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EINE SCHÖNE UND
KARGE WELT

Leben in Pätzig 1918 bis 1945

Die ersten drei Monate unserer Ehe verliefen hinreichend ruhig, weil Herr und Frau Claus seit Beginn des Ankaufs von Pätzig (1895, soviel ich weiß) dort vorzüglich gewirtschaftet und das Dorf in jeder Hinsicht gut geführt hatten. Danach zogen sie nach Bad Schönfliess, unserer Bahnstation in 8 km Entfernung. Wir nutzten diese Zeit mit den beiden als Lehre und waren froh, diesen bewährten und taktvollen Persönlichkeiten zunächst die Verantwortung überlassen zu können. Eine bis zuletzt währende Freundschaft zu dem Ehepaar Claus blieb uns aus dieser glücklichen Lehrzeit. Unsere Kinder besuchten sie hin und wieder in ihrem Haus und Garten, und bei jeder Gelegenheit erzählten sie diesen, was für »herrliche Eltern« sie hätten. Aus so gutem Munde erregte dies merkwürdigerweise wohl keinen Widerspruch. Da Hans in seinen Erinnerungen von Claus berichtet, will ich hier nur Folgendes festhalten. Es sind die beiden letzten Begegnungen mit ihnen nach 27-jähriger Freundschaft. Bei einer nächtlichen Geschäftsfahrt im Winter 1943/​44 kam ich an dem Anwesen von Claus vorbei. Ich weiß nicht, was mich trieb, zu dieser unmöglichen Stunde um zwei oder drei Uhr nachts dort anzuklopfen. Es war gerade der ehrwürdige Freund vor einer Stunde gestorben. Ich fand seine Frau in todtrauriger Verlassenheit vor. Und ein Jahr später auf der Flucht, es war am Morgen des 1. Februar 1945, klopfte ich wieder in der Nacht an die Tür dieses Hauses.

Das Ehepaar Claus nimmt einen sonderbaren Platz zu Beginn und am Ende der 27 Jahre ein, in denen wir Pätzig bewirtschafteten. Rückblickend scheint es mir, als bilde das Dasein dieser schlichten und klugen Menschen für uns einen Rahmen, der diese Zeit liebend umschloss.

Darum lasst mich, so knapp, wie es mir möglich ist, etwas über das Ende von Pätzig sagen. Am 28. 1. 1945 hatte ich mich von allen meinen in Pätzig noch verbliebenen Allernächsten getrennt und sie in einem Treckwagen über die Oder in den Westen geschickt. Ich selbst wollte den Treck für die gesamte Belegschaft vorbereiten. Als dieser unter heftigen Androhungen der nationalsozialistischen Partei verboten wurde, war mir der Entschluss, die Russen in Pätzig zu erwarten, eine Selbstverständlichkeit. Man hörte am 29. 1. bereits den herannahenden Kanonendonner. Nach zweieinhalb chaotischen Tagen, überschwemmt mit Ostflüchtlingen, bedroht von aufgeregten Befehlen der Funktionäre zur Verteidigung von Pätzig, trafen mittags 100 russische Panzer und ebenso viele Trosswagen im Dorf ein. In diesem Moment wurde ich ins Bauerndorf gerufen. Man sagte mir, dass eine Ostflüchtlingsfrau sich und ihren zwei Kindern aus Angst vor den herannahenden Russen die Pulsadern aufgeschnitten habe. Als ich mit den Druckverbänden fertig war, stand vor dem Haus ein Panzer mit zwei Soldaten, die Pelzmützen trugen. Ich ging vorbei und fand zu Hause viele Flüchtlinge, die fortgesetzt Essen, Wohnung und Schlafgelegenheit brauchten. So verging der Tag chaotisch, und ich versäumte das Wichtigste: die Hähne der Brennerei zu öffnen und die gerade zum Monatsschluss angefüllten Alkoholreserven ablaufen zu lassen. Ebenso wichtig wäre es gewesen, die über 100 Zentner Esserbsen auf dem Speicher an die Belegschaft zu verteilen.

