Читать книгу: «Das große Reimmichl-Lesebuch», страница 4
Eine neue Aufgabe
Als der 30-jährige Reimmichl 1897 als Redakteur der „Brixner Chronik“ und des „Tiroler Volksboten“ nach Brixen gerufen wurde, war diese Stadt am Eisack das kirchliche und – neben Innsbruck – auch intellektuelle Zentrum Tirols. An der dortigen theologischen Anstalt lehrte u. a. der anerkannte Theologieprofessor Aemilian Schoepfer (1858–1936), der außerdem als Abgeordneter der Konservativen Partei sehr aktiv war.
Schoepfer, 1858 geboren, erhielt 1880 die Priesterweihe, studierte anschließend am Frintaneum in Wien – eine Ausbildungsstätte für den höheren kirchlichen Dienst – und promovierte 1883 zum Doktor der Theologie. Auf eigenen Wunsch ging er zuerst in die Seelsorge, ehe er 1887 als Professor für Bibelwissenschaften und orientalische Sprachen ans Brixner Seminar berufen wurde.
Schoepfer war ein politischer Mensch. Während seiner Studienzeit in Wien lernte er die christlich-soziale Bewegung kennen. Ab nun war sein Interesse für die Sozialpolitik geweckt. Brixen war damals ein eher verschlafenes Nest. So gründete er mit Gleichgesinnten 1888 das „Katholisch-politische Kasino für Brixen und Umgebung“, einen Verein für politisch interessierte Konservative, der das politische Leben in Brixen in Schwung bringen sollte. Zeitungen waren damals die einzigen Medien – neben den Kirchenkanzeln –, die zur Verbreitung von Ideen zur Verfügung standen. Also hob Schoepfer mit seinen Freunden noch im gleichen Jahr die „Brixner Chronik“ aus der Taufe, für die er in der Folge viele Leitartikel selbst schrieb. Um die Finanzierung dieses Blattes langfristig sicherzustellen, wurde 1890 der „Katholisch-politische Pressverein“ samt angeschlossener Druckerei gegründet. Aus dieser Konstruktion ging 1907 die Verlagsanstalt Tyrolia hervor, die damals Betriebe nördlich und südlich des Brenners besaß. Auf politischen Druck musste die Tyrolia 1924 in einen Nordtiroler und Südtiroler Zweig getrennt werden. Der Südtiroler Zweig nannte sich Vogelweider, nachdem ihm der Name Tyrolia verboten wurde. Als auch dieser deutsche Name nicht mehr erwünscht war, kam es 1936 zur Umbenennung in Athesia.

Prälat Dr. Aemilian Schoepfer (1858–1936), Priester, Theologieprofessor, Gründer der Christlichsozialen Partei Tirols, Landtagsabgeordneter (ab 1896), Reichsratsabgeordneter (ab 1897), Gründer der beiden Zeitungen „Brixner Chronik“ und „Tiroler Volksbote“, Präsident der Verlagsanstalt Tyrolia (1907–1936).
(Foto: Archiv)
Da die „Brixner Chronik“ für das städtische Publikum konzipiert war, brachte Schoepfer vier Jahre später für die Landbevölkerung den „Tiroler Volksboten“ heraus. Beide Zeitungen wurden gegründet, um die katholischen Vorstellungen darzulegen und diese gegen die antiklerikalen Kräfte zu verteidigen.
Am 1. Dezember 1897 übersiedelte Rieger von Sand in Taufers, wo er zuletzt Kooperator gewesen war, nach Brixen ins Haus von Aemilian Schoepfer. Am 11. Dezember trat er seinen Dienst an und damit begann für ihn ein völlig neuer Lebensabschnitt, den er sich – wie er bald feststellen musste – so nicht vorgestellt hatte. Vor allem fehlte ihm der Umgang mit Menschen. Schoepfer war kaum daheim. Er war viel auf Reisen oder weilte oft wochenlang in Wien. Mit Arbeit überhäuft bis in die Nacht hinein, blieb Rieger kaum Zeit für soziale Kontakte. Außerdem fühlte er sich weniger zu den Städtern hingezogen als mehr zu den einfachen Leuten. Seine Zuneigung gehörte vor allem dem Bauernstand. Der „Volksbote“ als Blatt für die Bauern und die Landbevölkerung wuchs ihm schnell ans Herz, aber die „Brixner Chronik“ mit ihrem häufigeren Erscheinen für das städtische Publikum empfand er als große Belastung, die er gern abgeben wollte.

