Читать книгу: «Love – Konsequent scheitern (Band 2)», страница 3

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„Ein bisschen wirkst du jetzt auf mich wie ein erschöpfter Mann mit Eheschaden“, analysierte Giulia scharf und behauptete felsenfest, dass sich alle Sehnsüchte und emotionalen Bedürfnisse im tristen Alltag ändern würden, und man keinen Anspruch auf Schadenersatz hätte, sollten sie unerfüllt bleiben.

„Und doch trachten wir alle danach, mit unseren Sehnsüchten genau diesem Alltag zu entkommen“, vertiefte Clarissa ihren Gedanken.

„Kommt, lasst uns den Rest des Nachmittags allein verbringen“, schlug Manuel vor und fügte hinzu, dass er das alles erstmal verdauen müsse.

„Gute Idee. Mir fehlt sowieso komplett die Konzentration“, entgegnete Mara und meinte schelmisch, dass sie es sich hätte nicht vorstellen können, auf dem Kurztrip in ein Selbstfindungsseminar mit den Freunden zu geraten. Dann kündigte sie an, einen Spaziergang in der Umgebung zu machen.

Da Giulia mit dem Kochen dran war, fragte sie, wer ihr beim Schnippeln des Gemüses und Reinigen der Muscheln helfen würde. Und verabredete sich mit Manuel und Clarissa um 18 Uhr in der Küche. Mara war bereits verschwunden. Clarissa holte zwei kleine Äpfel aus der Küche. „Für Lino“, rief sie Giulia zu und schlenderte pfeifend zum Nachbargelände. Manuel schnappte sich eine Fachzeitschrift für Brückenbau und setzte sich in den Korbsessel in eine Ecke auf der Terrasse, wo er ungestört war. Giulia ging ins Schlafzimmer, um ihren Koffer zu packen. Der Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie fast drei Stunden für sich hatte. Sie warf den Koffer auf eine Betthälfte und fing an, Kleidungsstücke, Schuhe und Geschenke hineinzupacken. Den zur Hälfte gepackten Koffer ließ sie offen auf dem Bett liegen und beschloss, sich auf die freie Betthälfte zu legen, um sich in aller Ruhe die morgige Abreise und die Vorbereitungen für das heutige Abendessen durch den Kopf gehen zu lassen. Auf dem Speiseplan stand: Miesmuscheln auf französische Art mit einer Soße aus Muscadet, Schalotten, Karotten, Stangensellerie, Knoblauch, Kräutern, Crème fraîche.

Darüber musste sie wohl eingeschlafen sein. Denn als sie wieder auf die Uhr sah, war es kurz vor sechs. Mit einem Satz stand sie neben dem Bett, sauste ins Bad und bespritzte sich das Gesicht mit frischem Wasser. Danach flitzte sie in die Küche, wo Manuel gerade den Sack mit den frischen Miesmuscheln neben die Spüle stellte. Er wirkte sehr entspannt, lachte und sagte, dass ihm bereits der Magen knurren würde.

„Die Schalentiere müssen aber erst gewaschen und geputzt werden“, meinte Clarissa, die zur Tür hereinkam und berichtete, dass Lino sofort den Hügel zu ihr heruntergelaufen sei, als er sie gesichtet hätte. Die Äpfel hätte er im Nu verputzt.

Während sie sich eine Schürze umband, auf der schwarze und grüne Oliven aufgedruckt waren, und sich ein sauberes Geschirrtuch über die Schulter warf, hob Manuel den schweren Sack vom Boden und kippte den Inhalt, der einen starken Geruch nach Meer und Algen verströmte, in das Waschbecken.

Mara kam am Küchenfenster vorbei und rief herein, dass sie noch schnell Linda anrufen werde, da sie wissen wolle, wie die gestrige Vernissage verlaufen sei.

Beim Säubern und Putzen der Muscheln kam Clarissa ins Nachdenken. Sie begann: „Inzwischen gelingt es mir besser, jede Begegnung und jedes Gespräch als ein Geschenk zu betrachten. Erst im Laufe der Zeit wurde mir bewusst, wie wichtig gute Gespräche sind.“ Sie klopfte mehrmals eine Muschel auf eine andere, warf die weg, die sie sich nicht mehr schließen ließen und erzählte aus ihrem Leben munter weiter: „Nach meiner Scheidung ging mir das Leben nicht leicht von der Hand. Kind, Studium, Arbeit – das war zu viel. Ähm, ich glaube, dass in der Liebe viele zueinanderpassen. An wen man schließlich und für wie lange sein Herz verliert, bleibt doch oft dem Zufall überlassen.“

„Oder den Hormonen“, ergänzte Manuel pointiert mit spitzbübischem Lächeln.

