Читать книгу: «Elfenzeit 4: Eislava», страница 8
Bandorchu drehte sich um, und ihr Gesichtsausdruck wurde wieder weich, als ihr Blick auf ihn fiel. »Ja, du magst dich wundern. Du brauchst nichts für deine Ernährung als Essen und Trinken. Aber ich brauche mehr. Materie allein kann meinen Hunger nicht stillen, kleiner Silberling, und keine Reiche erschaffen wie das meine hier.« Sie breitete die Arme aus und drehte sich einmal um sich selbst. »Es benötigt wahre Macht, nicht nur ein wenig Begabung im Umgang mit Magie. Und wahre Macht braucht wahre Nahrung …«
Die sonst so reine Stimme erhielt einen kratzenden, gierigen Unterton, der die Schönheit verzerrte und entstellte, sie ins Gegenteil verkehrte, stärker als wenn sie von grundsätzlicher Hässlichkeit gewesen wäre. Ainfar kuschelte sich wieder in sein Kissen. Diese Bandorchu wollte er nicht sehen und nicht hören! Sie musste schön sein, immer schön!
Es war der Getreue, der diese Hässlichkeit in ihr hervorlockte. Er war schuld an allem, da war sich Ainfar nun sicher. Auch wenn er immer noch nicht begriff, wovon seine Königin sprach, es war klar, dass es etwas mit diesem Fremden zu tun hatte, der sich in die Gemeinschaft um Bandorchu gedrängt und den Platz als Favoriten an ihrer Seite beansprucht hatte.
Wie sehr Ainfar ihn hasste!
Ainfar nagte an der Nuss, die Bandorchu ihm gegeben hatte, und sah immer wieder zu der Tür, die zum innersten Gemach der Königin führte. Seit sie von der Audienz mit dem Getreuen zurückgekehrt waren, hatte sie sich darin eingeschlossen. Ainfar hatte sie in ihrem privaten Wohnraum davor gelassen, den er wegen des roten Halsbands nicht ohne ihren Willen verlassen konnte. Aber im Gegensatz zum Käfig würde hierbei eine einfache Verwandlung genügen, um das zu umgehen. Doch noch zögerte er.
Er dachte mit Schaudern an die Audienz zurück. Die Gegenwart des Getreuen jagte ihm nach wie vor Angst ein, und einen Moment hatte seine Nähe alle Pläne Ainfars sinnlos erscheinen lassen. Doch er hatte den Moment überstanden, und mehr denn je war er jetzt entschlossen, alles herauszufinden, was von Bedeutung sein mochte.
Und das, was der Getreue der Königin übergeben hatte, mochte von Bedeutung sein, auch wenn Ainfar noch nicht begriff, warum und wie. Aber die aufflackernde Gier, mit der sie den Sack bei der Übergabe betrachtet hatte, und die Hast, mit der Bandorchu danach in ihre Gemächer zurückgekehrt war, sagten Ainfar eindeutig, dass er das enthielt, weswegen sie die Rückkehr des Getreuen so herbeigesehnt hatte.
Ainfar fragte sich, was in dem Sack sein mochte. Etwas Lebendes auf jeden Fall, denn das Gewebe hatte sich immer wieder ausgebeult, als versuche etwas verzweifelt, daraus zu entkommen. Als Erstes waren ihm kleine Tiere in den Sinn gekommen, aber das hätte nicht die starke Aura gerechtfertigt, die den Sack umgab. Es war etwas darin, das von gewöhnlichem Stoff nicht gehalten werden konnte. Ein Geisterwesen vielleicht?
Er würde es nicht wissen, bis er es gesehen hatte.
Ainfar schloss die Augen. Es wurde Zeit, seinem Plan zu folgen und mehr herauszufinden. Es war gefährlich, sicher – aber was wären seine Pläne noch wert, wenn er nicht bereit war, Gefahren dafür auf sich zu nehmen?
Er löste das Bewusstsein seiner jetzigen Gestalt auf, das er im hintersten Winkel seines Denkens festhielt, und ersetzte es durch das einer neueren, kleineren: Eine winzige graue Maus, wie sie überall zuhauf vorkamen, als scherten sie sich nicht um Grenzen von Welten und Zeiten und seien die eigentlichen Herrscher des Universums. Er umfasste das Bild und gab ihm die Energie, die es brauchte, um Wahrheit zu werden.
