Читать книгу: «In des Teufels Gasthaus», страница 2
Inzwischen waren meine Taten sehr viel bescheidener. Mieze vertraute mir ihren Speisekammerschlüssel an – im vierten Kriegsjahr ein gehütetes Heiligtum –, und ich durfte aus wenigen Kostbarkeiten wählen, was ich nur wollte, um es für ihn zu verpacken. Ich schickte es wortlos nach Schneidemühl, wo er mit der vermeintlichen Grippe im Bett lag. Auch eine große »Medizinflasche« mit Cognac war dabei. Hans behauptete später, meine einzige Liebeserklärung sei die handschriftliche Widmung darauf gewesen: »Sehr gut gegen Grippe«. Eine der letzten Rosen freilich wurde in ein hellblaues Kartonpapier gewickelt und mit Seidenband umwunden. Aber keine Aufschrift etwa, beileibe nicht! Noch war ja nichts geschehen.
Später erzählte Hans, die abendliche Fahrt im Bummelzug von Schneidemühl nach Villnow – etwa zwei Stunden – sei ihm ewig erschienen, aber nicht aus Ungeduld, sondern weil er – in einer ihm völlig neuen Gewissheit – die Vorfreude als eine Erfahrung zeitloser Ewigkeit genossen habe. Die bescheidene »Spinne« (Einspännerwagen) mit dem Kriegskutscher Plietz, einem geistig Behinderten, brachte ihn vom Dorf in den Hof, wie es üblich war. Dort bog der Weg nach rechts und noch einmal rechts in die Lindenallee auf den Pflasterdamm, geradewegs zum Herrenhaus. Der Wagen rumpelte dem Haus entgegen, und vor dem Haus sah Hans zu seinem unbeschreibbaren Schrecken erneut den großen Schwarm der Hausgenossen auf der Terrasse stehen. Sie hatten sich um den gerade aus dem Dorf kommenden Grippearzt geschart, verzogen sich aber alle blitzschnell, als sein Wagen nahte. Der Wagen schlug auf dem runden Sandplatz mit der Friedenseiche von 1871 den gewohnten Kreis, um danach die alte Pflasterauffahrt heraufzuklappern. Meine Mutter stand oberhalb der Treppe allein zum Empfang bereit. Hans sprang vom Wagen, lief eilends die sechs Stufen hinauf, breitete seine Arme weit aus und rief: »Mutterchen.« Wortlos führte sie ihn in ihr grünes Wohnzimmer, den stillen Winkel des Hauses. Dort wartete ich bebend, und nun – allein gelassen – schloss er mich in seine Arme. Alle beiderseitig ausgedachten Reden fielen ins Wasser.
Ihr könnt dies alles nur wie ein Märchen oder wie eine romantische Legende lesen, aber dennoch ist jedes Wort Wahrheit und nicht etwa nachträglich glorifiziert. Und ich frage mich, ohne etwa vergleichen zu wollen, ob mir jemals ein Brautpaar begegnete, das so glückselig war wie wir.
DER WILL ’ WAS
UND DER KANN ’ WAS
Hans’ Weg nach Kieckow
Aus Hans’ selbst geschriebenen Erinnerungen an seinen Vater könnt Ihr manches aus seiner Jugendzeit entnehmen und lesen, wie glücklich er an sie zurückdachte. Der offenbar einzige Schatten war die sehr schwere Krankheit des Vaters, der 1905 starb, als Hans 17 Jahre alt war.
