Читать книгу: «Drúdir», страница 5
Phandrael deutete eine Verbeugung an und zog sich zurück. Erneut drehte Shideris ihm den Rücken zu, um aus dem Fenster zu sehen. Aber diesmal erhaschte er einen Blick auf ihr Gesicht, während sie es tat. Und zum ersten Mal seit langem spiegelte sich unverkennbar ein Gefühl darauf: Sorge.
Kyrai wohnte am Stadtrand, in einem der hohen, schmalen Häuser, die sich hier eng aneinanderschmiegten. Große Fenster blickten wie dunkle Spiegelaugen aus den hellen Fassaden.
Phandrael zog an der Klingelschnur. Die meisten Drasirai der Hauptstadt kannte er zumindest vom Sehen, aber einer Kyrai war er noch nie begegnet. Gerüchteweise sollte es eine weitere Akademie an der Nordküste geben. So verbunden die Drasirai sich durch ihre Gaben auch fühlen mochten, tauschten sie sich doch nur wenig untereinander aus. Als nach seinem Klopfen zunächst nichts geschah, zog Phandrael den Umschlag, den Shideris ihm ausgehändigt hatte, aus der Tasche und überflog die eng beschriebenen Seiten darin. Mit dem Code war er so vertraut, dass er sie mühelos lesen konnte. Die Suche nach Valedas könnte noch interessanter werden als ursprünglich gedacht.
Ohne dass das Geräusch von Schritten sie angekündigt hätte, schwang die Tür nach innen auf und gab den Blick auf Kyrai frei. Phandrael nahm sich einen Moment Zeit, um sie zu betrachten. Die Drasirah war nicht besonders groß, wahrscheinlich noch etwas kleiner als Shideris, mit silbrig-blondem Haar, das sie zu einem schlichten Knoten geschlungen hatte. Zwei sehr glatte Strähnen hatten sich daraus gelöst und rahmten ihr beinahe durchscheinend blasses Gesicht mit den nachdenklichen, dunkelgrauen Augen ein. Die obersten Knöpfe ihrer silbergrauen Seidenbluse waren offen und eine Seite des Kragens gerade weit genug zur Seite gerutscht, um den Blick auf ein Flechtwerk zartblauer Adern und ein feingeschwungenes Schlüsselbein freizugeben, das sich als scharfer Grat unter ihrer Haut abzeichnete. Dazu trug sie dunkle Hosen, aber keine Schuhe. Auf den Spann von jedem ihrer Füße war eine hellgraue Glyphe tätowiert.
Bei den meisten Frauen hätte Phandrael diese Aufmachung auf subtile Weise aufreizend gefunden, aber wie der Zufall es so wollte, begegnete er heute bereits der dritten Elfe, die in ihrer Anmut so steif und kontrolliert wirkte, dass ihr Anblick ein rein ästhetisches Vergnügen bot.
„Willkommen“, sagte sie und deutete einen formellen Knicks an. Ohne einen Rock, der sich dabei dramatisch auffächerte, sah die Bewegung bei aller Eleganz seltsam aus.
„Ich nehme an, du hast mich erwartet. Ich bin Phandrael“, stellte er sich vor.
Sie lud ihn mit einer Handbewegung ins Innere ihres Hauses ein. „Dann haben wir wohl einiges zu besprechen.“
Jedes Mal, bevor sie das Wort ergriff, hielt sie kurz inne, gerade lang genug, dass es einem sehr aufmerksamen Zuhörer auffallen konnte. Als würde sie sich jede Äußerung verbieten, die sie zuvor nicht noch einmal überdacht hätte.
Phandrael unterdrückte ein Seufzen. Vielleicht würde sie ihn noch positiv überraschen – amüsanterweise waren es immer die besonders beherrscht wirkenden Drasirai, deren Kontrollverlust, wenn er stattfand, absolut war. Doch er ahnte bereits jetzt, dass es kein Spaß werden würde, mit ihr zusammenzuarbeiten.