Seine Haut zog sich zusammen, und ein schmerzliches Fiepen entkam seinen Mund, ehe er es aufhalten konnte. Mit spürbarem Knirschen verschoben seine Knochen sich, ehe sie schrumpften, und etwas schob sich schmerzhaft am Steißbein aus seinem Körper. Er verlor das Gleichgewicht. Spastische Zuckungen durchliefen seinen Körper. So lange lag die letzte Verwandlung zurück, dass er fast vergessen hatte, wie es sich anfühlte, wie viel zerrender Schmerz darin lag. Es war nur ein kurzer Moment, doch einer, der sich in die Ewigkeit zu dehnen schien.
Die Tasthärchen um seine Nase zitterten, als er die Augen wieder öffnete. Ihm wurde schwindelig beim Anblick des plötzlich ins noch Größere verzerrten Raumes, obwohl der Unterschied in der Größe gering war gegen das, was er bei der Aufgabe seiner Elfengestalt erlebt hatte. Doch vielleicht war es gerade das fast-richtig, das die Wahrnehmung verschlimmerte – als sähe man durch ein Wasserglas. Alles blieb erkennbar und war dennoch verzerrt und in falscher Perspektive.
Hastig trippelte Ainfar aus dem Halsband heraus, kauerte sich hin und leitete die Rückverwandlung ein. Jede Nutzung von Magie mochte ihn verraten, doch als Maus würde es ihn zu viel Zeit kosten, die Schlitze zu erreichen. Dieses Mal auf den Schmerz vorbereitet gelang es ihm, ihn auszublenden. Erleichterung durchströmte ihn, als er die Augen wieder öffnete und alles erneut so war, wie er es gewohnt war.
Im nächsten Moment jagte er auch schon über den Boden und sprang über Stuhl und Tischchen zu den Wandverzierungen hinauf, die ihm erlaubten, die gebogenen Schlitze zu erreichen. Er erinnerte sich noch klar an seinen ersten Ausflug, als er den Zugang zum Schlafgemach gesucht hatte. Einer seiner Fehlwege hatte ihn in den Raum geführt, in den er nun wollte, und er hatte sich den Weg sorgfältig eingeprägt. Ainfar huschte hinaus in das grelle Licht und die scharfen Schatten, die über die Wände des dunklen Kristallpalastes huschten, orientierte sich einen kurzen Moment anhand der Stuckaturen und schlüpfte dann durch ein schmales Loch.
Ein hoher, klagender Ton empfing ihn, der seine Härchen sich aufstellen ließ. Zuerst hielt er es für ein Geräusch des Windes, der sich an einer Mauerverzierung fing. Doch je weiter er durch die Mauer drang, umso deutlicher wurde der Laut, und umso mehr fuhr er ihm in die Knochen.
Wie die Klage einer Banshee, dachte er.
Schließlich erreichte er das Ende des Tunnels. Er streckte den Kopf hinaus und sah sich um, doch die Wandfläche war hier so geneigt, dass sich ihm lediglich eine Ecke des düsteren, von flackerndem Licht erfüllten Raums offenbarte. Die Schlitze waren offensichtlich Teil eines Reliefs, das er nicht genau erkennen konnte. Es schien jedoch genug Halt zu bieten, dass er nicht in den Raum fallen würde.
Mühsam zwängte Ainfar sich durch die Öffnung, die gerade groß genug war für seinen Körper, und fand sich in der Darstellung eines Käfigs wieder, in dem Skelette und halb verweste Kadaver mit gebrochenen Knochen und schwärenden Wunden hingen. Der Anblick ließ in ihm Übelkeit aufsteigen, und sein erster Impuls war, sich wieder zurück in den Gang zu schieben.
Was für ein Wesen kann derartige Freude an Grausamkeit haben, dass es solche Bilder in seinen Gemächern haben will? Hat Bandorchu etwa ebenso viel Freude am Leid anderer, wie man es dem Getreuen nachsagt? Ich dachte immer, sie sei nur so hart wie es erforderlich ist, um ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten … doch das hier ist mehr als das!
Der Ton, der Ainfars Weg durch den Tunnel begleitet hatte, war in ein leiseres Wimmern übergegangen. Er löste den Blick von den Schreckensbildern um ihn herum und drehte den Kopf zum Raum, um herauszufinden, welches gequälte Wesen diesen Laut hervorbrachte.
Er sah direkt in die schreckgeweiteten Augen Bandorchus.
Ainfars Herz setzte für einen Schlag aus, dann begann es vor Angst zu rasen.
Sie sieht mich …
Doch es wirkte nicht, als würde die Königin ihn wahrnehmen, denn sie zeigte keinerlei Reaktion. Es war Zufall gewesen, der seinen Blick dem ihren hatte begegnen lassen. Ihre Augen huschten durch den ganzen Raum, während ihre Hände immer wieder tastend über ihr Gesicht glitten.
