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Kapitel 5
Drúdir
Jede Bewegung war ein Kampf gegen seine vor Panik verkrampften Muskeln. Immer wieder spähte Drúdir zu der Zwergin hinüber. Bereits ihre Aura hatte ihn vermuten lassen, wer ihm da im Gewölbe gegenübersaß – und nun, da er ihr Gesicht gesehen hatte, gab er jede Hoffnung auf, unerkannt geblieben zu sein. Zwar war in der Nacht wenig vom Gesicht des Eindringlings zu erkennen gewesen, aber was er gesehen hatte, deckte sich mit Findras Zügen.
Wäre Drúdir nicht so entsetzt darüber gewesen, dass sie sein Geheimnis kannte, hätte er sie wahrscheinlich sogar attraktiv gefunden. Ihr honigblondes Haar war streng hochgesteckt und verschwand zum Teil unter ihrem schwarzen Hut, aber die Dicke der Flechten ließ vermuten, dass es ihr offen bis zur Taille fallen würde. Ein paar Strähnen hatten sich gelöst und umrahmten in sanften Wellen ein rundes Gesicht. Die weichen Linien der leichten Stupsnase, des Kiefers und der schön geschwungenen Lippen standen im Kontrast zu den markanten Wangenknochen und ihren auffallend dunklen Augenbrauen, unter denen eindringliche, braun-grüne Augen schimmerten. Ihr leicht gebräunter Teint war makellos, und wären die Umstände anders und ihr Blick weniger hart gewesen, hätte Drúdir den weichen Kurven, die sich deutlich unter ihrer Trauerkleidung abzeichneten, wahrscheinlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet.
Im Augenblick jedoch fragte er sich lediglich, was diese hübsche, junge Zwergin mit ihrem verhängnisvollen Wissen anfangen würde. Natürlich … im Grunde genommen hatte sie ihm nichts vorzuwerfen. Aber wenn er noch immer in Fragars Testament erwähnt wurde – was, wie ihm jetzt bewusst wurde, gar nicht so unwahrscheinlich war – machte ihn das zum Verdächtigen. Und da würde das Misstrauen, das seine Gabe weckte, wohl kaum dazu beitragen, seine Situation zu verbessern. Und selbst wenn sich herausstellte, dass er über jeden Verdacht erhaben war: Wenn erst durchsickerte, dass er Magie praktizierte, war nicht nur ein saftiges Bußgeld fällig. Heutzutage nahm niemand das Magieverbot besonders ernst, aber das hieß noch lange nicht, dass diese Kunst in hohem Ansehen stand; im Gegenteil. Sein Ruf wäre ruiniert und das bedeutete viel unter Zwergen. Die Isolation, in der er seit der Entdeckung seiner Andersartigkeit gelebt hatte, wäre zementiert. Ganz zu schweigen davon, dass kaum ein Uhrmachermeister einen Zwerg wie ihn als Partner akzeptieren würde.
„Machen Sie sich keine Sorgen.“ Findra schien seine Gedanken erraten zu haben. „Ihr Geheimnis ist bei mir vorerst sicher. Sie haben mich wahrscheinlich ebenfalls in der Hand.“
„Wie das?“
Statt einer Antwort zog sie nur eine nervöse Grimasse, die wohl ein Lächeln sein sollte, und beschleunigte ihren Schritt. Er folgte ihr und staunte, dass sie sich nicht der nächsten Straßenbahnstation näherten. „Ist der Weg zum Präsidium nicht etwas zu weit zum Laufen?“
„Wir gehen nicht dorthin.“
„Wohin dann?“
„Dahin zum Beispiel.“ Sie deutete auf eine kleine Garküche. „Ich lade Sie ein.“
Drúdir hatte keine Ahnung, wie Zeugenbefragungen normalerweise abliefen, aber er ahnte, dass solche Einladungen nicht zum üblichen Prozedere gehörten.
Wenn es Findras Absicht gewesen war, ihnen eine Gelegenheit zu verschaffen, sich unbelauscht zu unterhalten, hatte sie eine gute Wahl getroffen. Die Preise waren niedrig genug, um zahlreiche Arbeiter aus den nahen Fabriken anzuziehen. Offenbar war gerade eine Schicht zu Ende gegangen und nun beugten sich zahlreiche schäbig gekleidete Zwerge über Schalen mit Eintopf und Spieße mit Fleisch zweifelhafter Herkunft.