„Wohl wahr“, bestätigte Giulia und bat Clarissa darum fortzufahren.

„Den Sprüchen ‚Wir sind wie füreinander geschaffen‘ oder ‚Jeder Topf findet seinen Deckel’ kann ich ehrlich nichts abgewinnen. Es sind nichtssagende Kalendersprüche, mit denen man seine Mitmenschen traktieren und überholte Kräfte, traumhafte Einbildungen und Illusionen der Beharrung mobilisieren kann. Ich für meinen Teil bevorzuge Zufälle. Erst vor Kurzem las ich irgendwo, dass Menschen, die ihre Erfolge mehr dem Zufall als den eigenen Kompetenzen und dem Leistungsvermögen überlassen, eine größere Dankbarkeit dem Leben gegenüber entwickeln, und, ähm, und auch mehr für soziale Zwecke spenden würden.“

„Binsenweisheiten sollten tatsächlich kritisch beäugt werden. Ihnen zu folgen, heißt doch, sich der Dynamik der Ereignisse zu verschließen, alles auf sich zukommen lassen und keine Initiative entwickeln. Anstatt darauf zu vertrauen, folgen wir blind der zersetzenden Wirkung von Zeit und Tradition. Ziemlich reaktionär“, bekräftigte Giulia knapp Clarissas Meinung und konzentrierte sich dann wieder stark dem Berg Muscheln vor ihr.

„Schon wieder etwas Nachdenkenswertes“, scherzte Manuel, drehte sich um und fing an, den Tisch zu decken. Morgen, in aller Herrgottsfrüh, würden sie sich zum Flughafen aufmachen, um, jeder für sich, in eine andere Richtung nach Hause zu fliegen, dachte er wehmütig, während er am Lavendelstrauß auf dem Fensterbrett herumzupfte und sich an den Tisch setzte. Seit zwei Jahren war Manuel in einem bekannten Architekturbüro in Kopenhagen beschäftigt. Dänische Kollegen wurden auf seine Arbeiten aufmerksam. Gerade arbeitete er an mehreren Brückenprojekten, die zu den architektonischen Meisterwerken Kopenhagens zählen. Die Brücken in Kopenhagen sind nicht nur dazu da, um von A nach B zu kommen, sondern es sind Orte der Begegnung, der Einkehr und Entspannung. Orte des vielfältigen Lebens, der sozialen Kommunikation. Vorhin auf der Terrasse zerbrach er sich den Kopf darüber, wie sich der Aufbau einer Circle Bridge noch spektakulärer gestalten lässt, damit sich der Blick in den kreisförmigen Plattformen automatisch auf den Himmel richtet.

Während Clarissa und Giulia fleißig Karotten und Tomaten schnippelten, sich über dieses und jenes unterhielten, schneite Mara zur Tür herein. Der Spaziergang hätte ihr sehr gutgetan. Ihr Kopf wäre jetzt viel klarer. Sie setzte sich neben Manuel, der seine Mails checkte. Er scrollte Dutzende Nachrichten von seinen Kollegen durch, bevor er die Mail von seinem Sohn öffnete. Nach einer Weile sagte er, dass ihn Tobias morgen am Flughafen abholen würde. Er sei ganz spontan nach Kopenhagen gereist.

„Was für ein schöner Zufall“, griff Giulia das Thema von vorhin wieder auf und führte aus: „Als mir ein offener Umgang mit Zufällen gelang, lernte ich mein Temperament und meine Einbildungskraft zu beherrschen, ohne meine Leidenschaft und Zuwendung für den Augenblick zu verlieren.“

„Das ist mir zu kompliziert. Was meinst du genau?“, fragte Clarissa ungläubig.

