Lügen mit langen Beinen

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Lügen mit langen Beinen
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Acharyya Verlag

für kritische Wissenschaft

Internet: www.acharyya.de

Eine unglaublich spannende Geschichte. Schon gelesen?

Preis des aufrechten Gangs

Die dokumentarische Erzählung von Prodosh Aich

Aus den Jahren 1957–1987 in Deutschland und in Indien

ISBN 3–935418–01–9

Zu diesem Buch

Wir sind, was wir wissen. Und wir wissen das, was Berufene uns erzählen.

Das tägliche Leben wird heute durch „Information“ geordnet. Das Netzwerk des Transports von „Informationen“ wird immer dichter. Die Übertragungen sind flächendeckend. Rund um die Uhr. Rund um die Welt. Die Menge der Informationen steigt und alles wird immer unüberschaubarer. Informationen werden auch vermittelt durch das Elternhaus, durch die Schule, durch das Umfeld, und das nicht zu knapp. Wo kommen die Informationen her, wo werden sie erzeugt, wer bringt sie in Umlauf, welche Wege nehmen sie, wie lange dauert es, bis eine Information vom Produktionsort das Elternhaus erreicht? Wir wissen es nicht. Ist es wichtig, das zu wissen? Geraten wir so nicht in die Informationsfalle? Sind wir uns dessen bewußt? Wollen wir uns aus dieser Falle befreien? Können wir uns befreien? Wie?

Wir wollten alles über „Arier“, „Indogermanen“ und „Indoeuropäer“ wissen. Wer sie sind, seit wann es bekannt ist, daß sie es sind, wie ist es bekannt geworden, daß es sie gibt, wer hat sie gefunden, wie und warum und wozu. Und wir finden Geschichten. Wir finden sie in Nachschlagewerken, in den „Standardbüchern der Geschichte“ und ausführlicher in den speziellen Geschichtsbüchern. Die Geschichten sind widersprüchlich. Also stellen wir Fragen. Zu Beginn erschienen uns unsere Fragen einfach. Dem ist nicht so. Aber wir sind weiter gekommen. Durch unsere unüblichen Fragen. Und es scheint, wir haben die Büchse der Pandora aufgestoßen.

Prodosh Aich ist geboren 1934 in Kalkutta. Schulbesuch und Studium der Philosophie in Indien. Studium der Ethnologie, Philosophie und Soziologie in Köln. Ist Universitätslehrer und Publizist. Lehrte Soziologie in den Universitäten Köln, Rajasthan (Indien) und Oldenburg. Hat neben Buchveröffentlichungen und Aufsätzen auch viele Rundfunkfeatures und Dokumentarfilme gemacht. Immer noch Inder, auch wenn er länger in Deutschland lebt als die meisten Deutschen.

„Lügen mit langen Beinen“ ist das neunte Buch von Prodosh Aich. "Farbige unter Weißen" (1962), "Die Indische Universität" (1971), "Soziale Arbeit" (1972), "Da weitere Verwahrlosung droht ..." (1973), "Wie demokratisch ist Kommunalpolitik?" (1977), "Möglichkeiten und Grenzen des Projektstudiums" (1978), "Rathaus-Plünderer" (1986). "Preis des aufrechten Gangs" (2000).

Die Veröffentlichung von "Die Indische Universität" und "Rathaus-Plünderer" ist verhindert worden. "Preis des aufrechten Gangs" enthält das unterdrückte Buch: "Die Indische Universität" und erzählt wie in einem Dokumentarfilm die Zusammenhänge und beschreibt die Akteure und deren Machenschaften bei der Unterdrückung.

Prodosh AichLLANGEN BEINENEntdeckungen, Gelehrte, Wissenschaft, AufklDokumentarische ErzAcharayya Verlagf

März 2003

Acharyya Verlag, Oldenburg (in Oldenburg)

© 2003 Prodosh Aich

Umschlaggestaltung: [FEINDESIGN] Oldenburg (in Oldenburg)

Herstellung und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-9122-3

Inhaltsverzeichnis

Zu diesem Buch

Der Anstoß

Prolog Wir sind, was wir wissen

Was geschieht mit uns?

Wegbereiter des „epochalen Entdeckers“ William Jones

Wer ist dieser William Jones?