Seine Schwester Anne Klitzing schreibt ein Wort über Vater Max, das ich hier an den Anfang setzen möchte. Dieser ist mit der heißen Mahnung an seine Nachkommen gestorben: »Seid wahr vor anderen und vor allem vor euch selbst!« Sie schreibt weiter: »Wie bescheiden dachten doch unsere Eltern von ihren Kindern, dass sie mit diesem so vielversprechenden Sohn gar nichts hermachten. Im Gegenteil, sie richteten ihr Augenmerk immer wieder auf die Gefahr, die sich unter Hans’ Anlagen zeigte: seine ungeheure Zerstreutheit. Ja, sie machten sich darum ernste Sorgen. Ihre Strenge in diesem Punkt hat Hans weitgehend dazu verholfen, dieser Anlage Herr zu werden.« Hans machte das Abitur als 20-jähriger. Dazwischen lagen eine Nierenerkrankung und ein längerer Palästina-Aufenthalt. Nach dem juristischen Studium in Heidelberg und Breslau war er Referendar. Im Sommer 1910 arbeitete er fieberhaft an seiner Dissertation und befasste sich meiner Erinnerung nach mit dem Thema, inwieweit die Nichtigkeit eines Rechtsgeschäftes durch die Unmöglichkeit seiner Durchführung bedingt oder herbeigeführt wird. Dem zensierenden Professor war das Thema langweilig und das Lesen unbequem. Er ließ Hans immer wieder zu sich kommen, hatte aber jedes Mal nur hineingeguckt und nicht gelesen. Nach Hans’ Meinung musste die Arbeit zur Doktorwürde reichen. Wochenlang ging das so weiter, bis schließlich Hans die Geduld riss. Zu Hause schrien die Hirsche. Sollte er hier des dämlichen kleinen Titels wegen weiter warten? Er ließ ihn fahren. Sehr viel später, als er erlebte, wie leicht es den Menschen durch diesen Titel gemacht wird, sich Vertrauen zu erwerben, tat ihm diese Ungeduld leid. Dies scheint mir typisch zu sein für seine manchmal spontane und eigenwillige Rangordnung der Werte.
Die Jahre vom Herbst 1910 bis 1912 verbrachte er damit, zunächst Forst- und danach Landwirtschaft zu lernen. Er ging in die Oberförsterei Hochzeit im Kreis Friedeberg und wohnte dort in einem Dachstübchen mit seinem frechen Teckel mit Namen Tack. Er beaufsichtigte eine Schar von 40 Mädchen und Frauen bei einer Pflanzung: ganz einfache, aber fröhliche Mädchen, die ihre Arbeit eifrig machten und in den Essenspausen Lieder sangen, seiner Bitte folgend ohne Ende. Wahrscheinlich hatten sie einen tüchtigen Dorflehrer gehabt. Kam Hans von der Arbeit nach Hause, so ergriff er sofort seine Büchse und durchpirschte den großen Forst. Mit dem Forstmeister verband ihn eine herzliche Freundschaft. In dieser Zeit hat er viel gelernt auf forstlichem Gebiet, und er sagte später, nie wieder sei er so unbeschwert glücklich gewesen wie in dieser Zeit. Abends todmüde ins Bett gefallen, sei er sich keines einzigen Versäumnisses bewusst gewesen.
Im nächsten Jahr ging er in die landwirtschaftliche Lehre zu seinem Schwager Hans Klitzing nach Charlottenhof. Er hatte – wie man das damals zu tun pflegte – sein Reitpferd aus Schönrade mitgenommen und wird wohl nicht allzu intensiv in die körperliche Arbeit eingestiegen sein. Aber er liebte Hans und Anne heiß, und auch die alten Herrschaften schätzten ihn. Beide Männer waren besonders tüchtige Land- und Forstwirte. Hans Klitzing erprobte als einer der Ersten im Osten, Kiefern- und Fichtenwälder rechtzeitig zu lichten und mit Laubholzpflanzen zu unterbauen. Er hatte hervorragende Erfolge damit. Als Wildfütterung wurden dort entbitterte Lupinen in großen Mengen ausgelegt. Es gab ungewöhnlich erfolgreiche Wildjagden.
Der alte Klitzing war ein Diktator und drückte seinen Sohn über Gebühr an die Wand. Hans konnte, da er beide sehr schätzte, oft zum Guten reden. Ebenso konnte er sich erlauben, die äußerst energische alte Dame auf die Qualität ihrer Schwiegertochter, seiner hochgeliebten Schwester Anne, unumwunden hinzuweisen. Sie hatte es in der explosiven Familie Klitzing nicht gerade leicht, ihren Lebensboden zu behaupten. Sie hat mir noch berichtet, der alte Herr – mit Lob sehr karg umgehend – habe ihr einmal zu ihrem größten Vergnügen über Hans gesagt: »Der will ‘was und der kann ‘was!« Von dem alten Herrn gingen herrliche Geschichten um.