„Ähm, hört sich vielleicht gestelzt an. Also ein Beispiel: Es ist nicht lange her, als sich ein aparter Amerikaner in den Fünfzigern in einem Konzert neben mich setzte. Schon vor Konzertbeginn fing er an, mit mir zu plaudern, was für Amerikaner so ziemlich das Normalste auf der Welt ist. Er erzählte von seiner Scheidung, seinen Reisen als Privatier, seinem schwerkranken Vater. Und es dauerte nicht lange, bis er mir auf seinem Smartphone seine digitale Fotogalerie präsentierte: Das luxuriöse Wohnhaus in Florida, den gepflegten Garten, das riesige Wohnzimmer mit Designer-Möbeln, die süßen Enkel. Nach dem Konzert, als ich mich verabschieden wollte, sagte er, dass sein Vater in dem Moment gestorben sei, als die Musiker die Fünfte von Tschaikowski gespielt hätten. Ich war wie vor den Kopf gestoßen, blieb jedoch höflich, bekundete mein Beileid, obwohl ich mit dem familiären Trauerfall ja nun wirklich nichts zu tun hatte. Schließlich haben wir uns in der Menge aus den Augen verloren. Trotzdem, dass ich die Situation ziemlich merkwürdig fand, feierte ich an diesem Abend einen persönlichen Triumpf – den Triumpf über meine Interpretationen und mein manchmal zu großes Mitleid für andere.“ Giulia wirkte abwesend.

„Woran denkst du jetzt?“, fragte Clarissa, die ihre Freundin genau beobachtete.

„Hm. An die Unabhängigkeit – meine innere Unabhängigkeit. Und dass ich mittlerweile in der Lage bin, mein Leben so zu leben, wie es für mich gut ist, ich es nicht nach den Wünschen und Erwartungen von anderen ausrichte. War ein langer Prozess, da ein unabhängiges Leben für eine Frau keine Selbstverständlichkeit ist. Daran hat sich bis heute wenig geändert.“ Nachdenklich schnitt Giulia die Karotten in kleine Streifen.

„Das hat mir schon immer an dir imponiert“, erwiderte Clarissa.

„Was denn?“, fragte Giulia.

„Dass du deinen Weg gehst, ziemlich furchtlos sogar.“

„So, so!“ Giulia blickte ein wenig skeptisch.

Clarissa kam noch einmal auf den Amerikaner zu sprechen. „Wer weiß, vielleicht war der Typ ein Hochstapler, der das alles nur vorgab, um dir zu imponieren“, analysierte sie trocken, während sie die Schalotten in grobe Stücke zerhackte und Knoblauchzehen auspresste.

„Hm, an deinem Verdacht könnte was dran sein.“ Giulia stellte eine Pfanne auf den Herd, schwitzte die Schalotten mit dem Knoblauch in Olivenöl an, gab die schräg geschnittenen Karotten samt Tomaten, Chilischoten und eine Handvoll Kräuter hinein. Den Sud ließ sie vor sich hin köcheln und erhitzte auf einer anderen Herdplatte in einem großen Topf Wasser, in dem dann die Muscheln mit dem Selleriegemüse so lange gegart wurden, bis alle Muscheln geöffnet waren. Anschließend goss Giulia den größten Teil des Wassers ab und gab eine Dreiviertelliter-Flasche Muscadet hinein. Vorsichtig rührte sie das Gemenge um und ließ es nochmals vor sich hin köcheln. Zum Schluss verteilte sie die gehackten Kräuter über dem Gericht. Fertig. Clarissa legte das aufgebackene Baguette auf den Tisch, das Manuel und Mara gestern zusammen mit den Muscheln, dem Gemüse und Wein in den Markthallen des Mercat de Santa Catalina eingekauft hatten.

Im Gegensatz zum Naschmarkt in Wien oder zum Viktualienmarkt in München, wo ganze Busse vorfahren und Hundertschaften von fotografierenden Touristen aussteigen, ist der beschauliche Markt in Santa Catalina noch nicht von Touristen überlaufen. Und man zumeist auf Einheimische aus dem Viertel trifft.

Clarissa setzte sich zu Manuel und Mara an den Tisch, während Giulia den riesigen Topf mit den Muscheln darauf abstellte. Sie öffnete den Deckel. Die halb geöffneten Muscheln verströmten einen intensiven Geruch nach Tang, säuerlichem Wein, Knoblauch und Kräutern.

„Hunger, Hunger!“, rief Mara mit lauter Stimme und beobachtete akribisch die Vorgänge am Tisch.

„Wie war das mit den zufälligen Begegnungen?“, fragte Manuel plötzlich, der mit halbem Ohr zugehört hatte und auch nicht von sich behaupten konnte, dass er das Multitasking aus dem Effeff beherrschte.