Kalkutta – Sir Williams Eldorado

Alle Spuren laufen auf Kalkutta zu

In den Fußstapfen Sir Williams

Epilog Ein Zeitalter der Gehirnwäsche

Der Anstoß

Im Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Oldenburg wird zum Wintersemester 1996/1997 die Veranstaltung Macht, Medien und Manipulation. Beispiel: Die Erfindung von ‚Indogermanen‘, ‚Indoeuropäern‘, ‚Ariern‘ angekündigt. Es ist ein Projekt des „forschenden Lernens“, d.h. mit offenen Fragen die Suche beginnen und nicht entlang einer auf vorfabrizierten Theorien beruhenden Vorplanung das „Lernen“ üben.

Keiner hat ahnen können, daß das Seminar unter wechselnder studentischer Besetzung noch bis zum Wintersemester 2000/2001 fortgeführt werden muß. Immer auf Verlangen der Studierenden, wenn auch in wechselnder Besetzung – einige müssen aussteigen, andere kommen herein. Für die „neuen“ wird es immer zeitaufwendiger, das angesammelte Material, die Sitzungsprotokolle, Vorläufige Auswertungen durchzuarbeiten und erst danach Neues zu erforschen.

Als dann schließlich zu Beginn des Wintersemesters 2000/2001 über 35 Studierende an dem Seminar teilnehmen wollen werden wir nachdenklich. Ein Seminar des „Forschenden Lernens“ setzt einen überschaubaren Teilnehmerkreis von 5 bis 15 voraus. So wird in der ersten Sitzung das bislang Erreichte und die offenen Fragen ausführlich vorgestellt. Danach bleiben nur noch fünf übrig. Sie beschließen, ernsthaft Bilanz zu ziehen, einen Bericht zu schreiben und erst danach zu entscheiden, wie weiter geforscht werden kann. Im Verlauf dieser Arbeit bleiben nur noch zwei übrig. Diese beiden müssen keine Prüfung mehr machen.

Sie vervollständigen das angesammelte Material, um einen runden Überblick über das bislang Erreichte darzustellen. Erst bei dieser Auswertung des Materials wird klar, daß ohne die Beteiligung der Studierenden wechselnder Besetzung viele Fragen nicht ohne weiteres entstanden wären. Allen diesen Studierenden gebührt Dank. Sie haben ihren Anteil an diesem Buch.

Einer der beiden „Übriggebliebenen“ bedarf einer besonderen Erwähnung: Aldo Stowasser. Im Wintersemester 1997/98 kommt er im Alter von 71 Jahren als Gasthörer hinzu. Er ist geboren 1926 in Fiume, Italien (1947 umbenannt in Rijeka und von Jugoslawien annektiert, seit 1992 Kroatien), dreisprachig (Italienisch, Deutsch und Kroatisch) groß geworden. Er verfügt über solide humanistische und allgemeine Bildung. Er hat an der Universität Rom 2 Semester Philosophie und 2 Semester Jura studiert. Er blickt zurück auf Lebens– und Arbeitserfahrung in mehreren europäischen Ländern in so unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen wie Touristik und Bankwesen. Er ist neugierig und für neue Erkenntnisse aufgeschlossen. Er stößt bald auf Ungereimtheiten in den wissenschaftlichen Materialien und den in den Biographien gerühmten wissenschaftlichen Leistungen. Dann will er es wissen, recherchiert geduldig und hartnäckig, liefert umfangreiche Beiträge. Er ist polyglott geblieben. Alle Übersetzungen aus den lateinischen, den italienischen, den französischen Urquellen hat er gemacht. Viele aus den englischen auch. An der Korrektur des Manuskripts hat er bis zur Drucklegung mitgearbeitet.

Unsere Vorgehensweise ist im Prolog beschrieben und begründet. Sollten in unserem Bericht über unsere Reise zu den Quellen Stolpersteine oder Verkürzungen vorgekommen sein, entschuldigen wir uns. Wir sind bei jedem notwendigen Schritt darüber erschrocken gewesen, daß unsere so einfach erscheinenden Fragen zu unzähligen Folgefragen geführt haben. Außerdem sind die Urtexte nicht widerspruchsfrei. Wir haben viele dieser Texte mehr als einmal lesen müssen. Unsere Stolperstellen haben wir durch Signale kenntlich gemacht. Diese sind in Klammern gesetzte Ausrufezeichen, Fragezeichen und Kurzkommentare. Viele Worte haben wir in Anführungszeichen gesetzt. Es sind Ausdrücke, Begriffe über die wir mehr als einmal nachdenken mußten. Dies zur Begründung unserer Entschuldigung.