Die Russen besetzten die Dorfeingänge, trieben ihr Wesen in Pätzig und ließen mehrere Formationen hindurchfahren. Abends um sieben Uhr hatte mich Herr Döpke nach unermüdlichen Versuchen davon überzeugt, dass ich das Haus sofort verlassen müsse.

Ich veranlasste die Mädchen, die im Dorf Verwandtschaft hatten, sofort dorthin zu gehen, und Höhnschen und Donti [s. S. 68], mit Marschgepäck zur Gärtnerei zu flüchten. Ich sagte: »Augenblicklich«, und sie taten es. Harro ließ ich frei. Das Haus war noch nicht umstellt, wie wir es aus allerlei Anzeichen befürchtet hatten. Wir trafen an der Gärtnerei zusammen. Ich schickte die beiden Alten hinein. Sofort begann der Panzerbeschuss am Hofeingang in Richtung auf das Gutshaus, wie mir später gesagt wurde. Während dieser Schüsse gab es einen kurzen Disput mit Herrn Döpke. Er wollte durchaus, dass ich mit ihm floh, aber ich musste es ihm abschlagen. Meinen flehentlichen Bitten zufolge ging er schließlich allein los. Er hatte nur eine etwas dicke Brusttasche und sonst nichts in den Händen. Ich sehe ihn noch die Fohlenkoppel in Richtung Stolzenfelde hinunterlaufen und war dankbar, dass er gerettet war.

Die nächsten Stunden verbrachte ich im Schulhaus. Es begann eine lange, heiße Diskussion mit dem treuen Freund Starke, an deren Ende er sich überwunden hatte, nunmehr Pätzig auch zu verlassen. Er setzte voraus, dass ich im Dorf allenthalben unterkommen könnte. Aber schließlich meinte er: »Glauben Sie, dass es Ihren Wohltätern den Russen gegenüber gut bekommen wird, wenn man Sie bei ihnen entdeckt?« Das überzeugte mich. Ein federleichter Rucksack wurde gepackt, der mir zu laufen erlaubte, und ein Laken zerrissen zur Tarnung im Schnee, von dem die Landschaft bedeckt war. Fräulein Wild, meine Sekretärin, hatte Mut und bewährte sich auf der Flucht als vorzüglicher Kamerad. Starkes gaben mir großherzig, was ich brauchen konnte, vor allem eine Generalstabskarte und Lichtstummel mit Zündhölzern. Um zwölf Uhr nachts waren wir fertig. Noch ein Abendgebet mit diesen Nächsten, dann der zentnerschwere Abschied. Der Kummer darum, dass ich diese mir nahen Menschen verließ, hat Jahre an mir genagt.

Wir umgingen die Dorfausgänge, liefen durch Starkes Garten, durch den Pfarrgarten, über die Achterhöfe und Wiesen zur Chaussee nach Stolzenfelde. Als wir auf zehn Schritt heran waren, nahten sieben Flakgeschütze von Schönfelde. Durch die weißen Laken waren wir zum Glück aber ausreichend gedeckt. Wir überliefen sehr schnell die Straße, überquerten wahrscheinlich den Mühlenweg an der Stelle, wo Prochnow vier bis fünf Stunden vorher von den Russen festgenommen worden war. Wir standen auf Schlag 2, als die Geschütze das Feuer auf Pätzig eröffneten. Das Dorfbild verzerrte sich vor meinem inneren Auge. Unsere schöne reiche Welt Pätzig lag hier unter diesem Kanonendonner in ihren Todeszuckungen. Sie veränderte sich völlig. Sie starb. Das erleichterte den Abschied.