Blick auf das Straßendorf Gries am Brenner. Das Haus hinter dem Kirchturm ist das Widum (Pfarrhof), in dem Reimmichl von 1898 bis 1914 wohnte und arbeitete.
(Foto: Privatarchiv Georg Jäger)
Doch nicht genug damit, plagte ihn auch noch für Monate ein Lungenleiden, das er mit der Kneippmethode in der Kuranstalt Guggenberg in Brixen behandelte. Reimmichl beschreibt in einer seiner Kurzgeschichten, dass er erst endgültig Heilung erfuhr, als er sich mit seinem Freund, dem Maler Franz von Defregger, für eine Woche auf eine Alm zurückzog. Dabei entdeckten sie auf ihren Streifzügen eine Bergquelle mit eiskaltem Wasser, von der Reimmichl mehrmals täglich ausgiebig trank. Von da an, erzählte er später, habe er von einem Lungenleiden nie mehr etwas gespürt.
Man gab schließlich Reimmichls Drängen nach. Er legte die Redaktion der „Brixner Chronik“ zurück und übernahm die Expositur Gries am Brenner, zugehörig der Pfarre Vinaders (Expositur: Seelsorge ohne eigene Vermögensverwaltung). In dieser Kleingemeinde konnte er seelsorglich tätig sein, was ihm sehr wichtig war, gleichzeitig blieb ihm genügend Zeit, die Redaktion des „Volksboten“ weiterzuführen.
Als Reimmichl 1897 zum „Tiroler Volksboten“ stieß, standen die alten Streitthemen zwischen Konservativen und Liberalen nach wie vor auf der Tagesordnung. Im Wesentlichen ging es immer um die gleichen drei Themenkreise: die antiklerikalen Angriffe der Liberalen und Sozialdemokraten; die Wirtschaftspolitik und ihre Auswirkung auf die Bauern sowie der Kampf um die Vorherrschaft im katholischen Lager.
Der „Tiroler Volksbote“ unter Reimmichl sah seine zentrale Aufgabe darin, die katholische Glaubens- und Sittenlehre darzulegen und zu verteidigen und so die ländliche Bevölkerung gegen liberale und sozialdemokratische Lockrufe zu immunisieren. Reimmichl trug wesentlich dazu bei, dass dieses Ziel erreicht wurde und die Liberalen und Sozialdemokraten im Kampf um die Bauern unterlagen.
Die Welt hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die industrielle Revolution und den Ausbau der Verkehrsnetze stark verändert. Auch hier standen sich zwei Richtungen gegenüber. Die eher kosmopolitisch denkenden Liberalen traten für eine freie, grenzenlose Wirtschaft ein, die Konservativen wollten eine regulierte Wirtschaft zum Schutz der einheimischen Betriebe und Arbeitsplätze.
Der „Tiroler Volksbote“ wurde als Blatt für die Landbevölkerung gegründet, die damals größtenteils in der Land- und Forstwirtschaft und im Kleingewerbe tätig war. Auf diese Zielgruppe war auch der Inhalt abgestimmt. Gerade die Bauern und die kleinen Handwerker litten am meisten unter der freien Wirtschaft, da das Land plötzlich ohne das ausgleichende Element der Zollschranken von billiger ausländischer Ware überschwemmt wurde.
Der „Volksbote“ stand daher von Anfang an auf Seite der Bauern und Kleinbetriebe und trat für den Schutz der inländischen Wirtschaft gegen die ausländische Konkurrenz ein, wobei seine Angriffe den damals rasch wechselnden Regierungen, vor allem aber den Großindustriellen und Bankiers galten, die für eine freie Wirtschaft eintraten.
Aber auch im katholischen Lager herrschten stürmische Zeiten. Innerhalb der katholisch-konservativen Partei hatte sich unter der Führung des bereits genannten Aemilian Schoepfer eine neue, sozial ausgerichtete Gruppierung gebildet. Sie nannte sich „Schärfere Tonart“ und geriet mit der Führung der Konservativen zusehends in Konflikt.
Die Tiroler Konservativen, die von Adeligen und Intellektuellen angeführt wurden und sich vorwiegend auf Großgrundbesitzer und Bauern stützten, betrachteten die drei Landesbischöfe als ihre Anführer – auch in politischen Fragen, obwohl die Bischöfe diese Rolle keinesfalls angestrebt haben. (Tirol war unter drei Diözesen aufgeteilt: das Unterinntal ab dem Ziller gehörte zu Salzburg, das südliche Tirol ab Klausen zu Trient, und der Rest zur Diözese Brixen, wobei der Brixner Fürstbischof in der Politik die größte Rolle spielte.) In ihrer Politik wollten die Konservativen – überspitzt gesagt –, dass alles im Lande so bleibt, wie es ist, obwohl sich in jenen Tagen ein unaufhaltsamer politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel vollzog.