In dem vom weichen, gelben Licht weniger Gaslampen erhellten Raum vermengten sich die Gerüche von Bier, deftigem Essen und verschwitzter Körper mit dem Rauch unzähliger Pfeifen zu einem so intensiven Dunst, dass Drúdir staunte, wie wenig Zeit er dennoch brauchte, um sich daran zu gewöhnen.
Mit der sonderbaren Klarheit, die extreme Anspannung manchmal verlieh, registrierte der Zwerg Details wie den anthrazitfarbenen Staub, der sich unter den Fingernägeln und in den Falten der ungesund blassen Gesichter einiger Kunden gesammelt hatte. Wahrscheinlich waren sie für die Weiterverarbeitung und das Umladen der Kohle verantwortlich, die aus den nahen Bergen geliefert wurde. Ihre leisen Unterhaltungen füllten den Raum mit dem Gemurmel tiefer, müder Stimmen. Im Gegensatz zu der mit Fremdwörtern gespickten, überartikulierten Sprechweise der Oberschicht sprachen sie das mit verballhornten hochkiarvanischen Wörtern durchsetzte Zwergisch der unteren Schichten: Lang gezogene Vokale, K-Laute, die zu G, und T-Laute, die zu D wurden, was ihren gedämpften Gesprächen eine sonderbar melodische Qualität verlieh.
Gelegentlich mischte sich eine Stimme in das allgemeine Gemurmel, die so tief und dröhnend war, dass die schweren Bierkrüge auf den Tischen vibrierten. Drúdir wandte den Kopf und sah eine Art grotesk geformten Berg in der dämmrigsten Ecke der Gaststube sitzen: ein Troll. Im Laufe der Zeit hatte es einige der grauhäutigen Hünen in die nördlicheren Städte der Union verschlagen. Nun, zwei Jahrzehnte, nachdem die ersten von ihnen Arbeit in den Fabriken oder auf den riesigen Feldern der Großbauern gefunden hatten, begannen die Zwerge allmählich, sie zu akzeptieren – zumindest die Zwerge, die tagtäglich Seite an Seite mit ihnen schufteten. Diejenigen, für die Drúdir Uhren und filigrane mechanische Kunstwerke anfertigte, sahen selten einen Troll aus der Nähe und legten großen Wert darauf, dass es dabei blieb.
Drúdirs Blick kehrte zu Findra zurück. Sie hatte sich von seiner Seite gelöst und war zum Tresen geschlendert. Sie bewegte sich hier mit einer Selbstverständlichkeit, die in verblüffendem Gegensatz zu der steifen Eleganz ihrer Garderobe stand. Was durchaus Sinn ergab, wenn er bedachte, dass sie für die Nordkroner Polizei arbeitete. Von Töchtern reicher Industrieller oder Adliger wurde nur erwartet, einen angenehmen Anblick zu bieten, sich in jeder Gesellschaft elegant zu bewegen und eine angemessene Ehe einzugehen. Die Zwerge der Mittelschicht bemühten sich, dasselbe zu tun. Eine arbeitende Tochter oder Schwester galt als Eingeständnis finanzieller Probleme. Ausnahmen waren nur statusträchtige Betätigungen wie Wissenschaft oder traditionelle zwergische Kunst. Drúdir fand das lächerlich, aber immerhin waren die Zwerge in solchen Dingen immer noch etwas vernünftiger als die Menschen in den Ländern südlich der Union.
Mit zwei kleinen tönernen Bierkrügen in den Händen kehrte Findra zurück und führte ihn zu einem kleinen Tisch, der in der eisigen Zugluft zwischen der Tür und einem offenen Fenster stand und daher bisher leer geblieben war. Drúdir hatte kein Problem damit. Die Müdigkeit machte sich bei ihm bemerkbar und hinter seinen Augen pulsierte ein feiner, stechender Schmerz. Der belebende, kühle Luftzug, der ihm um die Schläfen strich, war ihm nur recht.
Für einige Sekunden, die sich ins Endlose zu dehnen schienen, saßen sie nur da und sahen einander misstrauisch über ihre Krüge hinweg an. Findra holte tief Luft. Drúdir war sicher, dass sie etwas sagen würde, aber stattdessen beugte sie sich zur Seite und kramte in ihrer geräumigen Umhängetasche. Als ihre kräftigen Hände – sechsfingrig, wie es gerade hier im Norden häufig vorkam – wieder zum Vorschein kamen, waren sie um etwas Metallenes gewölbt, als hielte sie einen verletzten Vogel. Behutsam und ohne Eile holte Findra eine fliegende Lampe nach der anderen aus ihrer Tasche und setzte sie auf den Tisch. Greifbarer Beweis ihrer Begegnung in der letzten Nacht, belastend und zugleich ein Friedensangebot.