Wir suchten unseren Weg, allen Stellen ausweichend, wo wir einen Posten vermuten mussten. Diese Umgehung gelang, auch die Umgehung der schon besetzten Dörfer, die vom Angstgeschrei widerhallten. Beim Kartenlesen ging die Kerze wegen des Regens aus. Wir verirrten uns gründlich und kamen gegen fünf Uhr morgens etwa fünf Kilometer zu weit östlich in Bad Schönfliess an. Dankerfüllt hörten und erspähten wir, dass hier noch Ruhe herrschte. Und plötzlich standen wir vor der rettenden Tür von Frau Claus: durchnässt, mit durchgelaufenen Füßen und traurig. Ihr Erbarmen umfing uns. Sie zündete den Ofen an, gab uns Warmwasser und für Hände und Füße Pflaster. Ihres Mannes handgestrickte Strümpfe waren wohltuend. Indessen hatte sie den Kaffee gekocht. Und schon lief sie, um einen Pferdewagen für uns zu gewinnen, damit wir eilig weiterfliehen konnten. Nach einer halben Stunde waren wir unterwegs. Wir hatten noch 25 km in westlicher Richtung vor uns, über unsere Kreisstadt Königsberg/​Neumark hinaus bis an die Oder. Eine halbe oder eine Stunde nach uns haben die russischen Verbände die Kreisstadt Königsberg erreicht. Wir gewannen die Oderbrücke bei Zäckerick, die jetzt von den Funktionären zur Passage freigegeben und von den Russen noch nicht besetzt war. Von Frau Claus ging an diesem düsteren Morgen eine tröstende Kraft aus. Alle Sorge war dahin. Ich hatte Pätzig begraben. Alle Kräfte und alle Hoffnungen streckten sich nach vorn.

Zurück zu den Jahren in Pätzig. Unser Anfang im Winter 1918 fiel in eine Zeit revolutionären Erwachens unter der Landarbeiterschaft. Glücklicherweise hatte sich Vater Claus einen guten, langjährigen Arbeiterstamm herangezogen. Die schwierigen Menschen stammten zumeist aus spät zugezogenen und darum noch nicht eingewurzelten Familien. Zwei verbitterte und als Kommunisten zurückgekehrte Kriegsteilnehmer, Wandt und Hoffmann, drangen mit unverschämten Forderungen und frechen Redensarten auf den seinen Weg beginnenden und darum noch tastenden Landwirt und Gutsherrn ein. Ich hörte noch die Rede des einen: »So elegant und so bequem möchte ich auch wohnen wie Sie hier!« Wir irrten damals mit unseren wenigen Klamotten von einer Stube des verwohnten und durch Nässe geschädigten Hauses in die andere, weil die Handwerker allenthalben im Haus werkten. Unbekümmert um die rote Stimmung im Dorf baute sich Hans sein Haus gründlich um und machte es wohnlich und brauchbar. Kapitalistische Ängste, um derentwillen man vernünftige Maßnahmen unterließ, kannte er nicht.

Hans versuchte, diese Familien los zu werden. Das war damals äußerst schwierig. Schließlich hat er den beiden, die am meisten Schwierigkeiten bereiteten, andere Wohnungen im Kreis besorgt. Die Umzugswagen standen vor der Tür. Aber keiner der zuschauenden Leute fasste ein Stück an, um aufladen zu helfen. Wandt war zwar nicht groß, aber ein massiver Bursche, ein Schrank. Mit zornglühenden Augen hielt er alle in Bann. Als Hans mit Fritz Kemmin, seinem damaligen Kutscher, den ersten Tisch hochhob, fiel der Kerl von hinten über ihn her, und keiner half, auch Fritz Kemmin nicht. Vater wehrte sich in großem Zorn, attackierte, und es gab eine richtige Balgerei, bis die Vernunft siegte und die lahmen Zuschauer (wie hab’ ich ihnen dies Zusehen in jugendlicher Unerfahrenheit übel genommen!) endlich die beiden Beteiligten auseinanderrissen. Sofort danach wurde aufgeladen. Hans hat nicht nur nie wieder Tätlichkeiten erlebt, sondern er hatte auch nach der Entfernung der unguten Burschen das Spiel gewonnen.

Vielleicht zehn Jahre später meldete sich eines Tages dieser Wandt bei Hans. Es war kaum zu glauben, er bat Hans um Entschuldigung und hatte Tränen in den Augen. Er sagte etwa, er habe später eingesehen, wie gut er es in Pätzig hätte haben können. Er wollte wirklich gar nichts weiter von uns. Das hat uns sehr bewegt.