Als Amtsvorsteher vom Charlottenhof verwaltete er auch die Schulkasse des Ortes und musste darüber dem Provinzial-Schulkollegium Rechenschaft geben. Darauf kam eine Rückfrage: Für das Stroh zur Eindeckung der Schulpumpe sei in der Rechnung eine Ausgabe vom 2,50 Mark ausgesetzt. Es fehle aber im Frühjahr die dementsprechende Einnahme. Wo denn dies Stroh verblieben sei? Darauf die Antwort von Klitzing: »Wenn dieses Stroh nicht in den Köpfen der Herren vom PSK verblieben oder sich dort eingefunden habe, so wisse er auch nicht, wo es sein könnte.« Eine weitere Rückfrage unterblieb.
Als Abgeordneter des Herrenhauses wettete er eines Tages mit seinen Freunden, er würde ohne einen Pfennig Geld durch ganz Deutschland reisen. Das führte er durch. Er ging mit würdigem Aussehen und herrenmäßigem Gebaren durch jegliche Sperre und zeigte jedes Mal seinen Ausweis als Abgeordneter vor, oder er sagte nur »Abgeordneter«. Natürlich hatte er die Fahrkarten dennoch gekauft, legte sie aber ausnahmslos und ungelocht bei der Heimkehr seinen Freunden vor und gewann die Wette.
Mit Anne fand Hans sich vor allen Dingen in seinem lebhaften historischen Interesse. Beide waren durch ihren auf diesem Gebiet besonders gebildeten Vater dazu angeregt, viel Geschichtliches zu lesen und sich von dieser Erkenntnis her ihr Urteil über die Politik zu bilden. Vor allem Thomas Carlyle las er bis ins Alter lieber als einen Roman. Aber mit Anne hat er auch über jedes religiöse Problem, sicherlich zu beider Gewinn, reden können.
Er erzählte oft, das meiste habe er von Annchen gelernt, wenn er ihr erzählte, und zwar durch ihr Schweigen. Sie war nicht der Mensch, der leicht etwas verurteilte. Aber wenn sie schwieg, genügte das für ihn, um zu wissen, dass ihr irgendetwas nicht gefallen hatte. Das habe er dann für sich allein und mit Gewinn durchdacht.
Nun folgte seine Militärzeit. Seines Herzfehlers wegen wurde er zweimal bei der Musterung zum Militärdienst für untauglich befunden, sehr zur Befriedigung seiner Mutter, die ängstlich über ihren Kindern wachte. Hans, über die Maßen enttäuscht, dass er nicht für würdig befunden war, des Kaisers Rock zu tragen, ging heimlich zu seinem Bruder Werner nach Fürstenwalde, wo dieser aktiv diente. Vom dortigen Stabsarzt ließ er sich privat untersuchen und erreichte ein Tauglichkeitszeugnis, mit dem er bei den 3. Garde-Ulanen in Potsdam eingestellt wurde.
Er erzählte von dieser Zeit als von einer besonders schönen. Als junger Rekrut erstmalig auf ein Pferd gesetzt, sollte er vor dem Aufsteigen Wachtmeister Donsch sagen, ob er reiten könne. Nun war Hans auf dem Pferd nicht anders zu Hause als auf seinen eigenen Beinen. Dennoch lautete seine klare und kurze Antwort: »Nein!« So viel wusste er vom Soldatsein, dass da jeder Anflug von Angeberei die allergeringste Chance hatte. Und schließlich, wer konnte schon reiten. Als er sich später sehr nahe mit diesem Donsch befreundete, hat dieser erzählt, er habe schon daran gemerkt, wie Hans die Zügel ergriff, dass seine Antwort nicht so ganz stimmte.
Einmal wurde er von diesem Donsch beim Pferdeputzen dabei ertappt, dass er den Bauch des Pferdes im Sitzen striegelte. Sein Morgendienst begann damals nachts um drei Uhr. Sehr einladend hing dort eine schwere, eiserne so genannte Eskaladierstange, jeweils eine zwischen den einzelnen Pferden. Es gab ein fürchterliches Donnerwetter über den »eleganten« Junker, der wohl glaube, sich noch im Bett oder gar auf dem Kanapee ausruhen zu können. Donschs tüchtiger Blick hatte sofort erspäht, dass ausgerechnet diese Stange es war, die davon verbogen war, dass sich irgendwann einmal ein Gaul darauf herumgewälzt hatte. Menschenkraft und -gewicht konnte dafür nicht ausreichen. Also war hier der Ansatzpunkt für die soldatische Erziehung. »Bringen Sie die Stange zum Schmied und lassen Sie das Ding geraderichten, das Sie da mit Ihrer Lümmelei krummgebogen haben. Und dann zu mir, morgens vor dem Stalldienst, auf meine Stube damit!« Donsch wohnte im vierten oder fünften Stock. Durch eine sehr enge Treppe gelangte man dorthin. Wenn er die Stange genau ausbalancierte, konnte er sie einigermaßen tragen. Aber sie die Treppe hinaufbringen war eine fast übermenschliche Anstrengung für ihn. Nachdem er sie zum drittenmal hinaufgewuchtet hatte, weil sie bis dahin nach Donschs Meinung immer noch nicht gerade genug geworden war, zeigte dieser sich zufrieden, und die heilsame Lehre war beendet.