„Beinahe traurig, dass sie durchgebrannt sind“, sagte sie.
„Ich kann die Glühbirnen austauschen“, entgegnete Drúdir vorsichtig und widerstand dem Drang, die Lampen in seinen Taschen verschwinden zu lassen. Noch immer war ihm beinahe übel vor Anspannung. Doch etwas an dem Respekt, mit dem Findra diese kleinen Maschinen behandelte, auf deren Konstruktion er so viel Zeit verwendet hatte und deren Verbindung zu ihm im magischen Spektrum als breiter Faden aufschimmerte, nahm ihm ein wenig von seiner Beunruhigung. Ein wenig, wohlgemerkt.
„Ich möchte mich entschuldigen“, sagte sie. „Ich habe Sie in der Nacht … tun sehen, was Sie getan haben, und bin wohl ein wenig in Panik geraten. Ich wusste nicht, wie Sie auf meine Anwesenheit reagieren würden, und bin auf Nummer sicher gegangen. Selbstverständlich hätte ich nur im äußersten Notfall geschossen.“
Natürlich konnte sie es sich leisten, sich großmütig zu entschuldigen, dachte Drúdir grimmig. Sie war es nicht, die am Schauplatz eines Mordes bei einem obskuren magischen Ritual ertappt worden war. Er wusste noch nicht einmal, was für einen schaurigen Anblick er geboten haben mochte, während sich die Magie in Schattenranken um ihn herum manifestierte und Eiskristalle seinen Mantel überzogen. Und hatte er nicht aus dem Augenwinkel zwei geisterhaft bläulich-weiße Punkte gesehen? Waren das etwa seine Augen im Spiegel gewesen? Götter, er konnte froh sein, dass sie nicht sofort geschossen hatte! Angesichts des angsterfüllten Aberglaubens, der Magie im Allgemeinen und jeden Zauber, der mit den Toten zu tun hatte im Besonderen umgab, musste sie eine sehr mutige Frau sein, um sich auf diese Konfrontation mit einem vermeintlich mächtigen Magier einzulassen.
„Ich hätte vermutlich ganz ähnlich reagiert“, gestand er ein, jedoch ohne die abweisende Maske fallen zu lassen, zu der sein Gesicht geworden war. Sie hatte vielleicht seinen Respekt verdient, aber bis auf Weiteres weder Vertrauen noch übermäßige Freundlichkeit. „Wollen Sie mir vielleicht sagen, warum wir hier sind?“, fragte er.
Findra seufzte. „Glauben Sie es oder nicht, aber ich bin wirklich interessiert daran, herauszufinden, warum Fragar sterben musste. Und wenn Sie getan haben, was ich glaube, dass Sie getan haben, geht es Ihnen ganz ähnlich.“
Drúdir beschloss, sie auf die Probe zu stellen. „Was glauben sie denn, was ich getan habe?“
Findra biss sich auf die volle Unterlippe. „Äh … Nekromantie?“ Wahrscheinlich kam sie sich gleichzeitig kühn und lächerlich dabei vor, es auszusprechen.
Drúdir widerstand mühevoll dem Drang, den Kopf auf die zerkratzte Tischplatte zu hämmern. Er hasste dieses Wort. Es weckte vollkommen falsche Vorstellungen … oder gar keine, wenn er in Bezug auf Findra richtig vermutete. Höchstwahrscheinlich ahnte sie, dass sein Zauber etwas mit dem Zwerg zu tun hatte, der an jener Stelle gestorben war und konnte dies mit einem in einem Groschenroman oder schlechten Historiendrama aufgeschnappten Wort in Verbindung bringen. Doch da würden ihre Kenntnisse schon enden.
„Der Begriff bereitet Ihnen Unbehagen“, bemerkte sie.
Drúdir seufzte. „Wenn Sie ‚Nekromant‘ hören, denken Sie wahrscheinlich an einen Verrückten in schwarzer Kutte, der auf Friedhöfen herumschleicht und leise vor sich hin kichert, während er perverse Experimente oder die Ergreifung der Weltherrschaft plant.“
„Und das trifft nicht zu?“ Natürlich wollte sie ihn mit diesen Worten provozieren. Und natürlich schaffte sie es.
„Wenn Sie das glauben, was die Autoren dieser Groschenheftchen Ihnen weismachen wollen, staune ich, dass man Ihnen einen Mordfall übertragen hat“, fauchte er.