»Was ist nur aus mir geworden«, flüsterte sie. »Wer bin ich … was bin ich …«
Der Sack, den sie vom Getreuen erhalten hatte, lag zu ihren Füßen, leer, soweit Ainfar das beurteilen konnte. Sie taumelte ein wenig, trat darauf und geriet ins Rutschen, fing sich jedoch sofort wieder. Ein Ausdruck schierer Panik breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie auf das schwarze Tuch hinunter sah.
»Seit wann brauche ich das? Wann bin ich so geworden? Wie konnte das geschehen?«
Es war der reine helle Klang von Bandorchus Stimme, doch es war, als würde eine andere sie benutzen. Niemals hatte Ainfar die Stimme in dieser Art zittern oder brechen hören. Niemals zuvor hatte er Verzweiflung oder vielmehr abgrundtiefen Horror darin gehört.
»Was für ein … Unding bin ich geworden?«
Erneut fuhren ihre Finger über ihre Wangen, krümmten sich und hinterließen rote Striemen. Ihre Augen quollen so sehr hervor, dass Ainfar glaubte, sie müssten im nächsten Moment als grüne Kristalle herausfallen. Doch stattdessen löste sich lediglich glasklares Wasser, rann über ihre Haut und fiel in glitzernden Tropfen zu Boden, um dort aufzuplatzen und in winzigen Spalten und Rissen zu versickern.
»Was für ein Monster frisst Seelen, um die eigene Macht zu erhalten?«, flüsterte sie.
Kälte fuhr in Ainfars Knochen, als stünde der Getreue neben ihm.
Seelenfresser?
Wenn es das war, was Bandorchus Macht erhielt, dann hatte sie wirklich die letzte Grenze überschritten. Dann war sie nicht mehr als ein Monster.
Aber was geschieht hier?
Bandorchus Kopf fuhr herum. Sie musterte die Steinwächter, die als bedrohliche Schatten in den Ecken standen, und die umherschwirrenden Kristallwespen, mit denen Bandorchu kürzlich die Herztöter ersetzt hatte. Sie verhielten sich unruhig, als spürten sie, dass mit ihrer Herrin etwas nicht stimmte. Einen Angriff wagten sie jedoch nicht.
Bandorchus Blicke streiften die Wände, irrten weiter, als wolle sie nicht sehen müssen, was sich ihr dort bot. Schließlich warf sie den Kopf zurück, legte die Hände an die Ohren und schloss die Augen, als sei ihr alles um sie herum unerträglich. Die Perlen auf ihrem hochgetürmten Haar lösten sich und fielen wie ein milchiger Regenschauer zu Boden, während die gelöstem goldenen Strähnen ihnen wie ein Sturzbach folgten. Erneut stieg der Klagelaut aus ihrer Kehle auf.
»Ich will das nicht … das bin nicht ich! Ich bin Gwynbaen … ich bin Gwynbaen …«
Ainfars Magen zog sich zusammen. Gwynbaen! Wie lange hatte er diesen Namen nicht mehr gehört?
Seit sie im Schattenland lebten, hatte die Königin sich nur noch Bandorchu nennen lassen, die Dunkle Frau. Ainfar erinnerte sich vage an die Frau, die sie vor dem Krieg gewesen war. Er hatte sie nur einmal gesehen, doch damals hatte sie Güte und Weisheit ausgestrahlt, und eine Wärme, die nichts mit dem Begehren zu tun hatte, das jetzt so viele an sie band. Er war stets der Meinung gewesen, er wäre damals einer Täuschung erlegen, einer bewussten Illusion. Doch nun verdichtete sich die Annahme, dass es die wahre Gwynbaen gewesen war. Was hatte sie so sehr verändert? Was hatte sie in den Krieg getrieben, der so viele Elfen das Leben gekostet hatte?
Ein Knurren ließ ihn aus seinen Gedanken aufschrecken. Bandorchu hatte den Kopf wieder gehoben, und ihr Gesicht hatte sich erneut verändert, strahlte Winterkälte aus. Ihre Finger tasteten über die Kratzer, die sie sich selbst zugefügt hatte, die Haut schloss sich darunter und nahm wieder die gewohnte blasse Tönung an. Sie schnaubte verächtlich.