Hans war von der Art seiner Rekrutenbehandlung außerordentlich angetan, zumal Donsch nie gemeine oder erniedrigende Maßnahmen erdachte. Er wusste immer genau, dass hinter Donschs Ordern der Wunsch steckte, die Kerle zu Männern zu erziehen, und dass sich hinter seiner Härte ein ungewöhnlich gutes Herz verbarg.
Vielleicht wird doch manches, was von dem Forum der Weltmeinung als menschenunwürdige Behandlung beim Militär ausgerufen wird, von den Rekruten unrichtig eingeschätzt. Wesentlich scheint mir, dass der betreffende Rekrut seiner selbst sicher ist und es darum nicht nötig hat, sich bei jeder Gelegenheit in seinem Ehrgefühl angetastet zu empfinden. Ohne Frage stand Hans gerade durch seine Unverletzlichkeit bei Wachtmeister Donsch in hohem Kurs.
Im Juni 1914 wurde Hans zum Offizier befördert und kam am 1. 8. 1914 mit seinem Regiment ins Feld. Er erlebte den Vormarsch nach Frankreich hinein bei einer reitenden Abteilung. Dabei empfing er sehr bald als Ersatzmann, also mit fremden Männern zu Pferde, den Auftrag zu der bekannten Patrouille ins feindliche Gelände. Seine Erlebnisse in zwölf Tagen jenseits der Front hat er aufgezeichnet.
Im Juni 1916 wurde er zu Franz von Papen als dessen Ordonanz-Offizier berufen, der damals Ia der 4. Garde-Infanterie-Division war. Er verblieb in dieser Stellung auch, als Papen im Juni 1917 als Ia der Heeresgruppe Feldmarschall Falkenhayn eingesetzt wurde. Papen nahm ihn mit nach Palästina. Anne Klitzing schreibt darüber: »Hans schrieb tief beeindruckt von dort, erlebte die Landschaft und die Orte ganz in Gedanken an die biblischen Berichte. Papen war der rechte Kamerad, um dies mit ihm zu teilen. Dort meldete sich Hans zum Fliegerbeobachter und lag mit einem Fliegerhorst auf vorgeschobenem Posten in der Wüste jenseits des Jordans. Die Front musste weichen. Hans fiel die Aufgabe zu, in letzter Minute Leute und Material vor dem Feind zu retten. Die schwere und gefährliche Aufgabe wurde von ihm so gelöst, dass sie ihm den Hohenzollern-Orden eintrug.« Einmal zwang ihn die Beschießung zur Landung. Der Propeller war getroffen. Hans schnitzte das harte Holz mit seinem Taschenmesser wieder glatt. Er stieg erneut auf und erreichte es in wenigen Tagen, dass die dort stationierten Truppen verladen und verpackt wurden. Im letzten Augenblick erreichte Hans selbst den sehr langen und sehr langsamen, durch die Wüste schleichenden Zug, die einzige Bahnverbindung durch die Türkei.

1917 in Palästina als Teilnehmer des deutschen Korps bei der türkischen Armee fliegt Hans von Wedemeyer mit seinem Freund Franz von Papen als Aufklärer. Von Papen (rechts) und von Wedemeyer auf einem Feldflugplatz in Palästina, daneben Hans’ treues Pferd Johann.
Ganz hinten im letzten Wagen saß auf einem besonders hohen Kistenberg ein Rekrut, ob nun, weil ihm dies befohlen war oder aus eigenem Vergnügen, das weiß ich nicht mehr. Jedenfalls stand die zu durchquerende Wüste in dem bösen Ruf, dass kein Soldat ohne Plünderung bis auf die Haut hier davonkäme. Die wilden Volksstämme, die dort in Hunger und Armut lebten, hatten aus irgendeinem Aberglauben heraus einzig die Hemmung, diese verlorenen Soldaten zu töten.