„Wollen wir vielleicht in meinem Atelier miteinander sprechen? Es ist der größte und hellste Raum.“
Sie deutete eine schmale Treppe hinauf. „Ich komme gleich nach.“
Neugierig stieg er die Stufen empor. Ihr Atelier befand sich direkt unter dem Dach, ein großer Raum mit schrägen Wänden und großen Fenstern, durch die breite Lichtbahnen ins Innere fielen. Auf niedrigen Regalen an den Wänden standen bemalte oder noch weiße Porzellanskulpturen, Teller und Medaillons. Ein breiter Tisch in der Mitte war mit Pinseln, Paletten und im Entstehen begriffenen Werken bedeckt; ein weites, von Farbflecken bedecktes Hemd über eine Stuhllehne geworfen.
Sie war Porzellanmalerin? Phandrael wollte bereits die Augen verdrehen, aber dann sah er sich Kyrais Kunstwerke genauer an. Sie hatte feine Pinsel benutzt, um auf den ersten Blick idyllische Szenen auf den schimmernden Untergrund zu bannen. Wenn man jedoch genauer hinsah, gab es in beinahe jedem ihrer Bilder eine fremdartige, beunruhigende Komponente. Manchmal nur durch einen einzigen Pinselstrich, der dem Lächeln einer Figur etwas Wissendes, Grausames verlieh oder einem Schatten die Andeutung von etwas, das sich darin verbergen konnte. Bei anderen Figuren hingegen wurde der harmlose Anschein auf spektakuläre Weise durchbrochen. Phandrael hob eine Porzellanfigur an, um sie näher zu betrachten. Schwer, glatt und kühl ruhte sie auf seiner Handfläche, während er sie langsam drehte und die unglaubliche Präzision von Kyrais Arbeit bewunderte. Eine beinahe kindlich aussehende Frau, an deren weißem Kleid über der linken Brust eine große, dunkelrote Blüte steckte, hielt die Arme anmutig angewinkelt. Ihre Finger formten eine Schale, deren Inhalt sie mit distanziertem Interesse aus vollkommen schwarzen Augen betrachtete. Die Rätselhaftigkeit ihres angedeuteten Lächelns lenkte beinahe davon ab, dass es sich bei der dunkelroten Form auf ihrer Brust doch nicht um eine Blume handelte, sondern dass sie mit belustigter Distanz ihr eigenes Herz studierte.
Interessant, dachte Phandrael. Und eigentlich nicht weiter überraschend. Ein Drasiron zu sein, bedeutete, sich ständig mit eigentlich Unerträglichem auseinanderzusetzen. Wahrscheinlich zeugten zahlreiche mehr oder weniger gelungene Kunstwerke von den Schlachten, die seine Kollegen in ihren Köpfen austrugen. Phandrael hatte nie das Bedürfnis danach gehabt. Vielleicht, weil er nie versucht hatte, sein wahres Wesen zu verleugnen.
Seine Kunst entstand anderswo.
Kyrai tauchte wieder auf, ein Tablett mit einer Wasserkaraffe und zwei Gläsern in Händen. Ihr Blick blieb kurz an der Figur hängen, die Phandrael betont langsam und beiläufig absetzte, aber sie sprach ihn nicht darauf an. Stattdessen stellte sie das Tablett ab. Unaufgefordert ließ Phandrael sich auf dem Stuhl nieder, ein Bein ausgestreckt, das andere mit darum verschränkten Armen an die Brust gezogen. Sein Kinn ruhte auf seinem Knie.
Wenn Kyrai Anstoß an seiner nachlässigen Haltung nahm, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie nahm eine ähnlich lässige Pose ein, halb stehend, halb auf der Tischkante sitzend. Keiner von ihnen rührte sich, aber es war die Bewegungslosigkeit der Drasirai: Vibrierend mit dem Potenzial von plötzlicher, schneller und destruktiver Bewegung.
„Zwerge“, sagte Phandrael unvermittelt. Er mochte das – einen Gesprächspartner mit einer scheinbar vollkommen aus dem Zusammenhang gerissenen Bemerkung wie dieser aus dem Konzept zu bringen. Doch Kyrai hatte dieselben Informationen erhalten wie er. Sie erwiderte seinen Blick ohne das geringste Anzeichen von Verwirrung. Da war nur kühle, gelassene Aufmerksamkeit. „Du glaubst, dass wir ihn in Nornírwatar finden werden?“ Sie sprach den mittlerweile ungebräuchlichen Namen aus, wie es die Zwerge vor hundert Jahren getan haben mochten: Norrnírrrwadaarr.