»Warum muss einem jeglicher Genuss verleidet werden!«, fragte die Königin mit schneidender Stimme den leeren Raum. Sie hob die Hand, und eine der Kristallwespen ließ sich mit zufriedenem Surren darauf nieder. »Egal. Ein wenig Ruhe noch, um zu genießen, dass ich endlich wieder satt bin … und dann werde ich meinen treuesten Diener belohnen.«
Ainfar hatte genug gesehen. Bandorchu würde bald den Raum verlassen und sein Fehlen bemerken. Hastig drückte er sich durch den Schlitz, rannte und schlitterte durch die Schächte zurück in den Vorraum und ließ sich auf den Boden hinunter fallen. Direkt an das rote Stofffutter gedrückt begann er die Verwandlung und stoppte, als er merkte, dass der Kopf noch nicht richtig durch das Halsband gedrückt war. Er schob den Kopf in Position und setzte die Verwandlung fort. Dann ließ er sich erschöpft sinken. Wellen von Schwindel trieben über ihn hinweg, die nicht nur von der Anstrengung kamen, sondern auch von dem, was er gesehen hatte.
Die Tür zu Bandorchus Gemach öffnete sich, und sie kam heraus. Ihre Haare waren wieder in verschlungenen Flechten hochgesteckt und mit Perlen und Smaragden verziert, die mit ihren Augen um die Wette leuchteten. Eine spürbare Aura der Macht umgab sie, und die Sattheit, die sie ausstrahlte, ließ Ainfars Magen sich zusammenziehen, als sie sich hinunterbeugte, um ihn zu kraulen.
»Du musst noch etwas warten«, gurrte sie. »Ich erwarte Besuch und muss mich gebührend darauf vorbereiten. Sobald er sich verabschiedet hat, bist du wieder mein einziger Schatz.«
Ainfar zwang sich, in gewohnter Weise seine Nase an ihrer Hand zu reiben. Sie lächelte ihn an, erhob sich und verschwand in ihr Schlafgemach. Der Tiermann hatte keine Zweifel, wer sie dort bald besuchen kommen würde. Vorsorglich verkroch er sich unter einem der Schränke. Das Letzte, was er jetzt ertragen konnte, war eine weitere Begegnung mit dem Getreuen.
Gwynbaen, dachte er. Sie lebt, irgendwo unter all der Kälte und Grausamkeit, die Bandorchu ausmachen. Und der Seelenfraß hat sie geweckt. Vielleicht gelingt es mir, sie das nächste Mal dauerhaft wach zu halten. Wenn es gelingt, die Veränderung rückgängig zu machen … und wenn ich Regiatus das mitteilen kann, dann nimmt es doch noch ein gutes Ende.
Erschöpfung überwältigte Ainfar, und er sank in einen unruhigen Schlaf.
9.
Unterland
Die Alte Trollin warf den Kopf zurück und lachte keckernd.
»Ich sehe, ihr habt meine liebe Schwester Bjartaki schon kennengelernt. Was für ein Zufall. Aber ihr solltet mich nicht mit ihr verwechseln. Zum einen bin ich um Klassen schöner …« Sie grinste, richtete sich im Stuhl auf und drückte die Brust vor, sodass ihr übergroßer Hängebusen voll zur Geltung kam. Dann tippte sie sich mit einem Finger gegen den Nasenflügel. »Und zum anderen bin ich ein gutes Stückchen schlauer. Glaubt also nicht, dass ihr mich so leicht überwinden könnt wie sie.«
»Ihr wisst von unserer Begegnung mit ihr?«, hakte Rian nach.
»Natürlich. Im Unterland reisen Nachrichten schnell, und Bjartakis Wutschrei, als ihr kleiner Liebling von euch ins Vergessen geschickt wurde, war kaum zu überhören.« Die Alte rieb sich die Hände und kicherte hämisch. »Ich muss sagen, dass ich allein deswegen schon geneigt bin, Milde walten zu lassen im Umgang mit euch. Aber rechnet euch dabei nicht zu viel aus. Ihr könnt froh sein, dass ihr überhaupt noch lebt. Die meisten ungebetenen Besucher landen bei uns entweder direkt am Bratspieß oder werden zu Pilzdünger und Fischfutter verarbeitet.«
Rian schluckte. Sie hatte nicht den Eindruck, dass die Trollin log oder übertrieb. Es überraschte sie nicht.