Zeitungskopf des „Tiroler Volksboten“ vom 1. März 1894
(Foto: Archiv)
Die Gruppe der „Schärferen Tonart“ stand zwar auch fest auf katholischem Boden, lehnte aber die bischöfliche Mitsprache in politischen Angelegenheiten ab. Den Bischöfen wurde nur Autorität in religiösen und sittlichen Dingen zugestanden. Außerdem war es für diese Gruppe von großer Bedeutung, die wirtschaftliche Situation der Arbeiter, kleinen Handwerker und Bauern zu verbessern, und zwar durch eine Neuorientierung des Wirtschaftssystems. Leitlinie war dabei die Sozialenzyklika Rerum Novarum von Papst Leo XIII., die 1891 gerade erschienen war.
Diese Spannungen führten letztlich 1898 unter Führung von Aemilian Schoepfer zur Abspaltung und Gründung einer zweiten katholischen Partei. Sie nannte sich „Christlichsoziale Partei“. Vorbild war die von Dr. Karl Lueger 1893 gegründete namensgleiche Partei in Wien. Zu deren Forderungen gehörte auch eine Reform des Kurienwahlrechts. So waren nach damaligem Wahlrecht nur Männer stimmberechtigt, die direkte Steuern in einer vorgegebenen Mindesthöhe zahlten. Außerdem wurden die einzelnen Stimmen je nach Stand und Vermögen unterschiedlich gewichtet. Dadurch waren weite Bevölkerungskreise von der Wahl ausgeschlossen. Erst als 1907 das (Männer-)Kurienwahlrecht in ein allgemeines Wahlrecht umgewandelt wurde, begann der Aufstieg der Christlich-Sozialen und der Sozialdemokraten zu Massenparteien; die Liberalen und Konservativen aber, die sich kaum für den „kleinen Mann“ interessiert hatten, verloren ihre Bedeutung.
Die Folge war nun ein erbitterter Kampf im katholischen Lager um die Vorherrschaft im Lande. 1904 gelang es den Christlichsozialen, die Mehrheit der Bauern, die bisher konservativ waren, auf ihre Seite zu ziehen. Unter wesentlicher Mitwirkung Reimmichls kam es zur Gründung des Tiroler Bauernbundes, der sich zu einer schlagkräftigen Interessensvertretung des Bauernstandes entwickelte. Reimmichl gilt als der geistige Vater des Bauernbundes. Als dann die Christlichsozialen die Landtagswahl 1907 für sich entschieden, war der Kampf vorbei, nicht aber der Streit, denn eine Versöhnung fand erst nach dem Ersten Weltkrieg statt.
Auch die einflussreiche Geistlichkeit war in dieser politischen Auseinandersetzung in zwei Lager geteilt: Die bischöfliche Kurie, die Dekane und Pfarrherren – also die Etablierten – standen vielfach auf Seite der Konservativen, die Professoren des Brixner Seminars, von dem die „Schärfere Tonart“ ausgegangen war, die Kooperatoren und Kapläne unterstützten mehrheitlich die Christlichsozialen. Reimmichl stand auf Seite der Christlichsozialen, deren Vorstellungen er bereits während der Jahre im Priesterseminar kennengelernt hatte.
Die Auseinandersetzungen zwischen Christlichsozialen und Konservativen führten dazu, dass es nach einiger Zeit nicht einmal mehr eine gemeinsame Gesprächsbasis gab. Erst eine Privatinitiative Reimmichls sollte wieder Bewegung in die Beziehungen bringen. Reimmichl hatte nie ein offizielles poltitisches Amt inne.
Reimmichl lud Nikolaus Recheis, Kaplan der „Irrenanstalt“ in Hall, zu einem Gespräch nach Gries am Brenner. Recheis war nicht nur Kaplan, er war auch Chefredakteur der „Tiroler Stimmen“, des Zentralorgans der Konservativen, und enger Vertrauter von Landeshauptmann Theodor Kathrein. Reimmichl wollte ausloten, auf welche Weise der Friede im Lande und zwischen den Parteien wiederhergestellt werden könnte.