Phandrael war jung für einen Elfen. Viel zu jung, um sich an die Kämpfe der Elfen mit den Zwergenfürsten von einst zu erinnern – den verheerenden Krieg, in dem eine junge Heerführerin namens Shideris zur Königin aufstieg und das Reich der Zwerge verwüstet und uneinig zurückließ. Sie hatte es den menschlichen Invasoren, denen es für Jahrhunderte tributpflichtig sein würde, beinahe geschenkt.
Dennoch rief dieses „Nornírwatar“ etwas in Phandrael wach. Den Klang tiefer Stimmen und herunterfahrender Hämmer unter der Erde. Meißel auf Stein und hallende Hörner. Und – neuerdings – das Stampfen und Fauchen der Eisenbahn und das Ticken von Uhrwerken. Kein Elf würde es zugeben, aber die mächtigen Elfen mit all ihrer Magie und mühelosen Überlegenheit hatten sich immer davor gefürchtet, dass die berüchtigte Sturheit der Zwerge diesen irgendwann ein Mittel verschaffen würde, an der Vorherrschaft der Elfen zu kratzen. Und nun war ihnen bewiesen worden, dass sie nur zu richtig gelegen hatten, wenn auch auf unerwartete Weise. Die Zwerge hatten das Leben in ganz Kiarva unwiderruflich verändert, es geradezu schwindelerregend beschleunigt. Und damit – so beiläufig, dass es Phandrael manchmal amüsierte, manchmal mit den Zähnen knirschen ließ (immerhin waren es nur Zwerge!) – das Ende Cirdayas eingeläutet.
Vielleicht würden die Elfen der Insel noch für Jahrzehnte abgeschottet ihren narzisstischen Kult um Schönheit und Tradition fortsetzen, aber früher oder später würde die neue Technologie, die neue Lebensweise herüberschwappen. Sei es, weil die Menschen oder Zwerge bereits jetzt anfingen, mit der Eroberung neuer Kolonien zu liebäugeln und die Hände irgendwann unwiderruflich nach dem ressourcenreichen Cirdaya ausstrecken würden. Sei es, weil die Elfen, um ihnen zuvorzukommen, selbst zur Industrienation werden würden.
Und all dies hatte in Nornírwatar begonnen. Dem einstigen Sitz der Zwergenkönige und Stadt der Tempel, die sich von ihrem magisch-religiösen Erbe losgesagt hatte, um zu dem Ort zu werden, an der die Dampfmaschine entwickelt wurde, der mechanische Webstuhl, der Tunnelbohrer, die Eisenbahn, das Fließband … vor wenigen Tagen erst hatten sie von dem neuen Großprojekt der Union erfahren: Einem Netz, das Städte überall in der Union mit Elektrizität versorgen würde. In Nornírwatar – Schwarzspiegel, wie die Zwerge es nun nannten, da die mythologischen Wurzeln des ursprünglichen Namens ihnen Unbehagen bereiteten – war die heutige Union geboren worden.
Ob die Zwerge dort Elfen willkommen heißen würden? Phandrael bezweifelte es.
„Es ist die beste Spur, die wir haben“, entgegnete er.
Eine Weile schwiegen sie, dann sprach Kyrai: „Ich kannte Valedas“, sagte sie leise. „Wenn es einen Elfen gibt, der keinerlei Sympathien für die Zwerge hegt, dann ist er es. Was sollte er in Nornírwatar wollen?“
Für einen Moment erwiderte Phandrael ihren Blick vollkommen ernst. Er erinnerte sich an die Sorge in Shideris‘ Blick. „Wir werden es herausfinden.“
Kapitel 7
Findra
Es gab keine Akte über Kargan. Ein Fakt, der aufschlussreicher war, als ein ganzer Karton voller Papier es hätte sein können und Findra obendrein die Lektüre unzähliger langweiliger Observationsberichte ersparte. Aber vielleicht hatte die Unlust, die sie bei dem Gedanken überkam, sich durch eine öde Aufzeichnung nach der anderen zu arbeiten, sie etwas übersehen lassen. Langsam ging sie den schmalen Gang zwischen den deckenhohen Schränken zurück und zwang sich, jedes Kürzel auf den Schubfächern zu lesen.