Kurz ehe der Zug eine lange Brücke überquerte, kullerte dieser Rekrut samt dem von ihm erwählten Kistenberg hinten herunter und ward nicht mehr gesehen. Die Soldaten im Zug wollten ihn retten und zu diesem Zweck ein Halten erreichen. Aus diesem Grund begann ein Feuer aus sämtlichen noch verfügbaren Karabinern. Der Zug aber hielt keineswegs. Wahrscheinlich glaubte der Zugführer, dass jetzt an der Brücke der schon erwartete Angriff des Feindes erfolgte. Infolgedessen gab er Druck, und der Zug rollte so schnell, als er nur irgend konnte.
Kaum hatte er die Brücke passiert, gab es unter der Brücke eine starke Detonation. Die Brücke flog noch für die Zuginsassen sichtbar in die Luft. Hans erklärte sich die verspätete Detonation so, dass die mit der Sprengung der Brücke beauftragten Feindsoldaten – von dem Geknalle geängstigt – zunächst das Weite gesucht und dann die Zündschnur zu spät in Gang gesetzt hätten. Er empfand dieses Ereignis als eine besonders gnädige Fügung und fand, der eine Soldat habe durch seinen Tod oder Gefangenschaft sehr viele andere vor dem Schlimmsten bewahrt.
Aus seiner Zeit als Ordonanz-Offizier hat er viel Erfreuliches von Franz von Papen erzählt. Zunächst gewann dieser seine Anerkennung, indem er ganz furchtlos und immer erneut an die Front in die vordersten Gräben ging, der Truppe Mut machte und ihr Vertrauen zur Führung erweckte. Papen hatte als Militärattache in New York viel erlebt und noch während des Krieges durch überaus mutige Taten seinen dortigen Auftrag erfüllt. Jetzt war er im Stab nicht nur ein hervorragender Gesellschafter, sondern für Hans auch ein Freund von besonderer Qualität. Mit ihm zusammen ist Hans erstmalig in die katholischen Gottesdienste gegangen und fühlte sich dort mehr angesprochen als bei den üblichen evangelischen Feldgottesdiensten, die ihn mit wenig Ausnahmen traurig urteilen ließen. Vor allem, dass man mitten unter schwersten Anstrengungen die Leute zum Gottesdienst befahl und auch noch forderte, dass sie sich sorgfältig geputzt im Karree aufstellten, empörte ihn. Beide Freunde haben sich in dieser Zeit als Christen gefunden. Das muss man wissen, wenn man verstehen will, warum Hans es wagte, als rechte Hand von Papens im November 1932 nach Berlin zu gehen. Er vertraute ihm als Mensch, und dieser hat ihn darin nie enttäuscht. Papen war es, der damals 1918 gegen den Feldmarschall Falkenhayn durchsetzte, Jerusalem kampflos zu räumen. Dadurch hat er ein Bombardement durch die Engländer verhindert. Mit diesem kleinen militärischen Nachteil wurde sehr viel mehr an Vertrauenswertem für Deutschland gerettet. Beglückt durch seine letzten Fliegererfahrungen, wollte Hans sich jetzt als Flugzeugführer ausbilden lassen. Auf diese Weise kam er von Köslin aus nach Kieckow.
TRAUUNG IN ALLER STILLE
Revolution in Berlin und Hochzeit in Kieckow
Der Verlobungsfeier in Schönrade folgten die ersten glücklichen Tage in Pätzig. Der erste Eindruck meiner Mutter – selbst eine mehr aktive Natur – von ihrem neuen Schwiegersohn in diesen Pätziger Tagen war der, dass er allem, was getan werden musste, mit freiheitlicher Freude entgegenlief und es auf dem Fleck erledigte. Sie liebte ihn binnen kurzem aus dem Grunde ihres starken Herzens. Dann fuhr Hans zurück zu seiner Garnison und wir zurück nach Kieckow. Ich sollte dort in der Nähe bei einer Pfarrfrau den Haushalt erlernen, bis wir im Frühjahr heiraten würden.

Gutshaus Pätzig, um 1940.