Die Augen der Alten funkelten. »So, wie ich die Dinge sehe, habt ihr jede Menge Probleme. Ihr seid mit einem Boot gekommen, weit von Süden, und ihr folgt dem Kalten Strom. Ihr dürftet einen triftigen Grund dafür haben, denn das ist nichts, was man aus Zufall macht, und das Ziel einer solchen Reise ist keines, zu dem man ohne Not reist. Wohin wollt ihr? Asgard? Jotunheim? Hel? Aber nein, Hel kennt ihr schon, oder zumindest das Land, zu dem es gehört. Ich kann den Schatten förmlich an euch riechen.«
»Wir wollen zum Weltenbaum«, antwortete Rian in der Hoffnung, dass die Alte dann aufhören würde, über Schatten zu reden. David runzelte die Stirn, sagte aber nichts, obwohl sie seinen Unmut spürte.
»Sieh an, sieh an. Die Vögelchen wollen zu einem großen Baum, aber wohl kaum, um sich dort ein Nest zu bauen, oder?«
»Was wir dort wollen, geht dich nichts an«, sagte David und verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber du solltest uns besser nicht aufhalten, denn wir haben eine wichtige Aufgabe.«
»Soso-soso. Tssss. Die Überraschungen nehmen gar kein Ende. Und was für eine wichtige Aufgabe ist das? Wer hat sie erteilt?«
»Fanmór.«
»Ha! Fanmór!« Die Alte zog geräuschvoll hoch und spuckte auf den Boden. »Dass ich nicht lache. Warum sollte der alte Riese zwei solche Jungspunde wie euch ausgerechnet zu Yggdrasil schicken? Das ist eine Reise für Helden, nicht für Kinder!«
Rian spürte, wie Wut in David hochkochte und er zu einer hitzigen Entgegnung ansetzte. Hastig legte sie eine Hand auf seinen Arm. Ihre Blicke begegneten sich, und David presste die Lippen in eisigem Schweigen zusammen.
»Das mag sein«, sagte Rian daraufhin, wieder an die Alte gewandt, »aber wie die Menschen so sagen, erfordern ungewöhnliche Umstände manchmal ungewöhnliche Maßnahmen. Darum haben wir uns daran gemacht, diese Aufgabe zu erfüllen.«
Die Alte neigte den Kopf zur Seite und musterte Rian aufmerksam. »Das klingt nicht unbedingt, als hättet ihr Fanmór vorher um seine Meinung gefragt, falls ihr denn überhaupt etwas mit ihm zu tun habt.«
Rian zog nur leicht die Achseln hoch und lächelte schief. Tatsächlich war das nicht einmal unwahr, denn mehr oder weniger hatten sie den Auftrag durch Erpressung erhalten.
»Gut, gut. Ihr gefallt mir immer besser. Fanmór … es hat sicher schon schlechtere Herrscher gegeben, aber er hat für mein Empfinden die Finger in zu vielen Sachen drin, will zu vieles kontrollieren. Alles wissen, alles können, alles beherrschen. Ha!« Wieder glommen ihre Augen. »Nur Trolle beherrschen Trolle. Mit anderen gibt es Verhandlungen und Vereinbarungen, aber niemand kann uns etwas befehlen.«
»Ist das der Grund, warum Ihr sein Gebot der Weltentrennung ablehnt?«, fragte Rian neugierig.
Die Trollin zog die Stirn zu tiefen Runzeln zusammen. »Wer sagt, dass ich das Gebot ablehne? Es war eines der wenigen schlauen Dinge, die jemals von ihm gekommen sind! Aber die Jungtrolle da, die tanzen mir auf der Nase herum. Ha! Als ob ich das nicht wüsste. Als ob die Strafe nicht früher oder später jeden ereilen würde. Es gibt nichts, aber auch gar nichts, das im Unterland ohne mein Wissen geschieht.« Gewittergrollen klang aus ihrer Stimme, und die jungen Trolle sanken sichtlich in sich zusammen. »Lange habe ich gedacht, ihr werdet von selbst schlau werden, dass etwas Kluges hinter dem steckt, was die alte Volistaki sagt. Aber nein, es muss erst was passieren.«
»Ja, Altmutter«, murmelten die Trolle kleinlaut.
»Was ist denn geschehen, wenn ich fragen darf?«, fragte Rian erstaunt.
»Verloren haben sie sie«, zischte die Alte. »Verloren! Vier unserer Kinder … verloren!«
»Verloren? Wie verloren?«
»Sie sind ausgebüxt. Weggelaufen, alle zusammen, weil sie Menschenkram sehen und Menschenkram erleben wollten. Aber während die hier wiedergekommen sind«, sie deutete mit ihren langen Fingern auf die Jungtrolle, »haben sie die anderen allein gelassen. Und jetzt sind sie fort! Keiner von ihnen ist wiedergekommen. Keiner!« Ihre Stimme war zu einem wütenden Kreischen angestiegen, und ihre Blicke verschossen mörderische Blitze auf die Trolle, ehe sie langsam den Kopf senkte. »Wahrscheinlich werden wir sie nie wiedersehen. Und wofür? Für ein wenig Spaß mit lustigem Menschenkram.« Bitterkeit triefte aus den Worten.