Sie hob eine Augenbraue. „Wie sieht die Realität denn aus?“
Wieder stürzten die Erinnerungen an Fragars Tod auf ihn ein. Und die an die Tode seiner Eltern. Und die an den des unbekannten Unfallopfers, dessen Erinnerungen er versehentlich in sich aufgenommen hatte. Und die an die überfahrene Katze. Und natürlich an all die wunderschönen, gefährlichen Ornamente aus Schmerz und Tod, die wie scharfzackige Sterne in der Magie um ihn herum schwebten. Fragar und seine Freunde hatten in ihrer mit unbeholfenem Mitgefühl kaschierten Begeisterung nie begriffen, was Drúdirs Gabe wirklich bedeutete.
„Unangenehm“, sagte er knapp.
Dann brach es aus ihm heraus: „Sie fragen sich, warum ich über das MEMENTO MORI gelacht habe? Weil ich nun wirklich der Letzte bin, der diese Erinnerung braucht. Ich sehe den Tod überall, vor allem, wenn er überraschend und qualvoll kommt. Ich habe Fragars Tod erlebt, als wäre er mein eigener! Falls Sie geschichtlich bewandert sind, kennen Sie vielleicht die eine oder andere Geschichte über die Macht der Nekromanten von einst. Glauben sie sie nicht! Welche Macht auch immer in den Fragmenten ermordeter Seelen liegt: Wer bereit ist, den Preis dafür zu zahlen, ist nicht bei klarem Verstand!“
„Oh …“ Sein Ausbruch ließ sie verblüfft und verlegen zurück, was ihm eine gewisse Befriedigung verschaffte. Natürlich nicht genug, um seine Scham zu überdecken, oder auch nur das Erstaunen über sich selbst. Der nächste Moment der Überraschung folgte auf dem Fuß. Zuerst spiegelte ihr Gesicht Distanz und Ablehnung, aber dann trat auch so etwas wie aufrichtiger Respekt in ihre Augen. „Ich bin beeindruckt, dass Sie das für Fragar auf sich genommen haben.“
„Ich war es ihm schuldig.“
Sie nickte. „Auch ich schulde Fragar etwas.“
„Tun Sie nicht so, als würde er Ihnen etwas bedeuten.“
Nun war sie es, die ihn anfauchte: „Er bedeutet mir genug, um meinen Beruf für ihn zu riskieren. Und wenn Sie irgendetwas über meine Situation wissen würden, wüssten Sie, was das heißt.“
Ihre Feindseligkeit erleichterte Drúdir auf sonderbare Weise. Sie stellte die Distanz wieder her, die er mit seinem Eingeständnis so jäh verringert hatte.
Eine Weile starrten die beiden Zwerge einander mit ausdruckslosen Gesichtern an, dann griff Findra nach ihrem Bierkrug und nahm einen langen Zug. „Haben Sie etwas gesehen, was mir bei den Ermittlungen weiterhelfen könnte?“
Drúdir hob eine Augenbraue. „Mir?“
„Haben Sie etwas gesehen?“ Ihre Stimme war halb ungehalten, halb flehend.
Drúdir seufzte. „Zuviel. Und gleichzeitig kaum etwas Nützliches.“ Es war die Wahrheit – so viel davon, wie er im Augenblick zu teilen bereit war. Es widerstrebte ihm zutiefst, Findra ins Vertrauen zu ziehen, umso mehr, da es hier nicht nur um ihn ging.
Seine Nachforschungen würden ihn tief in das verworrene Beziehungsgeflecht des Netzwerks führen. Und obwohl er viele Standpunkte seiner Mitglieder nicht teilte, wünschte er keinem von ihnen – na schön, fast keinem – den Besuch der nicht gerade für ihr Feingefühl bekannten Nordkroner Polizisten. Zwar war niemand von ihnen je so dumm gewesen, sich beim Praktizieren von Magie ertappen zu lassen, aber zum Netzwerk gehörten auch hochrangige Politiker und Zwerge wie Wisdrin, die es sich nicht leisten konnten, mit Magie in Verbindung gebracht zu werden. Zu lebendig war die Erinnerung daran, wie diese während der präindustriellen Zeit und der Magierkriege missbraucht worden war.