Wir haben uns häufig darüber gewundert, warum wir auf viele der Fragen in diesem Buch nicht schon früher gekommen sind. Wären wir noch ein eingebundener Teil des Betriebes „Universität“ gewesen, wäre dieses Buch auch nicht zustande gekommen. Wie schon angedeutet, wir müssen keine Prüfungen mehr machen. Und wir sind jenseits des Drucks: veröffentliche oder verrecke.

Dr. Gisela Aich hat das Manuskript in jeder Phase kritisch begleitet.

Prodosh Aich

Prolog
Wir sind, was wir wissen

Und wir wissen das, was Berufene uns erzählen. Wie gesagt, wenn die Erzählung stimmig ist, wenn sie in uns kein Unbehagen erzeugt, wenn die Erzählung nicht in Widerspruch zu unserer Erfahrung und zu unserem bereits gespeicherten Wissen gerät, sehen wir keine Veranlassung, das Erzählte nicht anzunehmen. Wir ordnen die neuen Bestandteile zu den übrigen ein und wir wissen etwas mehr. Erzählungen aus fernen Bereichen nehmen wir argloser an. Ansonsten ist eine innere Auseinandersetzung fällig. Vorausgesetzt, unser Gedächtnis funktioniert, wir haben Zeit und können den Widerspruch nicht ohne weiteres verdrängen. Daran haben wir uns gewöhnt. Meist haben wir auch keine Zeit zu fragen, wer der Erzähler ist, wie er zu seiner Erzählung kommt, wie er seinen Lebensunterhalt verdient, wem die Erzählung dient, wen sie schadet, usw.

 

Wir wollen alles über „Arier“, „Indogermanen“ und „Indoeuropäer“ wissen. Und wir finden Geschichten. Wer kennt sie nicht? Wir finden sie in Nachschlagewerken, in den „Standardbüchern der Geschichte“ und ausführlicher in den speziellen Geschichtsbüchern. Demnach sollen „Arier“ als Nomadenhirten in den Steppen zwischen dem Kaspischen Meer und der heutigen chinesischen Westgrenze beheimatet gewesen sein. In „vorgeschichtlicher“ Zeit. Wie definiert sich vorgeschichtlich? Wie auch immer. Diese weidenden Nomaden sollen sich als die ersten Menschen Pferde und Kühe für das tägliche Leben nutzbar gemacht haben. So etwa vor 6000 Jahren. Sie entdecken Kupfer, Eisen und andere Edelmetalle. Sie erfinden Bronze und Stahl. Ihnen geht es gut. Sie vermehren sich heftig. Sie erweitern ihren „Lebensraum“. Wessen „Lebensraum“ sie dabei wegnehmen? Wer soll uns das erzählen? Ist es wichtig zu wissen? Vielleicht haben sie sich nur den „Lebensraum“ der Tiere angeeignet. Ein frühes „Entdeckungszeitalter“ etwa? Es ist uns halt nicht überliefert. Wären Fragen, wie wir sie stellen, wichtig genug, würden wir sie auch beantwortet finden. Oder etwa nicht?

Teile dieser weidenden Nomadenvölker sollen mit Kühen, Pferden, Kupfer, Eisen, Bronze und Stahl ausgewandert sein. Nach Westen und nach Süden. Die näheren Umstände der Erweiterung des „Lebensraumes“ sollen durch die Tücken der „Früh– und Vorgeschichte“ verschleiert, gar verschüttet sein. Wenn diese weidenden Nomaden tatsächlich ausgewandert sein sollen, können wir uns in etwa vorstellen, warum sie nicht nach Norden, in die Kälte, in die unwirtliche Gegend gegangen sind. Aber warum haben sie nicht ihren „Lebensraum“ nach Osten ausgedehnt? Keiner erzählt es uns. Keiner hat gefragt.

Aber über den Tatbestand der Ausweitung des „Lebensraumes“ soll kein Zweifel bestehen. Als Kulturmenschen haben sie selbstverständlich eine gemeinsame Sprache. So wandert die Sprache mit ihnen. Ein Teil dieser „arischen“ Wandersleute soll Nordwestindien erreicht haben. Der Hindukush ist der einzige Paß durch das Himalaja–Massiv. Wie diese Nomaden aus der turkmenischen Steppe diesen Tausende Kilometer entfernten einzigen Paß gefunden haben? Müssen wir uns mit solchen nutzlosen Fragen aufhalten? Wichtig scheint nur, daß sie den Paß gefunden haben. Sonst wären sie ja nicht in Indien angekommen. Sie sollen groß, stark, hellhäutig, hellhaarig, blau– bzw. grauäugig gewesen sein. Und „dynamisch“ natürlich auch! Sonst würden sie ja den weiten Weg nicht geschafft haben.