»Sie sind bei den Menschen geblieben?«
Die Alte schüttelte den Kopf. »Nicht freiwillig, das ist sicher. Niemand von uns bleibt freiwillig oben, nur die, die nicht mehr runter dürfen, wie Bjartaki. Sie hat einmal zu oft gegen unsere wenigen Gebote verstoßen. Aber kein Unterland-Troll setzt sich freiwillig länger der Sonnengefahr aus. Andere Trolle leben in der Düsternis des Waldes oder im Schatten der Berghänge, denn unsere Art stirbt im Sonnenlicht. Unsere Haut verhärtet sich, außen wie innen, und wir ersticken, unsere Herzen bleiben stehen.«
Nicht gerade eine Todesart, die ich jemandem wünschen würde, der mir nichts getan hat, dachte Rian.
»Niemand bleibt freiwillig so lange oben, wie sie schon weg sind«, fuhr die Alte fort. »Hier in der Gegend sind sie nicht mehr, das haben wir herausgefunden, und weiter können wir nicht weg, ohne dass es zu gefährlich wird.«
Rian fuhr sich durch das Haar.
»Wir kennen uns bei den Menschen ein wenig aus, und wir können uns gefahrlos an der Oberfläche bewegen«, sagte sie. »Wenn ihr uns bei unserem Auftrag helft, werden wir euch bei der Suche unterstützen.«
Die Alte hob den Kopf und sah sie zwischen den Zotteln hindurch an. »Ja, was denn sonst?«, knarrte sie und kniff die Augen zusammen. »Was glaubt ihr, warum ich euch am Leben gelassen habe?«
Noch immer recht kleinlaut kauerten die fünf Trolle auf dem Boden der Hütte, zwischen den beiden Lagern, auf die David und Rian sich wieder gesetzt hatten. Der Orange, der zuvor so angriffslustig geschaut hatte, wirkte am kläglichsten. Zu einer Kugel zusammengerollt hielt er ein Stück Pilz in der Hand und presste und drückte daran herum, als könne ihm das Trost bringen.
»Das Ganze is’ jetz’, ich weiß nich, ich glaub sechs Tage her«, sagte Mikkilik, der sich selbst Mik nannte. »Wir waren mal wieder auf Tour … na ja, s’ is’, wie’s die Alte gesagt hat: Menschenkram halt. Als wir innen Ort kamen, wo wir uns sonst immer rumtreib’n, kam grad ’n Bus an, und da kam einer auf die Idee, doch mal rüber in die Stadt zu fahrn. Is’ ja nich mal ne Stunde, und es is’ ja noch so, dass die Nächte nich wirklich kürzer als die Tage sin’ un’ man zu ner guten Zeit da ankommt.«
»Kannst ruhig zugeben, dass das deine Scheißidee war«, knurrte Jolkvart alias Jok.
»In dem Moment hast’s aber nich als Scheißidee empfunden«, brauste Mik auf. Jok hob beschwichtigend die Hände und zog etwas den Kopf ein.
»Jedenfalls, wir ham den Bus genommen, und inner Stadt sin wir dann endlich mal in so’n Kino mit richtig großer Leinwand und gutem Sound gegangen, den neuen Horrorstreifen gucken.«
»So geil!«, schwärmte Jackie. »Als die Fledermäuse da rausflogen …«
Mik sah sie an, und sie schloss den Mund wieder.