Das Labyrinth der mumifizierten Ängste – oder, weniger poetisch, das Archiv der Spionageabwehr – war ein sonderbarer Ort. Es füllte drei unterirdische Hallen mit Reihen akribisch beschrifteter Schränke, zwischen denen der Staub tanzte. An der Decke pendelten elektrische Lampen im ständigen Luftzug hin und her. Sie tauchten die Gänge mal in stechendes Licht, mal in tiefen Schatten. In den Rohren, die sich wie offenliegende Eingeweide unter der Decke umeinander wanden, sangen und seufzten Wasser und Luft, die in verschiedene Räume des darüber gelegenen Gebäudes transportiert wurden. Unheimlich … als könnten sich die Schubladen jeden Augenblick quietschend öffnen, um eine unbarmherzige Armee von Kriegern aus eng beschriebenem Papier in die Welt zu entlassen, bereit, auf jeden niederzufahren, der es wagte, vom Prozedere der Spionageabwehrbürokratie abzuweichen …
Vielleicht war ihr Führer ja auch einer der Geister dieses Ortes. Naudhiz028 hatte sich ihr mit diesem Codenamen wahrscheinlich in der Hoffnung vorgestellt, gefährlich und mysteriös zu wirken. Tatsächlich wirkte er vor allem leicht angestaubt. Seine Haut war blass und trocken und auch seine wenigen nicht ergrauten Haarsträhnen wirkten in ihrem stumpfen Dunkelblond farblos. Allerdings hatten sich, sobald Findra das Archiv betrat, seine hängenden Schultern gestrafft und der Ausdruck vager Resignation, der seinen Zügen alle Schärfe nahm, war offener Missbilligung über den Eindringling gewichen.
„Haben Sie die Akte Kargan entfernt?“, fragte Findra, ohne sich zu dem Zwerg umzudrehen, der ihr mürrisch über die Schulter spähte.
„Ich weiß nicht, von welcher Akte Sie reden.“
Wahrscheinlich wusste er es wirklich nicht. Bei der schieren Menge der hier gelagerten Akten wäre es ein Wunder, wenn er sich an eine spezifische Akte erinnern könnte. Andererseits: War seine Antwort nicht etwas zu schnell gekommen? Findra bedauerte, dass sie sich nicht die Mühe gemacht hatte, ihm ins Gesicht zu sehen. „Es geht um eine Reihe Observationsberichte über den Zeitraum von 1444 bis zum 1451. Sie betreffen einen Menschen namens Kargan, wahrscheinlich als mittelverdächtig eingestuft. Ich habe alle Schubladen für diesen Zeitraum durchsucht …“
„Das ist mir nicht entgangen“, sagte er spitz. „Ich hoffe, Sie konnten ihre Neugier befriedigen.“
Findra wusste nicht, ob sie ihn für seine mangelnde Kooperation verfluchen oder dafür auslachen wollte, dass er glaubte, irgendetwas an diesen Akten würde ihre Neugier wecken. Stattdessen atmete sie tief ein und aus und drehte sich mit einem breiten Lächeln zu ihm um. „Nun, das konnte ich tatsächlich. Ich bin in einer der Schubladen auf ein zwischen die Akten gerutschtes Einlegeblatt mit der Markierung Menschl.-Obj.-K.-Obs.-23.07.1444-07.03.1451-Hagalaz078-Wiesel? ohne eine dazugehörige Akte gestoßen. Im Verzeichnis befindet sich kein solcher Eintrag. Haben Sie eine Idee, was es damit auf sich haben könnte?“
„Moment mal … Sie haben sich das gesamte Aktenzeichen gemerkt? Sie haben die Schubladen doch allesamt nur kurz durchgesehen.“
Findra zuckte die Achseln. „Können Sie sich einen Reim auf das Fehlen der Akte machen?“
Er schüttelte den Kopf. „Wir werden dem nachgehen und Sie informieren, wenn wir etwas finden. Wir würden Sie bitten, unsere Antwort abzuwarten.“