Clarissa wiederholte, dass es besser sei, sich auf die Begegnungen einzulassen, die sich zufällig ereignen würden – Tag für Tag, Stunde um Stunde. Und fügte hinzu: „Was ich eigentlich sagen wollte: Ich bevorzuge es, auf überraschende Begegnungen erwartungsfrei und ohne Schicksalsgedanken zu reagieren, beruflich wie privat.“

„Gesetzt den Fall, ein interessanter Mann – einer von meinem Schlag –“, scherzte Manuel, „lächelt dich unentwegt in einem Café an. Es ergibt sich ein Smalltalk. Du lässt das dann einfach geschehen, ohne die Situation mit Gedanken und Interpretationen an eine neue Liebe zu überladen?“

„Ja, so in etwa“, antwortete Clarissa und nickte zustimmend mit dem Kopf.

„Gar nicht so einfach. Ich meine, angemessen auf zufällige Begegnungen zu reagieren, ohne sie mit falschen Annahmen zu überfrachten. Einfach abzuwarten – Mann, oh Mann, das ist verdammt schwer“, bekundete Giulia.

„Schätze, das geht uns allen so. Wie oft schon überlud ich vielversprechende Zufallsbegegnungen mit eigenen Denkmustern. Schnell bauten sich Traumgebilde in mir auf. Und die Hoffnung, es könnte sich eine ewige Liebe entwickeln.“ Mara redete frei von der Leber weg. Seitdem sie ihr Geheimnis gelüftet hatte, ging es ihr richtig gut. Das war ihr total anzumerken. Ergänzend fügte sie hinzu, dass die Vernissage super gelaufen sei. Immerhin hätte Linda einen sechsstelligen Betrag erwirtschaften können.

„Klasse, gratuliere“, antwortete Manuel neidlos und räumte ein, dass vielversprechende Begegnungen für gewöhnlich an ihm vorbeiziehen würden. Mehr denn je, sei er mit dem Handy oder Laptop beschäftigt – mal feige, mal antriebslos.

„Ommm.“ Clarissas Stimme klang angenehm tief und voll. Sie gab zu, dass sie so manch eine Zufallsbekanntschaft im Freundeskreis schnell als Schicksalsbegegnung angekündigt hätte, im festen Glauben, es würde sich etwas Nachhaltiges entwickeln. „Was sich aber entwickelte, waren Frustrationen und Enttäuschungen. Glücklicher wurde ich nicht. Schon gar nicht weiser.“ Sie schöpfte die erste Portion Miesmuscheln aus dem Topf auf den Teller von Mara. Dann auf alle anderen Teller. Als jeder seine Portion bekommen hatte, stellte sie den Topf auf die warme Herdplatte zurück.

Kaum saß sie wieder am Tisch, wurde nach Herzenslust geschlemmt und gezecht. Sie lachten und erzählten viel: über sich, ihre Kinder, Lieblingsprojekte, Interessen, die Arbeit – über die alten Geschichten; was ihnen eben so einfiel und worüber sie sich amüsieren konnten.

Manuel kam auf Palma zu sprechen und dass sich in der Hochsaison die Anzahl der Menschen in der mallorquinischen Hauptstadt verdoppelt, die Busse überfüllt sind, die Müllabfuhr an ihre Grenzen kommt und der Verkehr regelmäßig auf den Zufahrtsstraßen ringsherum mit Staus bis zum Horizont kollabiert. „Es sind die distinguierten Lifestyle-Touristen, die Instagram-Gemeinde und Laptop-Nomaden mit ihrem Anspruch auf authentisches Leben, die die größte Sorge der Einheimischen sind, weil sie sukzessive in ihre Lebensbereiche vordringen, sich mit Fotoshootings überall inszenieren und für ein Haus oder Apartment in der Stadt über Tausend Euro pro Woche hinblättern.“ Manuel verwies auf einen Zeitungsartikel, den er am Vormittag gelesen hatte, und wühlte in dem Stapel Zeitungen auf der Fensterbank, um nach diesem bestimmten Exemplar zu suchen.

„Hier! Hier ist sie.“ Hastig blätterte er eine Seite nach der anderen um und wurde fündig.

„Palma de Mallorca, Diario de Mallorca berichtete gestern darüber.“ Manuel warf den anderen einen kurzen Blick über die Zeitung zu, als wollte er sichergehen, dass sie ihm auch zuhörten. Er fasste den Artikel mit seinen eigenen Worten zusammen und übersetzte gleich ins Deutsche: „Palma denkt momentan über Mietpreisbremsen und über härtere Maßnahmen gegen Airbnb nach, die im laufenden Jahr 2015 fast 80.000 Unterkünfte in der Stadt angeboten hatten. Von Jahr zu Jahr kommen mehr Touristen. Und von Jahr zu Jahr stehen immer mehr Hotelzimmer leer.“

Nach dem Abitur verbrachte Manuel zwei Jahre in Barcelona, lernte dort auf eigenen Füßen zu stehen, Verantwortung zu übernehmen, und ganz nebenbei lernte er Katalanisch, das er fast akzentfrei sprechen konnte.

