Scha­den ma­chen … Heu­te Abend gehe ich los, der Kahn liegt da an der ho­hen Fich­te.«

Er stand schon in der ge­öff­ne­ten Tür, und Tho­mas schi­en es, als sei er der Geist die­ser In­sel, grau, ver­wit­tert und ge­beugt, und als wür­de er selbst nach zwan­zig Jah­ren auch so da­ste­hen. Das Tor der Zu­kunft tat sich in ge­räusch­lo­sen An­geln auf, mit blit­zen­den Flü­geln, einen Herz­schlag lang. Er sah sich, wie eine Vi­si­on, auf der Schwel­le ste­hen und sich um­wen­den wie je­ner, nur mit ei­nem an­de­ren Ge­sicht, und dann hin­ein­ge­hen und vor dem Feu­er nie­der­sit­zen. Der Schein der Flam­me spielt über den Glo­bus, Län­der und Mee­re, Ber­ge und Strö­me. Er hat den Kopf in die Hän­de ge­stützt und blickt dar­über hin, ohne Wunsch und Be­geh­ren, vie­les hin­ter sich, we­nig vor sich, ein ein­sa­mer Mann, schweig­sam wie die Stei­ne auf dem Grund.

»Ich wer­de ihn fan­gen, Chri­stoph«, sag­te er, »den mit der gol­de­nen Kro­ne … ich wer­de ihn fan­gen!«

Aber der an­de­re ver­zog nur die Lip­pen über dem grau­en Bart, wink­te mit der Hand und ging hin­ein.

Eine un­sicht­ba­re Uhr schlug elf hel­le Schlä­ge, als Tho­mas vor der Schloss­trep­pe stand. Das Schloss war nicht mehr als ein großes Guts­haus, mit ei­nem ho­hen brau­nen Dach über zwei Flü­geln. Doch lag es breit und statt­lich über der See­bucht, und der Efeu, der bis an die Fens­ter des obe­ren Stock­werks rank­te, ließ es alt und ganz auf sich zu­rück­ge­zo­gen er­schei­nen. Das Wap­pen über der schwe­ren Tür war so ver­wit­tert, dass es nicht mehr als eine ge­pan­zer­te Faust er­ken­nen ließ, die et­was trug, aber es konn­te ein Li­li­ens­ten­gel wie eine Streitaxt sein. Der Park hin­ter dem Hau­se muss­te gleich in den Wald über­ge­hen, hin­ter dem Hof aber hob sich ge­ra­de der dün­ne Ne­bel über dunklen Fel­dern, die erst vom Ho­ri­zont be­grenzt schie­nen. Ein blau­es Tor tat sich zwi­schen den zie­hen­den Wol­ken auf, und ein hel­ler Schein fiel auf die re­gen­nas­se Erde, auf die leuch­ten­den Dä­cher und auf die Spit­ze der Fa­he­nen­stan­ge, die sich über der Mit­te des Hau­ses er­hob.

Dann stieg Tho­mas die Stu­fen hin­auf. Er läu­te­te an ei­nem al­ten Glo­cken­zug, und die schwe­re Tür wur­de von ei­nem Rie­sen in al­ter­tüm­li­cher Uni­form ge­öff­net. Tho­mas mein­te, sie müs­se aus der Zeit Fried­richs des Gro­ßen stam­men, mit weißem Le­der­zeug und ver­schnür­tem Rock, doch trug der Mann kei­ne Bä­ren­müt­ze, son­dern kurz ver­schnit­te­nes Haar, sah auch so aus, als hät­te man ihn eben vom Pflu­ge fort­ge­holt und er hät­te sich dort woh­ler be­fun­den als in sei­nem ge­gen­wär­ti­gen Amt.

»Der Herr Ge­ne­ral las­sen bit­ten«, sag­te er düs­ter und half Tho­mas aus dem Man­tel. Es klang, als lie­ge der Ge­ne­ral im Ster­ben.

Tho­mas nahm mit ei­nem Blick die rie­si­ge Hal­le wahr, die bis in das obe­re Stock­werk reich­te, eine schö­ne und breit auf­stei­gen­de Trep­pe von dun­kel­brau­nem, glän­zen­dem Holz, Schau­feln, Ge­wei­he, Vö­gel, Waf­fen, Ah­nen­bil­der, einen rie­si­gen Feu­er­platz, in dem ein gan­zer Baum­stumpf ver­kohl­te, und im Hin­ter­grund, zu bei­den Sei­ten ei­ner zweiflüg­li­gen Tür, zwei alte Ka­no­nen aus matt­glän­zen­dem Me­tall, die dunklen Mün­der dro­hend auf den Ein­gang ge­rich­tet.

Doch stan­den kei­ne Ka­no­nie­re ne­ben ih­nen, mit bren­nen­den Lun­ten etwa, wie Chri­stoph er­zählt hat­te, be­reit, das Feu­er so­fort auf je­den zu er­öff­nen, der es etwa an Hal­tung oder Ge­sin­nung gleich beim Ein­tritt sicht­bar feh­len lie­ße. Aber auch eine Re­gi­ments­ka­pel­le, ein Schel­len­baum und Bom­bar­don, wie Tho­mas sie eher ver­mu­tet hät­te, war nicht sicht­bar, so­dass er gu­ten Mu­tes, wenn auch et­was ver­wirrt von dem An­blick düs­te­rer Fei­er­lich­keit, dem rie­si­gen Gre­na­dier oder was er sonst sein moch­te, durch ein bü­cher­ge­füll­tes Vor­zim­mer bis an die Ei­chen­tür folg­te, an der die­ser nun deut­lich, aber doch in ge­zie­men­der Be­schei­den­heit klopf­te.