Von dieser Einladung berichtete Recheis umgehend dem Landeshauptmann, wobei er festhält, dass Reimmichl „gewiss ein sehr einflussreicher und gewichtiger Mann im Lande und in seiner Partei“ ist.
Es gelang auch ein Entwurf für ein gemeinsames Programm, das eine Verschmelzung der beiden Parteien vorsah. Letztlich jedoch scheiterte dieser Versuch, da der Graben zwischen den beiden katholischen Parteien bereits zu tief war.
In dem erwähnten gemeinsamen Programmentwurf heißt es unter Punkt fünf: „Die Konservativen sind ebenfalls für einen berechtigten christlichen Antisemitismus.“ Damit stellt sich die Frage nach dem Antisemitismus des Reimmichls.
Recheis erläutert diesen Punkt in einem Brief an Landeshauptmann Kathrein: „Punkt 5 ist ein Zugeständnis und gewiss recht unklar abgefasst, und mit Recht wird man fragen: Was ist das: berechtigter christlicher Antisemitismus? Wir wollten damit aber nur sagen, dass wir keine Judenfreunde sind, die Auswüchse und den unheilvollen Einfluss des Judentums ebenso verabscheuen wie die Christlichsozialen. Wir mussten diesen Punkt aufnehmen, weil uns gesagt wurde, dass man von christlichsozialer Seite darauf großes Gewicht lege und im Judenpunkt wenigstens etwas zugestanden werden müsse.“ Daraus ist ersichtlich, dass dieser Passus auf ausdrücklichen Wunsch Reimmichls hineinkam, weil er den Christlichsozialen sehr wichtig war.
Aemilian Schoepfer lernte in Wien die dortigen Christlichsozialen kennen und bewunderte ihr Wirtschaftsprogramm und ihre Sozialpolitik. Allerdings war ein ausgeprägter Antisemitismus ein Wesensmerkmal dieser Partei, den Schoepfer und seine Anhänger mit übernahmen.
Juden wurden jahrhundertelang von vielen sogenannten ehrbaren Berufen gesetzlich ferngehalten und waren deshalb auf den Handel verwiesen. Da Christen lange in Geldgeschäften keine Zinsen verlangen durften, blieb den Juden auch das Geld- und Bankwesen. Daraus entstanden dann die Zerrbilder des Wucherers, gierigen Geldeintreibers und verschlagenen Händlers.
Erst 1867 erhielten die Juden Religionsfreiheit und volle Bürgerrechte. Da sie diesen Aufstieg den Ideen des Liberalismus verdankten, wandten sie sich der liberalen Partei zu und gerieten dadurch sofort in scharfe Opposition zu Konservativen und Christlichsozialen.
Der antisemitische Wiener Bürgermeister Lueger, ein tüchtiger Politiker, aber auch ein Populist reinsten Wassers, erklärte 1890 vor begeisterten Anhängern die Ursachen für den „christlichen Antisemitismus“:
„Erstens, die judenliberale Presse“: Tatsächlich wurden einige bedeutende Medien in Wien von Juden herausgegeben. Diese Zeitungen vertraten in ihrer Mehrheit liberales und kapitalistisches Gedankengut, propagierten also einen freien Markt ohne staatliche Einmischung – das Gegenteil von dem, was die Christlichsozialen vertraten, die den staatlichen Schutz der heimischen Landwirtschaft und des Kleingewerbes forderten.
„Zweitens, das erdrückende Großkapital in jüdischer Hand“: Zahlreiche Handelshäuser, Banken und Fabriken hatten jüdische Besitzer. Diese Bankiers, Fabriks- und Handelsherren besaßen natürlich entsprechenden gesellschaftlichen und politischen Einfluss gemäß der alten Erkenntnis „Wer das Geld hat, hat die Macht“. Damit waren sie für alle anderen eine unliebsame Konkurrenz.
„Drittens, die Unterdrückung der Christen durch die Juden“: Damit waren die oft ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in jüdischen Industriebetrieben gemeint. Allerdings waren zur damaligen Zeit die Bedingungen in nichtjüdischen Betrieben keinesfalls besser.
Da es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder zu Wirtschaftskrisen kam, unter denen besonders der Mittelstand und die kleinen Leute litten, fanden diese Behauptungen Luegers in der Wiener Bevölkerung breiten Anklang, da man ohnedies der Meinung war, dass die Stadt von Juden überschwemmt sei. In Wirklichkeit waren zehn Prozent der Einwohner Wiens mosaischen Glaubens und nur ein kleiner Teil von ihnen gehörte zu den Wohlhabenden und Reichen.