Aha. Man warf sie hinaus und wollte sie bis zum Erhalt einer offiziellen Antwort – auf die sie wohl ewig warten würde – nicht mehr wiedersehen. Aber das spielte keine Rolle. Findra verließ das Archiv mit weitaus mehr Informationen, als sie es betreten hatte. Natürlich brachten diese sie keinen Schritt näher an die Lösung des Falles Fragar, sondern warfen noch mehr Fragen auf, aber trotzdem war sie froh, hier gewesen zu sein. Was sie Naudhiz028 gegenüber nicht erwähnt hatte, war eine Auffälligkeit des Verzeichnisses, die ihr sofort ins Auge gefallen war. Alle anderen Blätter in dem schmuddeligen Ordner waren abgegriffen und zerknickt gewesen. Mit Ausnahme des Blattes, auf dem die Akte, in der sie die Informationen über Kargan vermutete, verzeichnet hätte sein sollen. Das Papier war makellos, die Tinte nicht annähernd so ausgeblichen, wie sie es angesichts des Datums auf dem oberen Seitenrand hätte sein müssen.
Natürlich konnte es sein, dass man die Seite aus anderen Gründen kopiert hatte, um sie zu bewahren. Aber warum dann nur diese und nicht das kaffeefleckige Blatt fünf Seiten vorher, das kaum noch zu lesen war? Findra konnte nur eines schlussfolgern: Jemandem war daran gelegen, dass Informationen über Kargan nicht allzu leicht zugänglich wurden. Es musste jemand sein, der Einfluss auf zumindest einige Mitarbeiter der Spionageabwehr hatte. Hm, das grenzt es ein, dachte sie sarkastisch. Aber wer auch immer es war, er hatte für sein Geld lausige Arbeit bekommen. Und nun eine wirklich entschlossene Findra am Hals.
Ja, sie war sich bewusst, dass sie womöglich einer falschen Spur folgte. Aber immerhin war es eine. Mit energischen Schritten stapfte sie die Metallgitterwendeltreppe hinauf, einen langen, deprimierenden Flur entlang und schließlich auf die aufschwingende Tür des Gebäudes zu. Der Umriss eines breitschultrigen Zwerges zeichnete sich scharf vor dem einströmenden Sonnenlicht ab. Einen Augenblick später war er eingetreten und Findra konnte sein Gesicht sehen – ein Anblick, bei dem ihr selbst ein wenig die Züge entglitten. Niemand anderes als Baidur, Präsident der Nordkroner Polizei, starrte die Zwergin eisig an, die er soeben dabei ertappt hatte, seinen persönlichen Anweisungen zuwiderzuhandeln.
Baidur war selbst für einen Zwerg ungewöhnlich klein – ein Umstand, der ihm sehr bewusst war. Im Gegensatz zu anderen versuchte er nicht, mit dicken Stiefelsohlen darüber hinwegzutäuschen. Stattdessen hatte er eine Reihe von Gesten und Verhaltensweisen entwickelt, die deutlich machte, dass er nicht duldete, dass irgendjemand auf ihn herabblickte. „Findra, ich hätte Sie nicht hier erwartet“, sagte er kalt. „Ich muss nur ein paar Worte mit … jemandem wechseln. Warum warten Sie nicht auf mich und begleiten mich dann ein Stück, um mir auf dem Weg zu erklären, was Sie hier zu suchen hatten?“ Er wandte sich dem Zwerg von der Spionageabwehr zu. „Führen Sie mich nach hinten, Bildrin.“
Findra hörte ein leises Seufzen hinter sich. Offenbar gefiel es dem Archivar nicht, wenn sein lächerlicher Deckname so demonstrativ ignoriert wurde. Nun, auf ihr Mitleid musste er wohl verzichten. Sie brauchte es für sich selbst.
„Wie Sie meinen“, brachte sie heraus.