Schon zwei Wochen später, am 9 November 1918, wurde dann dem Krieg ein jähes Ende gesetzt durch die Revolution und die Abdankung des letzten deutschen Kaisers, Wilhelm II. Dieser ging, von Hindenburg beraten, nach Holland. Seine endgültige Abdankung erfolgte aber erst am 28. 11. 1918. Die Wellen dieses uns alle erschütternden Geschehens breiteten sich unmittelbar auch in der kleinen Garnison Schneidemühl aus. Es waren dort etwa 100 aktive Offiziere zur Ausbildung zum Flieger versammelt. Hans hatte in diesen wenigen Wochen noch keinen besonderen Kontakt zu ihnen gefunden. Dennoch meldete er sich, als die Revolutionäre die Stadt durchschwärmten und auf die Garnison zu marschierten, bei dem Kommandeur der Abteilung und forderte von ihm, er solle nur den Befehl geben, und die Offiziere würden ohne Weiteres die Garnison ehrenhaft verteidigen. Keinesfalls seien die Soldaten berechtigt, sich willenlos den Revolutionären zu ergeben, solange noch keine offizielle Abdankung ihres Kaiserlichen Herrn bekannt geworden sei. Der Kommandeur weigerte sich, diesen Befehl zu erlassen. Als Antwort bat Hans sofort um seinen Urlaub, den ihm nunmehr der Kommandeur schlecht abschlagen konnte. Hans ging augenblicklich und ohne jedes Gepäck, erstaunlicherweise noch unbehelligt, zum Bahnhof und bestieg den nächsten Zug nach Küstrin.
Dort lief der Zug auf einem von den roten Revolutionären dicht gefüllten Bahnsteig ein. Etliche hängten sich an die Wagen, öffneten sie noch im Fahren von außen, drangen ein und rissen den eintreffenden Offizieren die militärischen Abzeichen von ihrem Rock herunter. Viele Offiziere haben es nach solchen Erlebnissen, die sich allenthalben wiederholten, nicht mehr ertragen, weiterzuleben. Es wäre für Hans entsetzlich gewesen, wenn ihm etwas Ähnliches widerfahren wäre. Auch bei ihm wurde die Tür, noch ehe der Zug hielt, aufgerissen, und die Kerle mit den roten Kokarden6 drangen ein. Hans ging hoch aufgerichtet und ohne ein einziges Wort zu sagen durch die grölende Menge. Es wagte kein Einziger, ihn anzufassen. Später hat er mir den steilen Schuttabhang gezeigt, der vom Bahnsteig herunterführte und den er herunterschlidderte, um die Sperre zu umgehen. Er ging die mehr als 40 km bis Pätzig zu Fuß, zog seinen Soldatenrock aus, der ihm als des »Kaisers Rock« wie ein Heiligtum war, und wollte ihn nicht mehr anziehen. Die Feder sträubt sich bei dem Versuch, Euch zu erklären, was in ihm vorging, aber Ihr könnt sein Wesen ohnedies nicht verstehen.
Das Bild des junkerlichen Herrn, der zu jeder Stunde bereit sein musste, das Leben zur Verteidigung seines Königs in die Schanze zu schlagen, war in ihm seit vielen Geschlechtern eingewachsen. Es bestimmte sein Wesen, seine Grenzen, seine Aufgaben und sein Ziel. Genauso musste er, wenn es an der Zeit war, dem König freimütig seine Kritik zu sagen wagen. In keinem Fall war er der Mitverantwortung für den Geist des Landes enthoben. Hans hatte es nie überwunden, dass Wilhelm II. sich nicht persönlich in den Kampf um seinen Thron geworfen, sondern sich gerettet hatte, wenn auch aus noch so begreiflichen Gründen und sicher nicht aus Angst. Es wurde mit dieser Flucht ein wenig Blutvergießen vermieden, aber sehr viel oder alles Vertrauen in die Unantastbarkeit der Krone verloren. Der König hatte den Glauben an sein ihm von Gott auferlegtes Amt verworfen. Er war den nach Ansicht von Hans mit diesem Amt unerbittlich verbundenen Konsequenzen ausgewichen. Damit zerbrach für Hans das in ihm noch lebendige Bild des Kaiserlichen Herrn, der für sein Volk stehen oder fallen musste. Er durfte nicht weichen, und sein Widerpart war das Bild des getreuen kaiserlichen Vasallen, der seinem Herzog und Herrn zu jeder Stunde ergeben war.