„Wie gut, dass du uns über die hiesigen Verhältnisse aus dem Lokalblatt informieren kannst. Ich kenne die Insel schon lange. Und habe miterlebt, wie sie sich mit der Zeit veränderte. Deià zum Beispiel war vor Jahren ein verträumtes Künstlerdorf. Robert Graves schrieb dort Gedichte und Mike Oldfield spielte nachts Gitarre in einer Bar, wo sich die Bohemiens trafen. Niemand bekam davon etwas mit, auch nicht davon, dass Anni-Frid in Deià ein Haus besaß. Bis sich das alles änderte, weil vor etwa fünf Jahren eine neue Generation von Reichen und Schönen das Örtchen für sich entdeckte und seither alles öffentlich abläuft: Promi-Hochzeiten, Promi-Partys, Promi-Events. Bis in die frühen Morgenstunden werden die Anwohner dann wachgehalten und dazu gezwungen, sich laute Musik und lärmende Menschen anzuhören. Und jetzt entsteht am Ortseingang das Neubaugebiet,Petit Deià‘ mit Luxuswohnungen. Da kommt der Bürgermeister mit seinem Vorhaben, Wohnraum für die Einheimischen zu schaffen, nicht voran. Stattdessen muss er sich mit anderen Problemen herumschlagen: Wasserknappheit, Müllentsorgung.“ Clarissa liebte die Insel über alles. Selbst der Massentourismus konnte sie noch nicht davon abbringen, einmal im Jahr hierher auf die entlegene Finca in den Bergen zu reisen. Sie brauchte diese Auszeit, um aufzutanken und sich vom Lärm und Benzingestank der Großstadt zu erholen.

„Die Deutschen mit ihrer anerzogenen Liebe zu Pfandflaschen und Mülltrennung kommen bei den mallorquinischen Ökoaktivisten sicherlich gut an“, scherzte Giulia und fuhr im Geiste fort: Eigentlich würde es schon helfen, wenn die Menschen ein wenig darüber nachdenken würden, dass nicht alle Ressourcen auf der Welt unbegrenzt zur Verfügung stehen. Reisen ist ja schön und gut. Aber muss das mehrmals im Jahr sein – nur weil es billig ist? Ihre letzte Fernreise lag Jahre zurück, nicht weil sie nicht konnte oder wollte, sondern weil sich die Themen in ihrem Leben verändert hatten, sie stattdessen in ihrer Freizeit lieber Trainings in Jugendstrafanstalten durchführte, Texte schrieb oder Geschichten recherchierte.

„Wenn wir schon bei den gesellschaftlichen Veränderungen sind. Warum werden Singles nach wie vor wenig beachtet? Das Thema beschäftigt mich.“ Manuel schaute die Damen an, eine nach der anderen, und sagte, dass er nicht verstehen würde, wieso manche Leute das Single-Dasein verpönen und es als Schwäche interpretieren würden. Singles seien inzwischen eine gesellschaftlich relevante Größe, für die sich nicht wenige ganz bewusst entschieden hätten. Abgesehen davon, dass die Mehrheit der Menschen als Single geboren und sterben wird, auch wenn Hunderttausende auf der ganzen Welt am gleichen Tag geboren und sterben werden. „Warum soll ich mir über meinen momentanen Beziehungsstatus Gedanken machen? Es ist, wie es ist!“

Manuel bemühte sich, die widerspenstige Muschel auf seinem Teller zu öffnen. Er zwängte sein Messer vorsichtig in den kleinen Spalt, um den Inhalt nicht zu beschädigen. Doch die Muschel kam ihm keinen Millimeter entgegen. Er verdrehte die Augen und schimpfte laut: „Du störrisches Ding. Du bist ja so was von unfähig.“ Manuel gab nicht auf, bis es ihm schließlich gelang, das kleine Biest zu öffnen. Dabei stieß er einen freudigen Jauchzer aus. „Bei mir gibt es kein Einigeln. Ich wohne in offenen Räumen“, scherzte er vergnügt, während er das Muschelfleisch herauspickte und gierig verschlang.