Wir hatten mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Aber das berührte uns relativ wenig. Wir waren über alle Bäume verliebt und glücklich. Hans erzog sich seine Frau zur Landfrau, zum Jagdkumpan und Mitreiter. Durch jahrelange sitzende Arbeit war ich körperlich schlapp. Er trainierte mich, ohne dass darüber geredet worden wäre, geduldig und stetig, und die Regel war, dass ich konnte, was er wollte. »Du trampelst beim Pirschen«, höre ich ihn noch sagen. Also lernte ich sehr bald leise und rasch gehen. Ich war, obgleich halb Land-, halb Stadtkind, völlig pferdeunerfahren. Die erste Pätziger Rundfahrt mit den beiden Müttern wurde für mich eine Blamage. Beim Einfahren in die Höllenberge links warf mir Hans abspringend die Zügel zu, um das Tor zu öffnen. Die Pferde zogen gewohnheitsmäßig an, ehe ich mich mit den Doppelleinen zurechtgefunden hatte, und ein Torpfosten musste daran glauben, sodass die beiden Damen sehr erschraken.

Bald wurde ich indessen gelehrt, die Steilhänge in den Höllenbergen aufwärts und abwärts mit zwei Pferden zu bestehen. An zwei Stellen standen die Gattertore unmittelbar unterhalb des Hanges im rechten Winkel. Hans lief vor, um zu öffnen, und ich musste mit den Pferden weichmäulig herunterkommen, wenn nichts passieren sollte. Er traute mir fortlaufend mehr und Schwereres zu und zeigte nie eine Spur von Angst um mich. Ob er sie nicht doch empfand? Aber er animierte mich auf diese Art und stärkte meinen Mut.

Aus der Freundschaft mit Karl Bernhard Ritter7, die in den allerersten Ehejahren mit jährlichen Sommerbesuchen verbunden war – für uns beglückend und förderlich –, entstand die Öffnung unseres Hauses für die jährlichen Arbeitstagungen der Michaelsbrüder8. Hans fühlte sich immer wohl zwischen seinen Michaelsbrüdern. In diesem Interesse und diesem Werk begegnete er Gottfried Bismarck aus Kniephof, dem Vater von Klaus.9 Diese beiden ostelbischen Gutsbesitzer waren es, die an der Gründung und dem Fortgang der Bruderschaft mitwirkten.


Von 1928 bis 1930 tagte die »Berneuchener Konferenz« in Pätzig (v. l. Wilhelm Stählin, Karl Bernhard Ritter, Hermann Schacht, Ludwig Heitmann, Paul Tillich).

Meine Mutter war der Meinung, Frauen sollten bei ihren Ehemännern lieber keine Reitstunde nehmen, das gefährde das Eheklima. Hans gab ohne weiteres zu, ohne Härten ginge es bei Reitstunden nicht ab. Ich machte mich auf allerlei gefasst. Aber er war ein Pädagoge. Er spannte den Johann mit einem ruhigen Ackerpferd zusammen vor den damals schon vorhandenen »grünen Wagen«. Nahe am Schlagbaumweg, wo uns bestimmt niemand finden konnte, suchte er sich eine Blöße, holte die Sättel aus dem Wagen, nahm mich zunächst mit Anbindezügel auf den Zirkel, und sehr bald ritten wir mit dem größten Vergnügen durch den Wald. Das nächste Mal bestieg ich schon auf dem Hof den Johann und kam am Wäschetrockenplatz auf den Zirkel. Das war noch mühsam, und besonders bei der viel später geforderten Führung der Kandarrenzügel10 erklärte ich kategorisch, dies würde ich nun und nimmermehr lernen. Dann konnte er so herrlich beruhigend lachen. Er fand mich fürs Reiten von Natur begabt und freute sich daran, ohne seine Forderungen hochzuspannen. Er wollte, dass ich mich auf dem Pferd wohlfühlte. Reiterliche Raffinessen forderte er nicht, wenn ich nur auffällige Fehler vermied. Dies scheint mir sehr weise und war typisch für seine Fähigkeit, sich zu begnügen und sich die Freude an der Sache nicht durch immer höher und ehrgeiziger gespannte Erwartungen zu verderben. Auf den gemeinsamen Ritten habe ich mich oft beinahe wie im Himmel gefühlt.