»Dann sin wir noch in so ne Spielhalle, haben ein wenig mit Lasergewehren rumgeballert. Bo hier is’ schier ausgerastet da drin. Als die um Mitternacht dann zugemacht ham, wollt’n die annern vier noch in ne Kneipe. Aber ich hab gesagt, dass wir schaun müssn, den letzten Bus zu kriegn, weil’s mit dem ersten Bus am Morgen vielleicht schon hell is’, eh wir zu Hause sin. Die annern ham gesagt, der Frühbus würd’ bestimmt auch noch reichen, und falls es doch schon zu hell wär wenn der fährt, wollt’n se sich halt über den Tag im Bahnhof rumdrücken, oder ’n Zimmer innem Hotel nehm’. Solang wir nich im direkten Licht sin’ geht’s ja einigermaßen mit der Sonne, is’ zwar unangenehm und so, bewegen wird schwerer, aber ’s geht. Also hab ich gesagt, ›macht was ihr wollt‹, und wir fünf sin gegangen.« Er zuckte die Achseln und ließ den Kopf hängen. »Die sin bis heute nich zurückgekommen.«
Rian nickte. »Wisst ihr denn, in welche Kneipe die anderen wollten?«
Die Trolle schüttelten die Köpfe. »Nee«, antwortete Mik. »Wusstense ja selbst nich. Aber wir hatten da welche gesehn, wo fett Musik lief, und ich glaub, zu einer von denen wollten die.«
»Damit lässt sich vielleicht sogar etwas anfangen. Allerdings … ihr seid wahrscheinlich nicht in euren wahren Gestalten durch die Stadt gelaufen, oder?«
»Nee, natürlich nich. Obwohl du an manchen Abenden so schräge Gestalten rumlaufen siehst, da wür’n wir auch nich auffallen. Aber trotzdem, nee.«
»Könnt ihr uns beschreiben, wie die Verschwundenen ausgesehen haben?«
»Na ja … es warn zwei Jungs, Lassan und Murtik, un’ zwei Mädels, Umili und Mieli. Lassan … er is’ so ungefähr so groß wie Jok, aber als Mensch macht er sich größer, und er hat so schwarze lange Haare …« Mik wirkte zunehmend ratlos, während er versuchte, das menschliche Aussehen der Trolle zu beschreiben.
»Ich könntse zeichnen«, warf Jackie ein.
Rian klatschte die Hände zusammen. »Das wäre großartig! Dann könnten wir die Bilder benutzen, um andere Leute zu fragen, ob sie sie gesehen haben!«
Sie holten die Spielschachteln aus der Ecke und durchsuchten sie, bis sie einen Block mit Punktetabellen und einen Stift fanden. Auf den Rückseiten der Blätter begann Jackie, unter ständiger Diskussion mit den anderen, die Gesichter der Vermissten aufzuzeichnen. Unter die Ergebnisse, die von den anderen als zutreffend anerkannt wurden, schrieb Rian jeweils die Namen. Sicherheitshalber fertigte Jackie auch Skizzen ihrer wahren Gestalten an. Rian nahm sie alle an sich und wollte zu einem Bewahrungszauber ansetzen, als prompt die Metallbänder sich zusammenzogen. Sie stöhnte auf.
»Die Armbänder müssen aber auf jeden Fall weg, ehe wir gehen«, stellte sie fest. »Sonst können wir bei den Menschen nicht viel ausrichten, weil wir uns nicht einmal tarnen können.«
»Klaro«, sagte Mik. »Ihr werdet die Dinger los, sobald wir euch über die Grenze gebracht haben. Und wenn ihr mit unseren Freunden wiederkommt, bekommt ihr se auch nich wieder verpasst.«
»Das will ich hoffen!« Rian war froh, dass sie die Altmutter davon hatten abbringen können, einen von ihnen beiden als Geisel dazubehalten. Stattdessen hatte die Alte einen Bannfluch auf sie gelegt, der sie auf jeden Fall nach sieben Tagen hierher zurückziehen würde.
»Ein Tipp noch«, sagte Bo und entrollte sich. Seine Stimme klang erstaunlich weich, und Wasser schimmerte in seinen Augen. »Die da«, er tippte auf Umilis Bild, »ist die Tochterstochter der Altmutter. Wenn ihr die nich findet, braucht ihr gar nich mehr wiederkommen.« Er wischte sich über die Augen und fuhr leiser fort: »Und sollte ihr jemand was angetan haben … dann macht den platt! Hört ihr? Plattplattplatt!«
Erleichtert sog Rian die frische Nachtluft ein, die ihr entgegenschlug. Sie befanden sich am oberen Ende der Höhle, wo der Fluss in den Berg hinein verschwand, um dann in die Anderswelt zu stürzen. Über ihnen glosten die Sterne am klaren Himmel, und auf den Büschen ringsum lagerte sich knisternd Reif an. Vor Rian stand eine Tasche mit einem Teil der Kleidung, die ihnen von der Altmutter zurückgegeben worden war.
Auffordernd hielt Rian Mik die Arme hin. Der Troll zog einen Weidenzweig aus seiner Hose, zeichnete murmelnd einen Kreis in die Luft und berührte dann mit der Spitze das Metall. Die Spange öffnete sich und fiel zu Boden. Mit dem gleichen Ritual löste er Rians zweite Spange und Davids Bänder.