Die beiden Zwerge zogen sich zurück. Findra blickte ihnen nach. Bildrin musste sich beeilen, um mit Baidur mitzuhalten, der mit langen Schritten vorausstampfte. In Kombination mit seiner geringen Größe ließen seine breiten Schultern Findras Vorgesetzten beinahe quadratisch wirken. Eine Belagerungsmaschine mit Zylinder …
Für einen Moment verharrte Findra in einer linkischen Haltung, dann ließ sie ihren angehaltenen Atem entweichen und sich an der Wand herabgleiten. Sie zwang sich, das Ganze logisch zu betrachten. Letzten Endes wollte Baidur sie nicht loswerden, er wollte nur, dass sie den Fall Fragar vergaß. Das hieß, wenn sie ihm ihre bisherigen Ergebnisse verschwieg und ihm irgendwie weismachen konnte, dass sie tatsächlich aufgegeben hatte, musste diese Begegnung keine allzu üblen Konsequenzen für ihre Karriere haben.
Findra versuchte, in Gedanken möglichst viele Gesprächsverläufe durchzuspielen, aber es machte sie letztlich nur nervös, ohne ihr irgendwie weiterzuhelfen. Die Zeit zog sich hin. Wahrscheinlich zog Baidur sein Treffen mit wem auch immer absichtlich in die Länge, um sie warten zu lassen. Sie beschloss, ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen, und zog ein sorgfältig in einen alten Schal gewickeltes Buch aus ihrem Rucksack.
Findra nahm sich erst einmal einen Moment Zeit, den Geruch des Papiers einzuatmen. Als eines von vielen Kindern einer Familie, die nach der unionweiten Reform der Landwirtschaft gezwungen gewesen war, auf der Suche nach Arbeit nach Nordkrone zu ziehen, hatte sie jahrelang selten mehr als Zeitungen gelesen, die jemand hatte liegen lassen. Die meisten Zwerge der Oberschicht – wahrscheinlich selbst solche wie Drúdir, der immer Zugang zu Fragars Sammlung, der Gildenbibliothek der Uhrmacher und wahrscheinlich sogar Geld für ein paar eigene Bücher gehabt hatte – würden es kaum nachvollziehen können, aber eine von Findras ersten Assoziationen, wenn sie das Wort „Luxus“ hörte, war der Geruch von Papier, Leder und Druckerschwärze.
Findra verwendete kein Lesezeichen, aber sie fand die Seite, auf der sie zu lesen aufgehört hatte, auf Anhieb. Sie vergaß nie eine Seitenzahl. Einen Moment später war sie so in ihre Lektüre vertieft, dass sie die bevorstehende Auseinandersetzung vollkommen vergessen hatte.
Auf Drúdirs Rat hin hatte Findra die „Sprakar-Godwis-Historig-Rúnhalar“ aufgesucht und sich von dem Bibliothekar – einem überheblichen Kerl, der sie mit kaum verhohlener Skepsis angesehen hatte – ein Grundlagenwerk zur Magie ausgeliehen. In den vergangenen Tagen hatte sie die ersten Kapitel trotz des trockenen, theoretischen Stils geradezu verschlungen.
Oh ja, sie verstand die Faszination, die Zauberei auf Fragar und seine Freunde ausgeübt hatte. Aber auch die Ängste all derer, die daran beteiligt gewesen waren, Magie durch Technik zu ersetzen. Eine gewaltige, unerklärliche Macht, die einigen zu Diensten und für andere unsichtbar war … Gewiss konnten unzählige Zwerge ruhiger schlafen, seit sie wussten, dass da draußen keine Magier mehr die Herrschaft für sich forderten. Findra erinnerte sich nur zu gut an Drúdir, wie er auf dem Boden kniete, während um ihn herum Eiskristalle über den Boden wucherten und dieses unirdische, blausilberne Licht in seinen Augen glomm. Sie würde es nicht zugeben, aber dieser Anblick verfolgte sie bis in ihre Träume.