Ruth und Hans von Wedemeyer auf dem Wagen: »Meine Mutter war der Meinung, Frauen sollten bei ihren Ehemännern keine Reitstunde nehmen, das gefährde das Eheklima … Wo uns bestimmt niemand finden konnte, suchte er eine Blöße, holte die Sättel aus dem Wagen, nahm mich zuerst mit Anbindezügel auf den Zirkel und sehr bald ritten wir mit dem größten Vergnügen durch den Wald.«

Einmal galoppierte er ziemlich rasant den schmalen Schlagbaumweg entlang vor mir her. Bei der scharfen Rechtskurve zur Tannenbrücke hatte ich nicht rechtzeitig durchpariert, flog links heraus und fand mich mit breiter Platzwunde am Kopf stark »schweißend« am Eingang zum Alicenwerder liegend wieder. Er merkte, dass ich nicht nachkam, galoppierte zurück, zog unverzüglich sein Hemd aus und wickelte es mir als Turban fest und wohltuend um den Kopf. Wir konnten weiterreiten. Ich entsinne mich dieses Rittes mit stark lädiertem Kopf, etwa fünf Kilometer lang, als eines Höhepunktes unseres Glücks.

Über die Jagd gäbe es ein ganzes Kapitel: über die aufregenden Pirschgänge zu zweit, das stundenlange Ausgehen der Saufährten im Schnee, bis der Keiler – oder was es nun war – sich stellte, über die Brunft, die Hauptfestzeit in Pätzig und über die begehrte Hochwildjagd, zu der nur im höchsten Notfall jemand absagte. Wie reizvoll war das Treiben durch den Mittelsee, wie groß unsere Spannung von der Alicenkanzel – wie von einem Beobachtungsstand aus! Hans schickte mich sorglos mitten hinein, um die abgerissene Treiberkette zu flicken und in nassen Jahren den Männern Mut zu »nassen Knien« zu machen, wie er es nannte. Jedes solches Knie wurde zum Frühstück mit einem Schnaps belohnt. Das erste wichtige Treiben durfte nicht misslingen.

Es gab keinen Tümpel, kein größeres Loch oder Sumpfstück auf dem Feld, keinen Waldteil, Werder11 oder Weg, der nicht benannt war. Sein Kutscher, seine Beamten, Meier12, seine Kinder und vor allem seine Frau mussten diese Namen kennen. Die von den Kindern immer heiß ersehnten Fahrten wurden manchmal leicht verdunkelt durch die Plage der fortgesetzten Examina über die Namen. Aber es war in dem stark coupierten13 Pätziger Gelände unerlässlich, damit wir uns nicht missverstanden und dann verfehlten. Wehe, wenn man in solchen Fällen nicht hingehört hatte oder aus Überdruss nicht warten wollte. »Aber Vater, ich dachte doch …« – »Ihr sollt nicht ›dachten‹, sondern denken und tun, was ich Euch gesagt habe. Ihr müsst warten, bis Ihr schwarz werdet.« Warten, bis man schwarz wird – eine eigentlich doppelsinnige Bezeichnung. Es war ein Prinzip, das er seinen Kindern einhämmerte und das sich für alle Teile vorzüglich auszahlte. Es bedeutete, dass, wenn man sich irgendwann einmal verpasst hatte – aus welchem Grund auch immer –, man dort, wo man sich verabredet hatte, auf den anderen wartete, und wenn es Nacht darüber wurde. Falls aber kein bestimmter Punkt verabredet war, besagte diese Regel, dass man sich an der Stelle wieder finden würde, an der man sich zum letzten Mal gesehen hatte.

Zwischen den beiden großen Verleumdungsprozessen in den Jahren 1936/​37 hatte Hans auch innerhalb des Dorfes, z. B. bei der Bauernschaft, Feinde und Schwierigkeiten. Manch einer hoffte, aus seiner gedemütigten Lage Vorteile zu ziehen. So sagte ihm damals einer der Bauern bei einer Verhandlung über jagdrechtliche Streitigkeiten, als alle gegen ihn standen: »Passen Sie gut auf, Herr v. W.!Viele Hunde sind des Hasen Tod!« Darauf Hans: »Wenn die Hunde aber an einen Keiler kommen, so können sie sich erhebliche Wunden zuziehen.« Sprach’s und setzte den vernünftigen Entschluss durch.