Auch Findra stieß gereizt die Luft aus. „Hören Sie zu, Hexerei ist nicht die Methode meiner Wahl, aber wenn Sie ihren … Zauber schon einmal gewirkt haben, machen Sie das Beste daraus, indem Sie mir erzählen, was Sie gesehen haben. Sie können etwas Gutes bewirken, wenn Sie der Polizei helfen.“
„Als ob irgendjemand die Hilfe eines Nekromanten akzeptieren würde. Sie erinnern sich: Kutten und Gekicher. Viel Spaß dabei, das Ihren Kollegen zu verkaufen.“
„Ich frage nach Ihrer Hilfe – und biete meine an. Und wenn Fragar Ihnen wirklich am Herzen lag – und angesichts dessen, was Sie auf sich genommen haben, um etwas darüber herauszufinden, bin ich davon überzeugt – werden Sie sie annehmen. Sie werden bei all ihren Fähigkeiten nicht weit kommen, ohne die Hilfe von jemandem, der weiß, wie man eine Mordermittlung führt.“
„Sie sprechen auffallend oft nur von sich. Was ist mit der ganzen Nordkroner Polizei, die eigentlich dabei hinter ihnen stehen sollte?“
Findra presste die Lippen zusammen und in ihren Augen glomm Zorn, der sich ausnahmsweise nicht gegen ihn richtete. „Sagen wir es so: Die gesamte Nordkroner Polizei – oder zumindest der Mann, dem sie untersteht – nimmt ihre Pflichten, was diesen speziellen Fall betrifft, nicht sehr ernst.“
„Mit Ausnahme von Ihnen?“
„Genau. Mit Ausnahme von mir, die ich, nebenbei gemerkt, für dieses bisher ziemlich unergiebige Treffen ein verdammt hohes Risiko eingehe.“
„Und genau das verstehe ich nicht. Ich habe gehört, bei Ihnen stapelten sich die Akten ungelöster Fälle. Warum gehen Sie nicht einem von denen nach?“
„Haben sie mir nicht zugehört? Wahrscheinlich bin ich aus irgendeinem Grund besessener von Fragars Tod, als mir guttut, aber es geht hier nicht nur um ihn. Wenn ich herausfinde, warum er gestorben ist, weiß ich auch, was meinen Vorgesetzten – einen bisher als absolut integer bekannten Zwerg – dazu bringt, durch nahezu komplett unterlassene Ermittlungen womöglich einen Mörder davonkommen zu lassen … und mir mit einer Versetzung in ein Kaff an der Grenze zu den Trollländern zu drohen, wenn ich mich weiter damit beschäftige.“
Drúdir beugte sich vor. „Das heißt …“
„Fragar wurde womöglich mit dem Segen von jemandem ganz oben getötet.“
„Aber … warum?“ Drúdir hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, als er den quengeligen Klang seiner Stimme hörte.
Findra zuckte die Achseln. „Das werde ich wohl nie herausfinden, wenn Sie mir nicht verraten, was Sie wissen.“
Drúdirs Schultern sackten nach unten, als er eine Entscheidung traf. Wahrscheinlich war es ihre Isolation, die ihn für sich einnahm, obwohl sich in jedem ihrer Blicke all die Ablehnung und Angst zu spiegeln schienen, die sich die Magier Kiarvas in Jahrhunderten der Gewaltherrschaft erarbeitet hatten. Und der Fakt, dass sie recht hatte. Allein würde er nicht weit kommen. „Ihr arbeitet doch mit den Paranoikern von der Spionageabwehr zusammen, oder?“
Findra biss sich auf die Lippen – diesmal eher verlegen. Die Spionageabwehr der Union hatte ein gewichtiges Problem: Es konnte bei ihr nicht von einer Organisation die Rede sein, sondern vielmehr von unzähligen regionalen Vereinigungen, die einander fast noch mehr misstrauten als den Ausländern, auf die sie eigentlich ein Auge haben sollten. Informationen wurden widerstrebend und unvollständig weitergegeben … oder nur über die Lecks, die sich trotz der Geheimhaltungsbemühungen häuften. Die misstrauischeren Zwerge gingen beinahe alle davon aus, dass es irgendwo noch eine wirklich ernstzunehmende Organisation gab, der die Stümperei der offiziellen Spionageabwehr als Tarnung diente.