„So viel dazu“, beschrieb Mara ihren Unmut, der sie befallen hatte, nachdem sie über Manuels Äußerungen nachgedacht hatte: „Du hast vollkommen recht. Singles sind nicht gesellschaftlich breit akzeptiert. Weibliche Singles haben es häufig mit Diskriminierung zu tun, weil sie ja keinen Mann abbekommen haben. Ich musste mir das jahrelang anhören. Indirekt. Und dass das Leben als Single anstrengend ist, sie einsam sterben, auf jeden Fall aber früher als ihre verheirateten Artgenossen. Singles müssen demzufolge also unglücklich, egoistisch, unreif, unangepasst, seltsam und wahnsinnig unsozial sein. Und dann die ständigen Fragen: Warum bist du allein? Wieso bist du nicht verheiratet? In meinen Single-Jahren hatte ich quasi eine Begründungspflicht anderen gegenüber, warum ich solo lebe. Nicht selten wurde vermutet, dass den Singles etwas im Leben abgehen würde, ähm, ganz besonders den Dauer-Singles, die noch kritischer beäugt werden. Das Leben kann für sie nur leer und einsam sein. Um es auf den Punkt zu bringen: Singles sind eine besonders bemitleidenswerte Spezies des 21. Jahrhunderts. Und das Single-Alleinsein ist nicht nur teuer für die soziale Gesellschaft, sondern grundsätzlich unerwünscht.“ Mara sprach sich in Rage, was ungewöhnlich für sie war, gerade jetzt, wo sie sich so glücklich und wohl fühlte. Ihre Gesichtszüge waren von der heftigen Aufregung ganz verzerrt. Und in ihrem Eifer strich sie sich ständig ihr mittellanges Haar von den Schläfen hinter die Ohren.

Manuel kannte derartige Anfeindungen, was er ihr zwischendurch kopfnickend bestätigte, ließ Mara ausreden, ging zum Kühlschrank und wickelte ein paar Eiswürfel in ein Geschirrtuch ein. „Vielleicht solltest du heute Abend ein paar Meditationsübungen machen“, sagte er mitfühlend und hielt das Geschirrtuch an Maras Wange.

„Scherzkeks.“ Mara bedankte sich für die nette Geste, drückte ihr Gesicht fester auf das Geschirrtuch, sagte, dass das ein Reizthema für sie sei. Und, dass sie noch lernen müsse, die damit verbundene aufkochende Wut zu kontrollieren.

„Derartige stereotype Zuschreibungen sind schon längst veraltet und unangemessen“, beruhigte sie Manuel und verwies auf die Ergebnisse einer sozio-ökonomischen Studie zum Partnerschaftswandel und Geburtenrückgang von Jan Eckhard, die er im Internet entdeckt hatte und im Wesentlichen im Kopf hatte. „Der Studie nach ist die Zahl der Single-Haushalte in Deutschland binnen 20 Jahren um fast 50 Prozent angestiegen. Wovon besonders stark Männer bis 49 Jahre betroffen sind. Heute würde man die Single-Anzahl in Deutschland auf etwa 41 Prozent und in den USA auf 45 Prozent schätzen. Und das, obwohl Vorstellungen von einer festen Partnerschaft und Familie in der westlichen Welt unter jungen Menschen von 25 bis 35 Jahren ungebrochen verbreitet sind, genauso wie in unserer Generation der Baby Boomer.“ Junge Menschen würden sich heute aber weniger als Teil von Familien, Berufsständen und Klassen definieren, sondern vielmehr als Einzelkämpfende, die von Bindungs- und Bedeutungslosigkeit bedroht seien. „So gesehen“, folgerte er daraus, „hätten sie mit sich selbst genug zu tun, was ich an meinen beiden Söhnen beobachten kann.“ Dem fügte er hinzu, dass die ansteigenden Single-Zahlen und die Partnerlosigkeit darauf schließen lassen, dass der Haltbarkeitszeitraum von Beziehungen per se sinken würde – trotz der Sehnsucht nach romantischer Liebe und Partnerschaft. Außerdem würde sich die romantische Realität in der westlichen Welt dadurch auszeichnen, dass es die Liebessuchenden zwar ständig mit pochenden Herzen zu tun hätten, aber weniger mit potenziellen Liebespartnern, die sich in ihren Herzen über einen längeren Zeitraum aufhalten würden.

Seine Zuhörerinnen beeindruckte er durch seine profunden Ausführungen und eloquente Ausdrucksweise. Man hätte leicht annehmen können, er wäre Sozialwissenschaftler, nicht Architekt. Manuel genoss diese Aufmerksamkeit und setzte sein charmantestes Lächeln auf, als er kundtat, dass er sich mit dieser Thematik lange Zeit kritisch auseinandergesetzt hätte, schon deshalb, weil ihn die vorurteilsbeladenen und abwertenden Diskussionen über Singles selbst gewaltig nerven würden.