Was alles geschieht nicht im Zusammenleben von 20 bis 30 Menschen unter dem Dach eines relativ kleinen altmodischen Gutshauses! Ohne Konflikte und Reibungen kann es doch nicht gehen. Davon zu erzählen würde zu weit führen. Aber eine gemeinsame Ebene hatten wir, auf der alles Kaputte sich gleichsam von selbst wieder zusammenleimte und rangierte. Wer je durch unser Haus gegangen ist, der erinnert sich wohl der morgendlichen Hausandachten. Manch einer mag sich dabei mehr mit dem Teppichmuster befasst haben, ein anderer fühlte sich gestört durch die Unruhe der Kinder, die grundsätzlich in jedem Alter dabei sein durften. Nicht alle Hausgenossen waren immer beisammen. Jeder wusste, dass man wegbleiben und kommen konnte, wie es einem gefiel. Der eine erschien nicht, wenn er übel gelaunt war, und ein anderer, weil er sich nicht genug beachtet fühlte. Aber jeder merkte mit der Zeit, dass er sich beraubte, wenn er sich gewollt ausschloss.

Die Form der Andacht blieb in sachlichem Rahmen und ohne persönliche Aufdringlichkeit. Die gelesenen Auslegungen der Schrift fand Hans zu billig. Oft sei es besser, gar nichts dazu zu sagen. Aber er gab oft einen eigenen Kommentar als Erklärung, und dabei wurde gespannt aufgepasst. Die Gebete waren in der Regel fest geprägt. Unsere Kinder bekamen einen großen Schatz von Kirchenliedern für ihr Leben mit.

Hans legte großen Wert auf diese Basis unseres Zusammenlebens wie auf den Keller eines Hauses. Fensterscheiben können klirren, Türen zuschlagen, ja, Wände eingerissen werden, aber den Keller kann man schlechterdings nicht ausgraben. Ein Wiederaufbau ist immer möglich. Diese durch alle Jahre überlieferte Hausgemeinschaft wurde von vielen als das zentrale Stück unserer Heimat empfunden, auch im Dorf. In der täglichen Stille hat man leben können.

Bis zuletzt haben wir darauf gewartet, eine Kanalisation einzubauen und fließend Wasser in die Zimmer zu legen. Die Geräte dafür lagen im Keller bereit, aber der Kirchenumbau war wichtiger, und dann kam uns der Krieg dazwischen. Die neue Gestalt der Kirche war in langen Jahren ausgeklügelt worden. Dazu muss ich erzählen, dass Hans als Gutsherr in der damaligen Zeit Patron der Kirche war. An dieses Amt war die Verpflichtung zur Erhaltung der äußeren Gestalt der Kirche und zur Fürsorge für die Gemeinde gebunden. Das Amt war kostspielig – man denke allein an die Dachreparaturen. Gewisse Rechte aber gingen damit Hand in Hand. Am wichtigsten war, dass er auf die Wahl des Pastors mitbestimmenden Einfluss nehmen konnte. Diese Regelung ist später sehr angefochten worden. Sie hat aber auch ihre positiven Seiten gehabt. Sie war in ihrem Wert eng damit verflochten, dass der Gutsherr sich noch verantwortlich wusste für die christliche Verkündigung.

Als Pätzig endlich wirtschaftlich vorangekommen war, sollte der lange überlegte Umbau verwirklicht werden. Hans fand in seinem Freund und Michaelsbruder Langmaack14 aus Hamburg einen vorzüglich begabten Kirchenarchitekten.


Die Renovierung der Kirche in Pätzig wurde zum Hochzeitstag unseres ältesten Kindes Ruth-Alice mit Klaus von Bismarck fertig. Diese Festtage (kurz vor Beginn des Krieges) waren wohl der Höhepunkt unseres Lebens …! Die Kirche wurde renoviert, aber das »Herrenhaus« blieb ohne Wasserspülung und Zentralheizung.

Durch seine verständnisvolle Zusammenarbeit mit Hans und allen Handwerkern wurden seine Besuche zu hohen Freudentagen.