Dieser soziale Antisemitismus war weit über die Christlichsozialen hinaus verbreitet. In Tirol fiel er nur leichter auf fruchtbaren Boden, weil der religiöse Antisemitismus mit dem Vorwurf des Jesus- und Gottesmordes hier bereits fest verankert war und in den Ritualmordlegenden des Anderl von Rinn, Simon von Trient und der Ursula von Lienz weitererzählt wurde.
Auch Reimmichl war in diesem Fahrwasser unterwegs. Im „Tiroler Volksboten“ waren es immer wieder die „liberalen Juden“, die für tatsächliche oder vermeintliche Fehlentwicklungen vor allem in der Wirtschaftspolitik verantwortlich gemacht wurden. Im Reimmichlkalender 1925 schreibt er:
„Seit 2000 Jahren liegt auf dem Judenvolk ein Fluch, der es nicht zur Ruhe kommen lässt. Glücklos irrt es unter den Nationen herum (den Staat Israel gab es damals noch nicht. Anm.) und sucht seinen Unfrieden und seine Zerrüttung auch den anderen Völkern aufzudrängen. Nicht nur dem christlichen Gelde jagt der Jude nach, sondern er unterminiert auch absichtlich und planmäßig Glauben und Sitte, Glück und Ordnung bei den christlichen Völkern. Wo der Jude hinkommt, zersetzt und verhetzt er alles.“
Wenn man bedenkt, dass Reimmichl für Tausende Leser eine glaubwürdige Autorität war, muss man annehmen, dass sich viele in ihrem latenten Antisemitismus bestätigt fühlten.
Den Antisemitismus haben nicht Hitler und die Nationalsozialisten erfunden. Im Gegenteil, Hitler beruft sich sogar in seinem Antisemitismus auf Lueger. Er hat dessen sozialen und politischen Antisemitismus nur auf furchtbare Weise zum rassischen Antisemitismus weiterentwickelt. So wurde die Saat der nationalsozialistischen Judenverfolgung schon lange vorher ausgelegt und auch Reimmichl war wie viele andere einflussreiche Personen daran beteiligt.
Es fällt aber auf, dass Reimmichls Angriffe auf die Juden Anfang der Dreißigerjahre aufhören, gerade zu einer Zeit, als es besonders „modern“ wurde, Juden zu verunglimpfen. Warum? War es Einsicht? War es die Ablehnung des aufstrebenden Nationalsozialismus? Wir wissen es nicht. Er hat sich nie dazu geäußert.
Reimmichl lehnte den Nationalsozialismus grundsätzlich ab, er war auch gegen den Anschluss und trat immer für ein selbstständiges Österreich ein. Im November 1923 hatte Hitler vergeblich versucht, sich an die Macht zu putschen. Eine Notiz dazu im Reimmichlkalender 1925 samt kleinem Hitlerporträt bereitete Reimmichl später, als die Nazis ans Ruder gekommen waren, noch Kopfzerbrechen, denn er schrieb dort: „Der bekannte Hitler, ein Mann, der nicht viel im Kapitolium (Kopf), aber desto mehr auf der Windmühle (gutes Mundwerk) hat, bildet sich ein, er sei berufen, der Retter Deutschlands zu sein.“
Ein Glücksfall
Schon nach kurzer Zeit entpuppte sich die Entscheidung von Schoepfer und Fürstbischof Aichner, Reimmichl den Seelsorgsort Gries am Brenner zu übertragen und ihm die Redaktion des Volksboten anzuvertrauen, als Glücksfall. Wie man eine Zeitung macht, hatte Reimmichl in dem einen Jahr in Brixen gelernt. Dieses „Lehrjahr“ schärfte seinen Blick für das Zeitgeschehen und für das Wesentliche und Interessante. Auch musste er sich mit Politik befassen, die ihn bisher kaum beschäftigt hatte. Von damals rührte sein lebenslanges politisches Interesse, auch wenn ihm das tagespolitische Gezänk fremd blieb.
Reimmichl übernahm 1897 die Zeitung mit 3000 Abonnenten und machte aus ihr innerhalb von wenigen Jahren die meistverbreitete Zeitung Tirols nördlich und südlich des Brenners. Worin lag nun das Geheimnis dieses Erfolges? Was fesselte die Menschen an dieser Zeitung? Bereits damals, als er noch Kooperator in Sexten und Dölsach war, waren es die Reimmichl-Geschichten, die sofort begeisterte Leser fanden.