Es war merkwürdig: Jahrelange Berufserfahrung hatte sie gelehrt, selbst hinter den unschuldigsten Fassaden Zwerge zu erwarten, die zu ungeheurer Brutalität und Hinterlist fähig waren. Doch es wollte ihr trotzdem kaum gelingen, die beiden Drúdirs, die sie kennen gelernt hatte – den jungen Uhrmacher, hinter dessen abweisender Haltung sie tiefe Unsicherheit erahnte, und den Hexer aus der Werkstatt – als ein und dieselbe Person zu betrachten. Die Magie, die sie gesehen hatte, war einfach zu fremd. So etwas sollte es nicht geben. Sie konnte mit Magie in der Vergangenheit oder in fernen, exotischen Ländern leben, aber sie in ihr eigenes Leben einbrechen zu sehen, war verstörend. Es hätte sie erleichtert, wenn sie wenigstens eine klare Antwort darauf hätte finden können, was Magie eigentlich war. Wozu sie befähigte, wie man sie maß und – vor allem – was man ihr entgegensetzen konnte. Doch sie war enttäuscht worden. Zwar gab es große Überschneidungen darin, wie verschiedene Magier diese sonderbare Kraft beschrieben, aber ihre Wahrnehmungen waren selten identisch. Es ließ sich nicht klar berechnen, wie mächtig ein Zauber sein würde und welche Faktoren das beeinflussten. Tatsächlich hatte noch niemand eine Erklärung dafür finden können, wie das magische Fadenwerk überhaupt funktionierte und warum einige Geschöpfe es manipulieren und damit mühelos Gesetze der Physik aushebeln konnten.
Wahrscheinlich war es ein Glück, dass ihre eigenen Gedanken sie von der Lektüre abgelenkt hatten, denn so hörte sie Baidur bereits aus weiter Ferne kommen. Sorgfältig verstaute sie das Buch in ihrem Rucksack und richtete sich auf. Nervös glättete sie ihren Rock.
„Gehen wir!“ Der bullige Zwerg hielt kaum inne, um nach seinem schweren Mantel und seinem Hut zu greifen. Er drehte sich nicht nach ihr um. Er wusste, dass sie ihm folgen würde.
Ein eisiger Windstoß fegte ihnen entgegen. Der Regen der letzten Tage war einer klirrenden, trockenen Kälte gewichen. Der Wind drückte den Rauch der Fabrikschlote aus den Außenbezirken in die Straßen der Innenstadt hinab, sodass ganz Nordkrone am Husten und sich Räuspern war.
Findra zog ihren Schal enger und beeilte sich, Baidur zu folgen. „Sie wollten mit mir sprechen?“, fragte sie vorsichtig.
Er nickte grimmig. „Ich kann mich nicht erinnern, Sie in die Archive geschickt zu haben.“
„Ich wusste nicht, dass dazu eine Aufforderung nötig ist.“
„Ist sie auch nicht. Wäre aber vielleicht besser.“
Findra hob eine Augenbraue. Dabei hatte sie gedacht, Baidur würde im Großen und Ganzen Eigeninitiative befürworten und es mit den Hierarchien nicht allzu genau nehmen – natürlich nur, solange niemand seine Autorität in Frage stellte.
Er wies mit einem Daumen über die Schulter. „Da drinnen sind Informationen über das Leben unzähliger Zwerge. Niemand sollte nach Belieben darin herumschnüffeln können.“
Findra kniff angesichts dieser offensichtlichen Scheinheiligkeit die Lippen zusammen. Sie wusste von mehreren hochrangigen Politikern und Polizeioffizieren, die die Spionageabwehr gelegentlich als Privatdetektive missbrauchten, um Geschäftskonkurrenten oder Ehepartner ausspähen zu lassen. Wenn Baidur deren Verhalten missbilligte, dann auf sehr diskrete Weise. Und das, obwohl er es sich hätte leisten können, sie in ihre Schranken zu verweisen.