„Singles sind keine vorübergehende Erscheinung mehr“, erwiderte Mara und dass es angesichts dessen an der Zeit wäre, dass westliche Gesellschaften Zukunftsperspektiven in dieser neuen Lebensform sehen würden und nicht nur Defizitäres.

Nachdem die Muscheln verspeist waren, stellte Clarissa eine Schüssel mit Panna cotta auf den Tisch. Der Nachtisch wurde von ihr in aller Schnelle zubereitet und noch schneller verputzt.

„Kaffee?“, fragte Giulia danach und begann, das Geschirr langsam abzuräumen. Auch wenn ihre Frage rein rhetorischer Art war, hieß das nicht, dass sie keine Antwort erwartete. Clarissa nickte.

„Jaaaa“, antwortete Manuel während er die Muschelschalen in Müllsäcke hineinkippte und spontan entschied, sie sofort zu entsorgen, zumal die Müllcontainer nicht weit von der Finca entfernt waren.

„Für mich bitte auch einen Kaffee.“ Mara stand auf, entsorgte das restliche Baguette, sagte: „Ich übernehme das Beladen der Spülmaschine.“ Sie strich die Dessertreste aus der Schüssel, schob einen Finger zwischen ihre Lippen und leckte ihn ab: „Teuflisch verführerisch“, lachte sie und machte sich über das Geschirr her: „Wie ihr wisst, war ich zehn Jahre lang Single. Und da ich mehr über Singles wissen wollte, bin ich auf Bella DePaulo gestoßen. Kennt die jemand?“, fragte Mara, ließ kurz Wasser über die schmutzigen Teller laufen, um sie dann in die Spülmaschine zu räumen.

Clarissa und Giulia schüttelten beide mit dem Kopf.

„DePaulo ist Sozialwissenschaftlerin und Single. Seit Jahren forscht sie auf diesem Gebiet. Ihr Fazit: Singles sind genauso zufrieden wie Paare. Je älter Singles sind, desto zufriedener sind sie – mit sich und ihrem Leben, besonders Frauen. Singles kapseln sich im Gegensatz zu verheirateten Paaren in der Regel sozial nicht ab. Sie verfügen über ein großes, oft internationales Freundes- und Familiennetzwerk und stellen ein realistisches Korrektiv zum idealisierten Ehemodell dar, das ja, wie wir erfahren haben, mit Erwartungen und romantischen Träumen überfrachtet ist.“ Mara stellte die Spülmaschine an und begab sich zu den anderen an den Tisch: „DePaulo benennt in ihrem Buch,Singled Out‘ ein ganzes Bündel von negativen Stereotypen, die eine Paargemeinschaft oder Ehe als das richtige und erstrebenswerteste Beziehungsideal aufrechterhalten würden.“

„Jetzt wird es echt spannend, Mara.“ Giulia klang interessiert, hob ihren Kopf und erwiderte: „Demzufolge müssen unzufriedene Paare ihren Frust ausgleichen und Singles abwerten, ignorieren oder bemitleiden, um in der ehelichen Gemeinschaft zu überleben.“ Giulia schaute Mara an, die erst überlegte, bevor sie auf den treffsicheren Kommentar eingehen konnte.

„Das scheint das versteckte Spiel zu sein, Giulia. DePaulos Forschungen ergaben auch, dass sich Wut und Frust tatsächlich auf Singles niederschlagen können, schon deshalb, weil sie sich der allgemeingültigen Norm entziehen und nicht nachdrücklich nach einem Partner suchen.“