Nachdem Reimmichl den „Volksboten“ übernommen hatte, gab er ihm eine klare Struktur: Das Blatt begann mit politischen Nachrichten, die auch die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Tirol und in der Monarchie berücksichtigten. Im Mittelpunkt stand immer die Situation des Bauernstandes, denn der Volksbote wurde ja in erster Linie für die bäuerliche Bevölkerung, die die Mehrheit im Lande stellte, herausgegeben. Die Sprache war scharf und angriffig. Breiten Raum nahmen auch Berichte über die Heimatkirche und Rom ein. Im lokalen Teil kamen die Tiroler Ereignisse „aus Stadt und Land“ zur Sprache. In jeder Ausgabe fanden sich ein oder zwei religiös gefärbte Beiträge, die vor allem – meist in Form einer kleinen Geschichte oder eines fiktiven Gespräches – Anleitungen gaben für ein christliches Leben. Ein Fortsetzungsroman und/oder eine unterhaltsame Kurzgeschichte, beides aus Reimmichls Feder, sowie Sagen und Legenden ergänzten das Angebot. Abgerundet wurde der Inhalt mit amtlichen und kirchlichen Ankündigungen und Veranstaltungshinweisen. Die Rubrik „Briefe an die Redaktion“ gehörte ebenfalls zum vielgelesenen Teil. Der Umfang der Zeitung schwankte zwischen 16 und 24 Seiten, die Erscheinungsweise war bis zum Ersten Weltkrieg 14-täglich. Während des Kriegsjahres 1914 stieg das Bedürfnis der Bevölkerung nach möglichst viel Information über den Kriegsverlauf und die Schauplätze, auf denen Tiroler kämpften. Nachdem die Bitten und Forderungen der Abonnenten immer drängender wurden, entschloss man sich Ende 1915 wöchentlich zu erscheinen.
Reimmichl führte einen ausgedehnten Briefwechsel mit den Leserinnen und Lesern. Jede Woche brachte der Briefträger an die 100 und mehr Briefe ins Grieser Widum. Da er aus Zeitgründen nicht jedem mit einem ausführlichen Brief antworten konnte, forderte er die Schreiber auf, am Ende des Briefes neben der Unterschrift einen Buchstaben oder ein Pseudonym zu setzen. Er, Reimmichl, werde dann in einer der nächsten Ausgaben in der Rubrik „Briefe an die Redaktion“ unter dem jeweiligen Buchstaben oder Pseudonym eine kurze Antwort geben, ohne dass der Schreiber der Öffentlichkeit bekannt würde.
Reimmichls Antworten lasen sich dann zum Beispiel so:
R: Der junge Mann ist eh schon genug gestraft. Warum denn die Sache noch in die Zeitung bringen?
T.S: Für längere Ernteberichte ist jetzt Anfang Winter jedenfalls keine Zeit mehr. Ein Witzbold hat dem Michl ehedem schon gesagt, er soll das Bötl umtaufen in „Heublattl“ oder „Grummetzeitung“ (Grummet ist der zweite Heuschnitt. Anm.)
Westendorf: Herzlichen Dank! Ihr Brief war vier Tage auf dem Weg, darum die Verspätung. Ich weiß nicht, hat die k. k. Post den Brief über Paris gehen lassen?
K.A: Recht dankbar. Für heute zu spät eingelangt.
Tösens, Trens: Zu spät eingelangt. Ich muss die Briefe immer schon am Montag in der Hand haben. Der Bericht kommt das nächste Mal.
Schwabenland: Gedichte können wir leider nicht verwenden.
Pinzgerlapp: Du hast dir einen garstigen Namen gewählt. Im Übrigen: Reg dich nicht auf, wer zuletzt lacht, lacht am besten.
Weitental: Der hochwürdige Herr Pfarrer ist an dem Artikel, der so viel Staub aufgewirbelt hat, gänzlich unschuldig.
Flaurling: Die Sache war schon vor zwei Monaten, jetzt ist sie katzgrau. Aber lass wieder einmal etwas von dir hören.
Oberhofen: Eingesandter Artikel war von zu wenig Belang.
L. S.: Den Beitrag kann ich nicht bringen, sonst landen wir beide im Kriminal.
Z. S.: Sein Porträt kann der Michl nicht ins Bötl drucken lassen, das wäre gegen alle Bescheidenheit; Euch ein Porträt schicken kann er ebenfalls nicht, weil er selbst keines besitzt. Übrigens hat der Michl ein kohlschwarzes Gesicht. Ihr würdet Euch fürchten.