„Ich hatte gute Gründe.“
„So? Welches Interesse könnten Sie an einem Niemand namens Kargan haben?“
„Er hat mit Fragar korrespondiert. Ich dachte, man könnte vielleicht seine aktuelle Adresse ausfindig machen und ihm telegrafieren. Vielleicht hätte er uns etwas Nützliches über Fragar verraten können.“
„Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt: Der Fall Fragar ist aussichtlos. Konzentrieren Sie sich lieber auf die Fälle, die sie lösen können. Sie helfen niemandem, wenn Sie zu eitel sind, um sich einzugestehen, dass Sie hier nichts bewirken.“
Er blieb so jäh stehen, dass sie beinahe in seinen breiten Rücken hineingerannt wäre, und drehte sich zu ihr um. Sie standen so nahe voreinander, dass sie jedes einzelne Haar seiner buschigen, drohend zusammengezogenen Augenbrauen sehen konnte. „Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt und werde es nicht noch mal wiederholen: Ich gebe Ihnen eine Chance, zu beweisen, dass Sie fähig sind, nicht auf Teufel komm raus Ihren eigenen Kopf durchzusetzen, sondern Ihre verdammte Arbeit zu machen. Wenn Sie das nicht können, sind Sie hier falsch und ich werde Sie irgendwohin schicken, wo Sie keinen Schaden anrichten können.“
Findra hatte gedacht, sie würde eingeschüchtert sein, aber stattdessen ertappte sie sich bei dem Gefühl, dass etwas an seiner donnernden Standpauke nicht ganz stimmig war. Abgesehen von seiner völlig unverhältnismäßigen Reaktion an sich. Baidur sprach, als hätte er sich die Worte zuvor zurechtgelegt und das passte nicht zu ihm. Und er sah ihr nicht in die Augen. Er erinnerte sie an einen Schauspieler, der sich in seiner Rolle nicht wohlfühlte.
Interessant. Wahrscheinlich hatte man ihn eher bedroht als bestochen, sie notfalls hinauszuwerfen, falls sie sich als zu hartnäckig erwies.
Findra starrte ihn wütend an, ließ den Ärger in ihrem Gesicht dann aber langsam einem Ausdruck der Resignation und Scham weichen. „Ja, ich nehme an, Sie haben recht. Ich habe diese ganze Fragar-Sache zu persönlich genommen. Ich war regelrecht besessen.“ Abgesehen von der Vergangenheitsform war sie sogar gar nicht mal so weit von der Wahrheit entfernt – dieser Fall war zutiefst persönlich geworden. „Wahrscheinlich tut es mir gut, etwas Abstand davon zu bekommen“, fügte sie an. Hatte sie zu schnell eingelenkt?
Wenn er nach Anzeichen für Lügen gesucht hätte, wäre Baidur sicher fündig geworden, aber es war ihr Glück, dass er sich in dieser Situation kaum wohler fühlte als sie. Noch vor wenigen Wochen hatte er ihr seiner Hochachtung versichert. Vermutlich hätte er seine Drohung, sie zu entlassen oder zu versetzen, nur ungern wahrgemacht.
„Wahrscheinlich würde Ihnen ein wenig Abstand wirklich guttun“, sagte er. Seine plötzliche Freundlichkeit stand in auffälligem Kontrast zu seinem Ausbruch von gerade eben. „Wissen Sie was: Ich beurlaube Sie. Verschwinden Sie für drei Wochen aus der Stadt.“ Seine Stimme machte deutlich, dass der letzte Teil eher Warnung als Scherz war.
Findra musste ihr verwirrtes Lächeln nicht vortäuschen. „Äh … danke. Ab wann?“
„Ab sofort.“
„In Ordnung …“
Er tippte an seine Hutkrempe und drehte sich ohne ein weiteres Wort um. Ein jäher Windstoß wirbelte ein einsames Herbstblatt, das es irgendwie in die weitgehend baumlose Stadt verschlagen hatte, hinter seiner kompakten Gestalt her, als er in eine Gasse abbog.
Findra blieb stehen. Das verwirrte Lächeln auf ihrem Gesicht verwandelte sich in ein aufrichtiges, als sie in Gedanken den Preis für zwei Zugfahrkarten nach Schwarzspiegel ausrechnete.
Sie mochte Vorbehalte gegen Drúdir haben, aber sie hatte ihm ihr Wort gegeben, ihn in ihre Nachforschungen einzubeziehen. Außerdem hatte sie ohne ihn nicht die geringste Chance, Zugang zu dem sonderbaren – und zutiefst verdächtigen – Netzwerk von Magieinteressierten zu finden, von dem er ihr berichtet hatte.
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