„Vor vielleicht fünfzehn Jahren ist ein gewisser Kargan hergekommen und hat hier fünf Jahre lang als Lehrling bei Fragar gearbeitet. Es wäre vielleicht keine schlechte Idee, herauszufinden, ob es eine Akte über ihn gibt.“
Kapitel 6
Phandrael
Phandrael war sich der Augen bewusst, die ihm durch die hohen Gänge folgten. Höflinge – oder Abgeordnete, wie sie neuerdings hießen, aber letztlich waren sie doch nur Shideris‘ Marionetten – wandten die Köpfe, als er vorbeiging. Der hochgewachsene Elf konnte sich ihre Mienen gut vorstellen, die plötzliche, angespannte Missbilligung, die in ihre Züge trat. Er war anders als sie und dachte keinen Augenblick lang daran, das zu verbergen, nur um ihnen ihr vergeblich von Verachtung kaschiertes Unbehagen zu nehmen.
Statt sie oder die ihn umgebende Pracht auch nur eines Blickes zu würdigen, hielt er die Augen auf den schmalen, hochaufgerichteten Rücken der Dalanah gerichtet, die ihn führte. Jedes Mal, wenn sie eines der wunderschönen Buntglasfenster passierten, wurde ihr blütenweißes Gewand von farbigem Licht übergossen. Es war so lang, dass es hinter ihr einen Schritt weit über den Boden schleifte und ihre Bewegungen darunter waren so fließend, dass sie auch ein paar Millimeter über dem Boden hätte schweben können. Im Gegensatz zu der nachlässigen, übernatürlichen Anmut von Phandraels Bewegungen war die zurückhaltende Eleganz ihres Ganges genauso Ergebnis eiserner Disziplin wie die Makellosigkeit ihrer Kleidung und Frisur.
Es dauerte Jahre, zu einem Dalanon der Königin zu werden. Aus gutem Grund. Diese von einer Aura unnahbarer Perfektion umgebenen Elfen waren keineswegs einfache Diener, sondern Sekretäre, Leibwächter, Boten und teilweise sogar enge Vertraute der Königin. Diskret, effizient und, sollte es nötig werden, absolut tödlich. Im Gegensatz zu den meisten war Phandrael von diesem letzten Aspekt nicht weiter eingeschüchtert. Die Pagen waren ihm aus einem anderen Grund unheimlich: Mit ihren langen, makellosen Gewändern, den einstudierten Bewegungen und tadellosen Umgangsformen wirkten sie wie einer anderen Zeit entsprungen – jener Zeit, in der der gesamte Palast erstarrt schien.
Gewiss, die Elfen Cirdayas mochten die Entwicklungen auf dem Festland voller Aufmerksamkeit verfolgen, aber sie weigerten sich, darauf zu reagieren. Ganz so, als wollten sie nicht wahrhaben, dass ihre seit Jahrtausenden überlieferte Kultur keinen Platz in diesem neuen Kiarva hatte. Ihre selbstgewählte Isolation war nichts weiter als ein Versuch, das Unvermeidliche aufzuhalten.
Phandrael und die Dalanah passierten ein Paar vollkommen regloser Dalanai. Auch sie trugen weiße Gewänder mit breiten Schärpen, nur fielen ihnen diese gerade einmal bis zu den Knien. Die breiten, schwarzen Gurte, die je einen Dolch, ein Kurzschwert und ein Zwillingspaar Pistolen hielten, hoben sich deutlich von dem makellosen Weiß ab. Ihre Gesichter verschwanden unterhalb der Augen unter dunkelroten Schleiern, die im Nacken kunstvoll mit ihrem Haar verschlungen waren.
Keiner von ihnen machte Anstalten, sie aufzuhalten. Gewiss hatte Shideris sie angewiesen, ihn passieren zu lassen. Ob ihnen dies gefiel, war eine andere Frage. Er machte bereits Elfen nervös, die es nicht gewohnt waren, in jedem Neuankömmling eine potenzielle Gefahr zu sehen. Phandrael verkniff sich ein Grinsen bei der Vorstellung, sie anzugreifen. Er hatte es so selten mit echten Herausforderungen zu tun …
Während die Dalanah, die ihn hergebracht hatte, an die geschlossene Tür am Ende des Ganges klopfte und ihn mit leiser, melodischer Stimme ankündigte, glättete er seinen Frack. Er mochte die menschliche Mode, die – von der traditionellen Kleidung der Palastangestellten einmal abgesehen – mit einigen Veränderungen ihren Weg selbst nach Cirdaya gefunden hatte. Es war die Kleidung von Geschöpfen, die entschlossen waren, diese neue, schnelle Welt mit ihren Maschinen und Telegrafenmasten, Eisenbahnschienen und neuen Regierungsformen mitzuformen.
„Ihr könnt nun eintreten, Sir Phandrael“, sagte die Dalanah. Schlanke, weiße Finger wiesen auf die geöffnete Tür. Phandrael deutete ein Nicken an und folgte ihrem Wink.