Achenkirch: Brauchst keine Angst zu haben, es ist aber besser, wenn die Sache nicht in die Zeitung kommt.
Für den lokalen Nachrichtenteil baute Reimmichl gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Josef Grinner ein „Korrespondentennetz“ auf, indem er die Leser aufforderte, ihn regelmäßig mit Nachrichten zu versorgen. Diese brieflichen „Meldungen“ wurden – wenn notwendig – in der Redaktion von Rechtschreib- und Grammatikfehlern gesäubert, da und dort gefälliger formuliert und so zeitungstauglich gemacht. Aus diesen Meldungen wurde dann die Rubrik „Nachrichten aus Stadt und Land“ und „Briefe aus nah und fern“ zusammengestellt.
Die Leistungen und Verdienste Josef Grinners um den „Tiroler Volksboten“ stehen in der Erinnerung zu Unrecht im Schatten Reimmichls. Josef Grinner war Reimmichls Freund. Seit 1900 unterstützte er als treuer Mitarbeiter und kongenialer Partner Reimmichl in der Redaktion des Tiroler Volksboten.
Josef Grinner wurde 1870 im oberen Vinschgau geboren, besuchte mit Reimmichl das Vinzentinum und erhielt 1892 die Priesterweihe. Kooperatorenjahre führten ihn nach Graun am Reschenpass, Kolsass und Fulpmes. Hier im Stubai nahm dann sein Leben eine Wende. Neben seiner seelsorglichen Aufgabe wurde er Mitarbeiter beim Tiroler Volksboten.
Reimmichl stellte ihn den Lesern folgendermaßen vor, wobei gerade der volksnahe Stil seiner Artikel wesentlich zum Erfolg beitrug:
„Liebe Boten-Leser! Zwei Rösslein ziehen immer leichter als eines und zwei Schreiber bringen den Volksboten leichter fertig als einer. Darum hat sich der Bote jetzt einen zweiten Redakteur oder, wenn ihr wollt, einen zweiten ‚Boten‘-Schreiber aufgenommen. Ihr kennt ihn bereits – es ist der Schreiber von den Nachrichten aus Stadt und Land, die seit einem halben Jahr im Volksboten nett zusammengestellt sind. Dieser Schreiber heißt mit Namen Josef Grinner und ist Kooperator in Fulpmes. Herr Grinner ist ein dicker Freund von mir, und ich halte einen Patzen auf ihn, besonders, weil er die Schreiberei gut los hat. Herr Grinner wird nun in Zukunft auch die Briefe aus Stadt und Land dazupassen. Ihr müsst also in Zukunft alle Nachrichten und Neuigkeiten, die ihr bisher an mich geschrieben habt, an Herrn Grinner in Fulpmes senden. Ihr könnt ganz genau so schreiben wie bisher. Ihr braucht euch vor dem zweiten Boten-Schreiber genauso wenig schenieren wie vor dem Reimmichl. Ihr könnt auch zu ihm reden, wie Euch der Schnabel gewachsen ist, und Ihr dürft mit ihm auch per Du reden.
Ich werde Euch als Boten-Schreiber nach wie vor treu bleiben. Ich habe mir nur einen Teil der Arbeit abgewälzt, damit ich auf die Geschichten und die anderen Artikel mehr Zeit und Mühe verwenden kann. Der Volksbote wird dadurch noch reichhaltiger und besser werden.