Eine et­was hei­se­re Stim­me rief »He­rein!«, der Gro­ße öff­ne­te die Tür, trat oder sprang viel­mehr mit er­staun­li­cher Ge­wandt­heit über die Schwel­le, schlug da­ne­ben die Ab­sät­ze sei­ner Schu­he un­ter den ge­schnür­ten Ga­ma­schen zu­sam­men und mel­de­te mit hel­ler Stim­me: »Der Herr Chri­stoph Nach­fol­ger, Herr Ge­ne­ral!«

Ein klei­ner, brei­ter Mann mit grau­er Li­tew­ka2 hob den Kopf von den Pa­pie­ren auf sei­nem Schreib­tisch, sag­te »Schafs­kopf!« zu dem Rie­sen und wink­te Tho­mas mit der Hand, nä­her zu tre­ten. Er wies auf einen Stuhl an der Schmal­sei­te des Ti­sches, war­te­te, bis der Rie­se das Zim­mer ver­las­sen hat­te, und blick­te dann Tho­mas an.

Die­ser mein­te, sein Ge­sicht schon als Kind ge­se­hen zu ha­ben, in der viel­bän­di­gen »Ge­schich­te der Erobe­rung des in­di­schen Rei­ches«, die in den Bü­cher­schrän­ken sei­nes Va­ters ge­stan­den hat­te, ganz un­ten, sechs dun­kel­brau­ne, schwe­re Bän­de, und in de­nen er die Bil­der vor al­lem lieb­te, in mat­ten Was­ser­far­ben, un­zu­rei­chend für die Glut je­ner Land­schaf­ten, aber er­füllt von selt­sa­men Men­schen, Tie­ren und Pflan­zen. Dort, in­mit­ten edel­stein­be­deck­ter Ma­ha­rad­schas und dä­mo­ni­scher Tem­pel, hat­te es auch Por­träts der Ero­be­rer ge­ge­ben, Sol­da­ten, Ka­pi­tä­ne und Kö­ni­ge des Han­dels, mit brau­ner Haut und weißem bu­schi­gem Haar, mit stren­gen, mit­un­ter grau­sa­men Lip­pen und kind­lich ge­blie­be­nen hell­blau­en Au­gen; Män­ner, von de­nen man nie wuss­te, ob sie Blut aus den Hirn­scha­len er­schla­ge­ner Lan­des­fürs­ten tran­ken oder ob sie, wie­der heim­ge­kehrt auf ihre grü­ne, neb­li­ge In­sel, vor den rie­si­gen Ka­mi­nen ih­rer Sch­lös­ser den schwe­ren Wein tran­ken, der in al­ten Ei­chen­fäs­sern die Rei­se nach In­di­en und zu­rück im­mer wie­der ge­macht hat­te, um jene Glut und Mil­de zu ge­win­nen, von der ihre Ge­sich­ter so braun­rot und fröh­lich ge­wor­den wa­ren. Män­ner, die er sich von der Meu­te ih­rer Hun­de und zahl­rei­chen En­kel­kin­dern um­ge­ben vor­ge­stellt hat­te und für die alle es nur einen ge­heim­nis­vol­len und fast tro­pi­schen Na­men in sei­ner Ge­dan­ken­welt ge­ge­ben hat­te: den Na­men der Na­bobs.3 Er hat­te nicht ge­wusst, wo­her die­ser Name stamm­te, aber et­was Dro­hen­des und gleich­zei­tig Hei­te­res war aus dem Klang der Sil­ben auf­ge­stie­gen, Fremd­heit und Zau­ber, Macht und Ein­sam­keit, und ein­mal hat­te er sei­nen Leh­rer in das hilflo­ses­te Er­stau­nen ver­setzt, als er auf die Fra­ge, was er ein­mal wer­den wol­le, laut und ohne Über­le­gung geant­wor­tet hat­te: ein Na­bob!

Nun muss­te er fast ein Lä­cheln ver­ber­gen, als er be­dach­te, wie we­nig er selbst je­nes kind­li­che Ver­spre­chen ein­ge­löst hat­te, we­der im Äu­ße­ren des Glan­zes noch im In­ne­ren selbst­ge­wis­ser und fast all­mäch­ti­ger Hal­tung, von ei­ner Meu­te von Grau­hun­den so­weit ent­fernt wie von ei­ner Schar hell­blon­der En­kel­kin­der, und wie auch je­ner, des­sen Ge­sicht ihm aus je­nen Bü­chern ver­traut war, in sei­nem Le­ben und Sein, in Erin­ne­run­gen, Macht und Reich­tum wohl weit hin­ter den Ur­bil­dern je­nes selt­sa­men Na­mens zu­rück­ge­blie­ben sein moch­te, au­ßer dass er viel­leicht in den Kel­lern die­ses Hau­ses einen an­sehn­li­chen, aber im­mer mehr ab­neh­men­den Vor­rat je­nes Wei­nes be­sä­ße, der, vor rie­si­gen Ka­mi­nen an lan­gen Aben­den ge­trun­ken, jene Haut­far­be ver­lei­hen moch­te, die wie von in­di­scher Son­ne ge­bräunt und ge­brannt er­schi­en.

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»