„Wohl aus gutem Grund, da zufriedene Singles nicht auf Teufel komm raus nach einem Partner oder einer Partnerin suchen“, betonte Giulia und trank ihren mittlerweile kalt gewordenen Espresso. „Muss bei dem Thema an ein paar ElitePartner-Kandidaten denken, die sich mir gegenüber sehr abwertend und herabsetzend äußerten und sich recht eigenartig benahmen, wenn ich auf meine beruflichen Errungenschaften und Unabhängigkeit zu sprechen kam. Überhaupt fechten erfolgreiche Frauen mit Männern unangenehme Machtkämpfe aus. Beruflich wie privat – bei denen Frauen meist den Kürzeren ziehen und ins Hintertreffen geraten. Single-Frauen mit guten Universitätsabschlüssen sind leitenden Managern oft ein Dorn im Auge: Sie sind engagiert und kompetent, nicht zwischen Familie und Beruf hin- und hergerissen. Das kenne ich nur zu gut. Bei einer Firmenübernahme hat mich beispielsweise der neue Geschäftsführer von einem Tag auf den anderen an die Luft gesetzt. Dies war einfach für ihn, da er sich von einer Selbstständigen leicht trennen konnte. Und das Großprojekt, das ich sehr erfolgreich leitete, beim Firmenverkauf abgeschlossen war. Bei der Abwicklung meines Vertragsverhältnisses hatte er sich sehr schäbig verhalten, ließ Termine platzen und drohte mit martialischen Maßnahmen. Wochenlang hatte ich Albträume, sah diesen Menschen immer wieder in seiner Nazi-Kluft vor mir. Es war ein zermürbender Machtkampf, bei dem es um sein Ego, um seinen Erfolg ging. Mir blieb nichts anderes übrig, als einen Anwalt einzuschalten, um einigermaßen heil aus der Sache herauszukommen.“ Giulia ging nicht näher auf Details ein, runzelte ihre Stirn und sagte abschließend: „Hätte nie gedacht, dass Buck mit seiner Prophezeiung recht hatte.“

„Buck?“ Mara sah sie fragend an.

„Ein Freund, der in einem Hochsicherheitsgefängnis einsitzt. Ich habe ihn während eines Anti-Gewalt-Seminars kennengelernt und häufig besucht. Buck sagte einmal, dass sich Männer grundsätzlich mit unabhängigen Frauen schwertun würden. Weil sie dann mit ihrer eigenen Unfähigkeit konfrontiert werden – der Unfähigkeit, sich selbst Herausforderungen zu stellen. Und weil ihre Kontrollbemühungen bei diesen Frauen kläglich scheitern würden, müssen sie diese Frauen verachten, um den eigenen Selbstwert nicht zu torpedieren.“

„Hm, da ist was dran. Und Hut ab, vor einem Mann mit solchen Einsichten. Einem, der dann noch im Knast sitzt. Kaum zu glauben“, urteilte Mara anerkennend und bedauerte, dass Manuel das nicht hören konnte, der zu den Müllcontainern unterwegs war. Mara fuhr fort: „Mittlerweile weiß man auch, dass die Annahme, Single-Frauen seien ständig auf der Suche nach einem Partner, ebenso falsch ist wie die Annahme, Frauen würden sich nicht zu helfen wissen. Langjährige Single-Frauen wissen sich durchaus in Sachen eigener Bedürfniswelt zu helfen und suchen nicht aus einem Mangel heraus nach einem Partner, sondern, weil sie sich Nähe, Vertrautheit, Sexualität wünschen.“ Mara wischte die Anrichte in der Küche ab und schaute nach, wie lange der Spülgang noch dauerte.

„Findest du all das bei Linda?“, wollte Giulia wissen, stand auf und gesellte sich zu Mara, die die Tür des Geschirrspülers schloss und das Gerät einschaltete.

„Und ob.“ Freudestrahlend richtete sie sich auf und warf einen kurzen Blick zur Küchentür.

Wobei diese Bedürfnisse, also Gefühlsmuster und Empfindungen, doch von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. Dennis und ich passen auf diesem Gebiet überhaupt nicht zueinander“, mischte sich Clarissa ein. Obwohl sie wieder mit ihrem Handy beschäftigt war, hörte sie aufmerksam zu, verstand den Inhalt und Sinn des Gesprächs.

Manuel platzte mit einem ‚Bin wieder da’ zur Tür herein. Seine Präsenz war regelrecht zu spüren.

„Das ist nicht zu überhören“, entgegnete Giulia schroff undfuhr fort: „Und jetzt willst du sicherlich wissen, über was oder wen wir die ganze Zeit geredet haben. Frauen sind doch Tratsch-tanten.“

„So ist es. So ist es.“

„Mara und Giulia haben sich über die zunehmende Unabhängigkeit der Frauen unterhalten und dass das für Männer ein Problem ist“, lenkte Clarissa ein und bewies ein weiteres Mal, dass sie eine exzellente Zuhörerin war. Sie goss den restlichen Wein in ihr Glas, leerte es in einem Zug und sagte geradeheraus: „Die sogenannten Wonder Women in James-Bond-Action-Szenen, die faszinieren, zerstören, morden, ihre Meinung sagen und Standpunkte verteidigen können, sind nun mal einfacher auf der Leinwand zu ertragen als in den eigenen vier Wänden.“

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