Ihr dürft auch in Zukunft noch an mich schreiben, je mehr desto besser, es freut mich allemal und ich werde auf alle Briefe wie bisher eine Antwort im Briefkasten geben. Nur die Berichte und Neuigkeiten müsst ihr alle an Herrn Grinner schicken, weil er eigens für dieselben als Redakteur aufgestellt ist. Ihr werdet mit ihm gewiss zufrieden sein. Wenn ihr an Herrn Grinner schreibt, setzt folgende Adresse: Tiroler Volksbote, Fulpmes, Tirol. Meine Adresse lautet nach wie vor: Tiroler Volksbote, Gries am Brenner, Tirol oder Reimmichl, Gries am Brenner, Tirol
Euer ergebenster Boten-Mann Reimmichl – Gries am Brenner, 1. Oktober 1900.“
In der darauffolgenden Ausgabe meldete sich Grinner selber zu Wort und ermunterte die Leser, ihn eifrig mit Nachrichten und Neuigkeiten aus ihren Dörfern zu versorgen. Und sie sollten sich keinesfalls „genieren“ und auch nicht zur Ausrede Zuflucht nehmen, dass sie das Schreiben nicht los hätten:
„Es mag schon sein, dass es das erste Mal etwas hart geht – aller Anfang ist schwer – das zweite und dritte Mal geht’s schon viel leichter. Und in Gottesnamen, wenn halt einmal alles kunterbunt durcheinandergeht und die Böcke nur so herumlaufen, nur wacker geschrieben, ich werde die Sache schon selbst in ein Gwandl stecken, dass es sich sehen lassen kann. Andere meinen, da müsste man Wunder wie extra schreiben. Je einfacher, desto besser fällt es gewöhnlich aus. Schreibe aber kurz! […] Freilich darf es mir niemand verübeln, wenn hie und da ein paar Zeilen verschwinden oder – jedenfalls nur aus triftigen Gründen – das ganze Briefl im Papierkorb landet. Also, wenn die Leser wollen, dass das Boten-Wagele frisch in Gang bleibt und allweil mehr und Besseres bringt, dann müssen sie auch kräftig schieben – durch Schreiben …“
Eines Tages blickte den Volksboten-Lesern auf Seite neun ein Bild von Josef Grinner entgegen. Den Text dazu – ein typischer Reimmichltext – lieferte der Boten-Mann Nr. eins:
„Da habt ihr ihn nun, wie er leibt und lebt, meinen und euren dicken Freund, den Volksboten-Mann Nr. 2. Über ein Jahr lang bin ich schon in ihn gedrungen, habe gepenzt und gebeten, er möge mir eine Photographie schenken und möge mir erlauben, dass ich sein Bild in das ‚Bötl‘ drucke; aber allemal ist er darüber fuchswild geworden und hat erklärt, um alles in der Welt lasse er sich nicht in das Bötl setzen (Bötl ist die volkstümliche Bezeichnung für Volksbote, die sich bald eingebürgert hat, Anm.). Da ich auf geradem Weg nicht zum Ziel gelangt bin, so hab ich müssen krumme Straßen einschlagen.“
Reimmichl ließ nun Grinner heimlich von einem Fotografen, der sich auf die Lauer legte, ablichten, ohne dass Grinner es merkte. Reimmichl setzte das Foto in den Volksboten und freute sich bereits diebisch auf den Donnerstag: „Was wird der Boten-Mann Nr. 2 für große und runde Augen, und was für ein langes Gesicht machen, wenn er sich in seiner ganzen Leibhaftigkeit im ‚Bötl‘ drinnen erblickt? ‚Ach du liebe Zeit!‘ wird er ausrufen – das ist nämlich sein Leibspruch, wenn ihm etwas wider den Strich geht – und dann wird er über den Michl loswettern. Dem Michl ist auch ein wenig bang, dass ihm sein Freund die Liebe und Treue kündige; aber der Boten-Mann Nr. 2 hat ein gutes Herz, und er lässt wohl hintendrein mit sich ein wenig handeln. Der Michl tut auch gleich einen Fußfall und sagt: ‚Mein lieber, lieber Freund, ich habe gesündigt wider […] ich bin nicht mehr wert, dein Freund zu heißen […] aber ich will es gewiss nicht mehr tun, es ist das erste und letzte Mal gewesen!‘
Wenn der Boten-Mann Nr. 2 meine aufrichtige Reue und den ernsten Vorsatz erblickt, wird er mir gewiss die kleine Lumperei verzeihen. Ganz im Vertrauen kann ich den Lesern mitteilen, dass mein Freund Nr. 2 eben jetzt, da ich dies schreibe, in meinem Haus weilt und schon seit einiger Zeit in den Federn ruht; ich habe eben die nachtschlafene Zeit zu dieser Schmuggelei wählen müssen, weil mir sonst der Gefeierte leicht hinter die Schliche hätte kommen können.

Msgn. Josef Grinner (1870–1934), Kaplan in Fritzens und Erbauer der dortigen Kirche, zuerst Mitarbeiter Reimmichls beim „Tiroler Volksboten“ und ab 1913 dessen Leiter.
(Foto: Archiv)
Ich muss euch nur noch mitteilen, dass der Boten-Mann Nr. 2 seinen Sitz gewechselt hat und jetzt nicht mehr in Fulpmes, sondern in Mühlau bei Innsbruck lebt. Alle Nachrichten und Korrespondenzen sind daher von jetzt an zu richten an: Tiroler Volksbote in Mühlau bei Innsbruck.“
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