Das Spiegelbüro trug seinen Namen zu Recht. Über den brusthohen Aktenschränken waren die Wände zu beiden Seiten mit grauer, von filigranen, dunkleren Ornamenten geschmückter Seide überzogen, auf der winzige Spiegel schimmernde Akzente setzten. Die zierlichen Möbel – organisch wirkende Strukturen aus Holz und Metall, die Glasplatten oder seidenbezogene Polster trugen – setzten das an winterliche Zweige erinnernde Motiv fort. Doch jeder Gedanke an die Einrichtung war vergessen, als er die Elfe ansah, die ihn schweigend erwartete. Das Licht, das hinter ihr durch das große, weiße Rosettenfenster strömte, ließ sie zunächst nur als schmale Silhouette erkennen.
Shideris – ihr Name weckte beinahe mehr Ehrfurcht als ihr königlicher Titel – war eine bemerkenswert schöne Frau. Ihre großen Augen waren so schwarz, dass es unmöglich war, die Linie zwischen Iris und Pupille zu erkennen – ebenso unmöglich, wie in ihnen so etwas wie Emotion zu lesen.
Phandrael verneigte sich mit seiner üblichen Theatralik, in die man allzu leicht Ironie hätte hineindeuten können. Dabei ergriff ihn bei ihrem Anblick tatsächlich Ehrfurcht. Für die meisten Elfen war Shideris die Frau, die Cirdaya durch eine Mischung aus großem politischen Geschick und verblüffender Rücksichtslosigkeit zu einem reichen, friedlichen Land gemacht hatte. Auch Phandrael respektierte sie dafür. Aber aus einem anderen Grund noch mehr.
„Majestät“, grüßte er.
„Phandrael.“ Ihre Stimme war erstaunlich tief für eine so kleine Frau. Für einen Moment stand sie nur da und sah ihn an. Prüfend? Missbilligend? Oder auch nur in Gedanken versunken, die gar nicht ihn betrafen? Phandrael war gut darin, all die Emotionen und Motive zu erkennen, die andere sogar vor sich selbst verbargen, doch was die Königin dachte und fühlte, war ihm immer ein Rätsel geblieben. Glücklicherweise ersparte sie es ihm, den Grund für seine Anwesenheit erraten zu müssen. Shideris kannte das komplizierte Protokoll des elfischen Hofes – und sämtlicher Institutionen aller anderen Staaten – bis ins kleinste Detail, aber im Gespräch mit ihm brachte sie alles direkt und ohne Verzögerung zur Sprache. So brach sie auch jetzt ihr versonnenes Schweigen, indem sie ein Blatt Papier vom Schreibtisch griff und ihm zeigte. „Erinnerst du dich an diesen Mann?“ Phandrael studierte die Bleistiftskizze. Das meisterhaft ausgeführte Portrait zeigte einen jungen Elfen mit schulterlangem, hellem Haar und intelligenten Augen. In seinem Blick lag etwas, das jeden Betrachter auf Distanz hielt. Ein Mann ohne besondere Kennzeichen. Nur, dass Phandrael diesen speziellen Mann ohne besondere Kennzeichen kannte. Zumindest oberflächlich.
„Valedas, nicht wahr?“, fragte er, obwohl er sich des Namens sicher war.
„Ja, Valedas. Einer deiner Drasirai-Brüder, und doch deutlich mehr als das.“
„War er ein Naturtalent?“ Phandrael hielt seine Stimme bewusst neutral.
„Genau. Seine Begabungen sind durch die Initiation nur verstärkt worden. Aber ich fürchte nicht seine Magie, sondern die Informationen, über die er verfügt. Seine Intelligenz und seine Überzeugung, besser als jeder andere zu wissen, was zu tun ist – und notfalls andere zu ihrem Glück zu zwingen. Ganz zu schweigen davon, dass er die eine oder andere unselige Allianz geschlossen haben könnte.“
Es dauerte ein wenig, aber als Phandrael die Wortwahl der Königin auffiel, blickte er beinahe erschrocken auf. Hatte Shideris gerade tatsächlich „fürchte“ gesagt?