Keines seiner Ämter erschien Hans so wichtig wie seine Aufgabe für das Krippenspiel, die er treu erfüllte. Nur seiner zähen Forderung danke ich es, dass die Arbeit daran in 24 Jahren durchgeführt wurde. Aber Ihr wisst nicht, was das war: ein Krippenspiel.

Zu jener Zeit war – den Vorbildern des Mittelalters folgend – eine Laienspielbewegung im Gange. Auf dem religiösen Gebiet gab es eine Möglichkeit, die Gemeinde, auch wenn sie kirchlich schon fast erstorben war, aktiv einzubeziehen in die christliche Verkündigung, sie hier z. B. Weihnachten in echter Form erleben zu lassen.

Leider waren die landesüblichen Krippenspiele selten glaubwürdig, schon dadurch nicht, weil sie von Kindern und im Gasthof als Vorführung dargeboten wurden. In Pätzig wurde die Weihnachtsgeschichte im Anschluss an alte Vorbilder, aber mit neuen Worten in liturgischer Form in der Kirche gefeiert. Die Apsis war auch aus diesem Grund um sieben oder acht Stufen höher gebaut als das Kirchenschiff. Man sang viele Chorlieder! Der Schulkinderchor half von der Empore aus unter Herrn Lehrer Starke. Die Rollen waren an lauter handfeste Männer verteilt, die ihren Part in jedem Jahr neu aufnahmen. Die sonst sehr spärlich besuchte Kirche war an zwei Abenden, zur Generalprobe und am 4. Advent, rappeldicht besetzt. Die jeweiligen Pastoren spielten die Sternsinger.

Die Männer waren das tragende Element und waren glücklich dabei. Das Schönste waren das Zusammenspiel der Kräfte und die Hingabe der Gruppe, immerhin etwa 40 Personen.

Jedes Jahr neu ging ich mit Zittern an das große Wagnis, und immer wieder erlebten wir, dass die Heilige Geschichte als solche es war, die sich Herzen gewann und zu echter Gemeinschaft zusammenschloss. Unzählige haben mir das nach der Flucht immer erneut bestätigt und auch, dass dies als das Hauptgeschehen der Weihnachtszeit empfunden wurde.

Im Grunde hat Hans das Spiel geschaffen und getragen, auch, nachdem er im Einzelnen nicht mehr helfen konnte. Aber bei einer der Kirchenproben saß er in der engen Bank vorn, zurückgelehnt mit schief gehaltenem Kopf, das übergeschlagene Bein in den Gang streckend, und freute sich. Zum Schluss beflügelte er uns mit seiner bis ins Einzelne notierten scharfen Kritik an mir und an den anderen, auf die wir alle gespannt warteten.

In dieser von ihrem Untergang bedrohten und darum in gewissem Sinne besonders lebendigen Zeit riss das Forschen nach der Rangordnung der Werte in Hans’ Gegenwart kaum ab. Die Diskussionen darüber waren fast entscheidende Elemente des Zusammenlebens in Pätzig. Wo lief der »rote Faden«, der alle Qualität letztlich bestimmte? Wie sah unsere Verantwortung aus? Wofür lohnte es sich, notfalls zu sterben? Musste man überhaupt für etwas sterben? Wo hatte der Gehorsam seine Grenzen? Wo musste der Widerstand beginnen, auch mitten in der flammenden Bedrohung unseres Vaterlandes von allen Seiten? Wie hieß der »rote Faden«? Preußischer Geist? Und als dieser dahinschwand: Pflichterfüllung? Und worin bestand sie? Hieß der »rote Faden« Liebe zu den Seinen und allen ihnen zugeordneten Menschen? Hieß er Lebensbejahung? Hieß er Freude an der Schönheit allenthalben, an Jagd, Kunst, Musik und Dichtung? Hieß er Fröhlichkeit? Dankbarkeit? All dies gehörte in das Haus der weltoffenen Persönlichkeit von Hans und war nicht hinauszuwerfen. Aber jedes Einzelne musste sich an die Wand schieben lassen, wenn die strenge Rangordnung es verlangte, wenn die Mitte bedroht war.

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22 декабря 2023
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268 стр. 31 иллюстрация
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9783865068040
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