Für euch mögen diese Worte leer klingen und darum in den Bereich des Pathetischen gehören. Ich verstehe das. Die Walzen von zwei unglücklichen Kriegen sind darüber hinweggegangen, und eine Zentnerlast der damit verbundenen Schuld hat diese Worte für euch unglaubwürdig gemacht. Aber bitte, glaubt mir, und nur deswegen schreibe ich die folgenden Sätze: In Eurem Vater waren sie noch echt. Er war jederzeit bereit, sich bis zur letzten Faser seines Lebens dafür einzusetzen.
Zu diesem Bild des treuen Dieners der Krone und dessen, der sie verkörperte, gehörte eine bestimmte Gesinnung, und sie war ohne dieses Bild nicht zu erhalten. Die vielgeschmähte preußische Gesinnung, an deren Stelle bis heute noch kaum ein Ersatz getreten ist, bedeutete in seinen Augen viel. Sie bedeutete, mehr zu sein, als zu scheinen, die eigene Person hinter der Sache und dem Werk verblassen zu lassen. Sie bedeutete den Geist der Einfachheit und Bescheidenheit, die Absage an jede Angeberei, ja auch an Luxusentfaltung und an jede Bereicherung auf Kosten des Staatswohles oder des Volkes. Es war jene Gesinnung, die sich berufen und verpflichtet fühlte, Tag und Nacht danach zu forschen, was zu des Königs und des Vaterlands Heil geschehen und verhindert werden muss, jene innige Verflochtenheit mit dem Volk, das von Gott in allen seinen Schichten und Ständen mit der Bestimmung zur Einheit geschaffen worden war, jene Bereitschaft, das Recht im Lande weit über den eigenen Vorteil und das eigene Wohlergehen zu erheben. Es war die Freiheit, furchtlos in unmittelbarem Kontakt mit Gott zu leben und bereit zu sein, diese Überzeugung zu bekennen.
Wenn Ihr euch diese in ihm wurzelnde Wesensart vor Augen stellt, könnt Ihr vielleicht begreifen, wie groß sein Schmerz war, dass die Ausprägung des preußischen Geistes in unserem Volk in diesen Tagen zusammenbrach. Noch einmal jedoch hat dieser Geist nach 26 Jahren in einer großen und bis zum äußersten opferbereiten Gemeinschaft in unserem Volk Leben gewonnen. Das war in der Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus und gegen Hitler. Sie war ohne diesen noch lebenden Geist des Preußentums nicht zu denken. Ich werde später noch etwas darüber sagen, wie Hans dazu stand.
Noch am gleichen Tag, am 9.November 1918, schrieb Hans meiner Mutter und mir und bat um eine sofortige Trauung in Pätzig in aller Stille. Er wollte, wie er sagte, verhindern, dass er in Pätzig an einem und seine Braut in Kiekkow an einem anderen Baum aufgehängt würden. Wenn schon – und man müsse damit rechnen –, dann wenigstens zusammen. Damit nun war meine Mutter nicht etwa einverstanden, aber sie bereitete sofort unsere Hochzeit in Kieckow vor, die dann am 17. November in aller Ruhe stattfinden konnte, zumal wir dort keine revolutionären Umtriebe erwarteten und sie auch nicht erlebt haben. Bei dieser sonderbaren Bitte einer überstürzten Hochzeit in Pätzig, so meinte er später, habe er sich allerdings über das deutsche Volk noch Illusionen gemacht. Er habe ihm eine erheblich kräftigere Revolution zugetraut. Er bedauerte fast die Laschheit des Verlaufes.
Wir feierten mit wenigen Freunden und Verwandten, aber sein Bruder Franz-Just aus Schönrade war trotz aller Wirrnisse gekommen. Ich konnte das Brautkleid meiner Schwester Maria anziehen und die Brautschuhe meiner Schwägerin Mieze. Auf irgendwelche Anschaffungen verzichtete man, da es ohnehin so gut wie nichts mehr zu kaufen gab. Wie einfach waren diese Hochzeitsvorbereitungen! Die Hähnchen, die geschlachtet wurden, schmeckten uns so gut, dass ich es heute noch weiß. So etwas Herrliches hatte man schon lange nicht mehr auf dem Tisch gesehen. Wir brauchten nicht einmal Quartier für die Nacht, weil es das nämlich auch nirgends gegeben hätte. Mieze räumte uns ihr Schlafzimmer frei, und am nächsten Vormittag fuhren wir zum Zug nach Villnow durch den über Nacht frisch gefallenen Schnee.