»Ich wünschte, ich könnte mitkommen«, murmelte er und steckte die Rute weg. »Aber wir dürfen nich, oder wir brauchen uns vermutlich gar nich mehr im Unterland blicken lassen.«
»Das käme vermutlich darauf an, ob wir Erfolg haben«, meinte Rian. »Wer im Triumph zurückkehrt, bei dem wird selten nachgefragt, ob er die Erlaubnis zum Auszug hatte.«
»Vielleicht habt ihr Recht … aber die Alte hat jetzt schon ’n scharfes Auge auf uns, und wenn se uns beim Abhauen erwischen würde, wär’n wir vermutlich schneller Grilltrolle als uns lieb is’. Na ja … ich drück euch was.« Er hob beide Hände und quetschte die Daumen so ein, dass Rian Angst bekam, sie könnten brechen, ehe er sich umwandte und wieder in der Höhle verschwand.
Die Zwillinge fanden dank Miks Beschreibung schnell den Weg zur nächsten Ortschaft und warteten dort auf den ersten Bus. Es gab tagsüber eine teilweise stündliche Pendelverbindung, die in der Nacht für mehrere Stunden aussetzte. Wenig später saßen David und Rian in einem dieser Busse, auf den Spuren der widerspenstigen Jungtrolle.
»Irgendwie sind sie mir ja sympathisch«, meinte Rian, während sie Muster auf das beschlagene Fenster malte.
»Du meinst hoffentlich nicht die Unterland-Trolle allgemein«, meinte David. »Ihre Altmutter zumindest geht mir ziemlich gegen den Strich. Sie ist keinen Deut besser als unser Vater, was den Drang zur Kontrolle betrifft.«
»Und genau deshalb kann ich die Jungtrolle so gut verstehen«, antwortete Rian mit einem Lächeln. »Sie sind wie wir, nur noch ein wenig unverfrorener, findest du nicht? Sie haben es einfach gemacht. So wie Pirx.«
»Nur ist Pirx immer zurückgekommen, und er hat sich nie in flagranti erwischen lassen.«
»Aber gewusst hat es Fanmór trotzdem.«
»Vermutlich. Was bei einem Pixie durchgeht, hätte er bei seinen eigenen Kindern aber sicher nicht so einfach übersehen.«
Rian seufzte. »Wahrscheinlich hast du Recht.« Ihre Gedanken glitten zu dem quirligen Pixie mit den Igelstacheln und der roten Mütze, und von dort zu ihrem anderen Begleiter auf ihren vorherigen Ausflügen, dem ruhigen Grog. Sie vermisste die beiden. Als sie und David nach Norden aufgebrochen waren, hatten die Kobolde sich auf die Spur des Getreuen gesetzt. Irgendwoher hatte Regiatus erfahren, dass die Dunkle Königin begann, Kraftknoten nach einem bestimmten System besetzen zu lassen. Die vier Knoten, die bereits besetzt waren, hatten dem Getreuen erst vor kurzem erlaubt, aus eigener Kraft ein Tor ins Schattenland zu öffnen. Würde der fünfte Knoten hinzukommen, bestand die Gefahr, dass er und Bandorchu ein stabiles Tor erschufen, das in beide Richtungen durchschritten werden konnte.
Daher hatten sie sich aufgeteilt, und während David und Rian weiter auf der Spur des Lebensquells blieben, um den Elfen die Unsterblichkeit zurückzubringen, hatten Pirx und Grog sich auf den Weg gemacht, um den Getreuen zu suchen.
»Wo die beiden wohl im Moment sind?«
Ihr wurde erst bewusst, dass sie die Frage laut ausgesprochen hatte, als David darauf antwortete.
»Ich kann nur für sie hoffen, dass es dort wärmer ist. Grogs Haare würden hier einfrieren und abbrechen.«
Rian lachte auf. »Vielleicht. Aber ich glaube eher nicht. Die Trolle scheinen das Problem ja auch nicht zu haben. Sein Haarkleid würde ihn vermutlich sogar angenehm warmhalten.«
»Na gut, dann hoffen wir, dass er es sich nirgendwo ankokelt.« David grinste, und Rian kicherte.
Nach etwa einer Stunde Fahrt erreichten sie die Stadt. Es war keine Großstadt wie Paris, nicht einmal wie München, aber für schwedische Verhältnisse wohl groß. Rian hatte in einem Reiseführer gelesen, dass selbst die Hauptstadt Stockholm nur eine knappe Million Einwohner hatte. Die drei größten Städte des Landes und ihr jeweiliges Umland machten zusammen ein Drittel der gesamten Einwohnerschaft Schwedens aus. Da blieb nicht mehr viel für die riesige restliche Fläche übrig.
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