„Wo ist er jetzt?“
„Ich weiß es nicht.“ Shideris sprach mit der Lässigkeit einer Herrscherin, die wusste, dass sie sich dieses Eingeständnis leisten konnte. Es geschah selten, dass sie etwas nicht wusste. „Aber“, fuhr sie fort, „es gibt gewisse Hinweise auf seinen Aufenthaltsort. Ich möchte, dass du ihn findest. Dass du herausfindest, was er tut, warum und für wen. Und dass du, sollte es unseren Interessen zuwiderlaufen, dafür sorgst, dass es ein Ende findet. Dauerhaft.“
Phandrael konnte nicht verhindern, dass sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen. Valedas hatte ihm nie Grund zur Abneigung gegeben, aber das bereitete ihm keinerlei Gewissensbisse. „Ich soll also einen Drasirai-Bruder mit angeborenen Kräften jagen, ausspähen und notfalls töten?“
„Das waren meine Worte.“
Die Augen des Drasiron leuchteten auf.
„Wenn auch nur ein Bruchteil dessen, was ich befürchte, wahr ist, kann ich nicht riskieren, dass du scheiterst. Du wirst eine weitere Drasirah mitnehmen. Kyrai.“
Phandrael neigte den Kopf, obwohl ihm der Gedanke missfiel. Er kannte diese Kyrai nicht, aber viele seiner Brüder und Schwestern waren entsetzlich konservativ. Seine Einstellung machte ihn selbst unter seinesgleichen zu einem Außenseiter. Aber noch mehr als die Frage, wer ihn wohl begleiten würde, beschäftigte ihn, wie vage Shideris geblieben war. Mit Sicherheit würden er und seine Gefährtin alle Details erfahren, die sie brauchten, um ihre Mission zu vollenden. Aber über die Hintergründe informierte Shideris sie meist im direkten Gespräch. Wenn sie nun schwieg, würde sie es wohl für immer tun. Es würde ihn nicht um den Schlaf bringen, doch er hätte gerne mehr gewusst.
Shideris wandte sich ab. Die Königin blickte aus dem Fenster, als habe sie seine Anwesenheit vollkommen vergessen. Der tiefe Rückenausschnitt ihres Kleides offenbarte viel blasse, makellose Haut, und – nur eine Nuance dunkler – ein verschlungenes Symbol auf ihrem linken Schulterblatt. Es bog die Magielinien nicht, wie die Tätowierungen einer Drasirah es tun würden, aber es war zweifellos ein Dryadenmal – das allererste Zeichen des Bundes, den die Königin eingegangen war, um denen, die den Preis dafür zu zahlen bereit waren, die Magie von einst zu erschließen … oder zumindest einen erbärmlichen, aber dennoch berauschenden Rest davon.
Er fragte sich, wieso Shideris für die Audienz gerade dieses Kleid gewählt hatte und ihre Tätowierungen nicht wie sonst verbarg. War dies eine Botschaft an ihn? Eine Mahnung, dass er seine Macht und Stellung ihr verdankte? Oder aber war es ein Zeichen ihrer Verbundenheit zu den Drasirai? Ein Bekenntnis zu der Magie und den Ideen, die sie gemeinsam verteidigten?
Noch eine dieser Fragen, über die er nachdenken konnte, oder auch nicht. Viele unterstellten ihm, ein Mann ohne Moral zu sein, der nur an sein eigenes Vergnügen dachte, aber das stimmte nicht. Was er im Dienst der Königin tat, stand im Einklang mit seiner Idee eines Cirdaya, das seinen Weg in das Zeitalter der Technik fand, ohne etwas von seiner Macht oder Kultur einzubüßen. Eines Leuchtfeuers, das den anderen Kiarvanern einen Weg wies, sich von den einzigen beiden Dingen zu befreien, die Phandrael als Sünden gelten ließ: Stumpfsinn und Hässlichkeit. Soweit seine Ideale.
Aber Phandrael war auch ein ehrlicher Mann. Er mochte über den Kontext seiner Missionen nachdenken, aber er leugnete nicht, dass für ihn vor allem eines zählte: Die Herausforderung und das vielschichtige Vergnügen, was er daraus bezog. Der Rausch, den er als einer von wenigen Elfen zu umarmen wusste.
Als habe sie sich plötzlich an seine Anwesenheit erinnert, reichte Shideris ihm einen dicken, versiegelten Umschlag, den Phandrael umgehend in seiner Innentasche verschwinden ließ. „Du dürftest Kyrai um diese Zeit bei ihr zu Hause finden“, sagte sie.
Kein Wort der Entschuldigung dafür, dass sie ihn minutenlang ignoriert hatte. Wieso auch? Natürlich maß sie dem Gedanken, der sie gerade abgelenkt hatte, mehr Bedeutung zu als seinem Höflichkeitsempfinden.
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