Für die Reise in überfüllten Zügen und mit langen Aufenthalten brauchten wir die dreifache Zeit wie unter normalen Verhältnissen. Die betrunkenen und zudringlichen Fahrgäste ärgerten Hans, sodass er mich auf den Schoß nahm. Die daraufhin erst recht aufflammende Witzelei ertrug er mit Fassung. Aber endlich um drei Uhr nachts erreichten wir Charlottenhof, wo seine Schwester Anne, die zur Hochzeit nicht hatte kommen können, uns ein wunderschönes Logierzimmer eingerichtet hatte. Die festliche Tafel im Esszimmer erwartete uns mit brennenden Kerzen, und ein Zettel wies uns den Weg. Kein Mensch war zu sehen. Ein unglaublich verständnisvoller Empfang. Ich liebte seitdem das »Kleine Haus« am See. Am Nachmittag ging es mit Pferden weiter nach Pätzig. Dort machten wir mitten in unserer eigenen Welt eine wunderschöne Hochzeitsreise. Wir gönnten uns trotz der auch dort beginnenden revolutionären Unruhen und trotz aller uns bedrängenden neuen Aufgaben zwölf arbeitsfreie Tage. Eine unvergesslich große Zeit!
Hier muss ich noch, und zwar unter Bezug auf das, was ich über den preußischen Geist zu sagen versuchte, ein Wort über meine Schwiegermutter einfügen. Alles, was ich dort sagte, gilt für sie und für ihren Sohn. Schon, als ich sie kennenlernte, ahnte ich etwas von ihrer Bedeutung. Darum ergriff mich auf der ersten Reise zu ihr – und hier schalte ich eine Rückblende auf wenige Tage nach unserer Verlobung ein – eine geradezu panische Angst. Meine Bekleidung war damals im vierten Kriegsjahr sicher mehr als bescheiden, obgleich mich meine Schwestern mit ihren besten Sachen behängt hatten. Aber das nützte wenig, denn ich war überzeugt, dass ich den berechtigten Ansprüchen meiner Schwiegermutter nicht genügen konnte. Die Bahnstunden dehnten sich und waren wiederum doch zu schnell verflogen. Auf der kleinen, mitten im Wald gelegenen und aus roten Backsteinen bestehenden Bahnstation Barnstein wartete der herrschaftliche Kutscher Hesse. Er tat mir ein lichtblaues, gestepptes und innen hellrot abgefüttertes Cape als Fahrmantel um und übergab mir einen dicken Veilchenstrauß samt einem Brief der Schwiegermutter. Beides minderte für Minuten mein Fieber. Die Erregung stieg aber erneut auf den Siedepunkt, als der Wagen unerbittlich vor dem Haus vorfuhr. Dort stand Hans’ Mutter, eine große Gestalt in silberglänzendem und glatt gescheiteltem Haar, mit hinreißendem Charme und Würde in jeder Bewegung. Sie breitete die Arme weit aus und schloss mich hinein. Das war für mich einer jener seltenen Augenblicke, in denen man »Ewigkeit« am eigenen Leib erfährt. Von jenem Moment an habe ich nie wieder Angst vor ihr empfunden. Nur verehren und lieben konnte ich sie, und das mit aller Kraft.
Als sie ihren Tod herannahen fühlte, fragte sie den Arzt, wie lange Zeit er ihr wohl noch gäbe. Dieser einfache Landarzt kannte sie und wusste, dass es ihr gegenüber unmöglich war, eine Unwahrheit über die Lippen zu bringen. »Gnädige Frau, es kann eine Woche dauern, es kann aber auch noch länger sein.« Gelassen nahm sie dies hin und bestellte sich nunmehr alle an ihr Bett, denen sie noch einmal danken wollte: ihren früheren Mitarbeitern und Angestellten aus Schönrade. Mit großer Offenheit und Natürlichkeit verabschiedete sie sich von ihnen. Dieser Freimut wie auch ihre ganze Persönlichkeit waren für alle, die sie erlebt haben, nachhaltig beeindruckend.
Начислим
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