Sie werden in Nordwestindien seßhaft. Sie haben ihre Sprache mitgebracht. Logisch. Sanskrit soll sie gewesen sein. Aber keine Schrift. Die Schrift sollen sie erst in Indien erfunden haben. Hätten sie auch eine Schrift mitgebracht, hätten wir diese ja auch in ihrem ursprünglichen Heimatgebiet finden müssen. Aber nirgendwo ist diese Schrift gefunden worden. Also wird gefolgert, daß sie erst im nordwestlichen Indien den Bedarf einer Schrift für die Speicherung ihrer Kenntnisse für künftige Generationen spüren und an die Arbeit gehen. Wie lange dauert es, bis eine Kulturgemeinschaft eine Schrift erfindet? „Philologen“ oder „Vergleichende Sprachwissenschaftler“ haben uns nichts darüber erzählt. Wir müssen uns damit begnügen, daß sich jene „Arier“ aus Zentralasien auf die Wanderschaft begeben, den Hindukushpaß entdecken, die Bewohner des wirtlichen nordwestlichen Indien nach Süden verdrängen, selbst seßhaft werden, sich neues Wissen aneignen, eine Schrift erfinden und dann eine Menge anspruchsvoller Schriften produzieren. Wir wissen natürlich auch nicht, wohin die aus dem Norden vertriebenen Menschen ihrerseits jene im Süden lebenden Menschen vertrieben haben.

So weit, so gut. In den ältesten dieser Schriften sollen sich die Neu–Inder „Arier“ genannt haben. So wird uns erzählt. Wir werden uns noch mit jenen beschäftigen müssen, die uns diese Geschichten zum erstenmal erzählt haben. Es wird aber von keinem erzählt, warum nur dieser Teil sich „Arier“ genannt haben soll, nicht aber ihre Brüder, Schwestern und Vettern anderswo auch, beispielsweise im Westen und/oder die daheim Gebliebenen, wenn sie doch alle „Arier“ gewesen sind? Wieso nicht? Sollten wir es nicht wissen wollen?

Also bleiben wir noch eine kurze Weile bei dem uns verfügbarem Wissen. Es wird uns versichert, daß die Neu–Inder sich „Arier“ genannt haben und die mitgebrachte Sprache dieser „Arier“ „Sanskrit“ gewesen ist. Sanskrit gilt allseitig als die am besten geordnete Sprache. Weil aber Sanskrit sonst nirgendwo gefunden worden ist, so wird logisch gefolgert, müssen wohl die nomadisierenden „Arier“ in Zentralasien eine einfachere Form von Sanskrit gesprochen haben. So wird uns erzählt. Diese einfachere Form, das frühe Sanskrit, Sanskrit im Kindesalter etwa, wird das „Protosanskrit“ genannt. Dieses frühe Sanskrit also breitet sich aus. Dieses „Protosanskrit“ nehmen die „Arier“ aus der Steppe Zentralasiens auch nach Westen mit. Klingt absolut logisch, nicht wahr? Aber es bleibt nicht in seiner ursprünglichen Form. Mit der Zeit und durch die Berührung mit anderen Sprachen im unterschiedlichen Erdteil haben sich Sprache und Kultur der „Arier“ unterschiedlich weiterentwickelt. Aber die Verwandtschaft ist natürlich geblieben. Sowohl in der Sprache und auch sonst. So wird uns erzählt. Eine einleuchtende Erzählung.

Es soll hinreichend nachgewiesen sein, daß zwischen Sanskrit, der Sprache der nordwestindischen „Arier“ einerseits und Griechisch, Latein, germanischen und keltischen Sprachen andererseits, eine enge sprachliche Verwandtschaft besteht. Die Familie der „indoeuropäischen“ Sprachen, sozusagen. Und wer diese Verwandtschaft erkannt und nachgewiesen hat? Nicht die „Arier“, die über den Hindukush nach Nordwestindien passierend ihre weltbekannten Schriften, – Veden, Upanishaden, Puranas, Sutras, usw. – verfaßt und sich in ihnen als „Arier“ verewigt haben sollen. Nein. Sie haben in ihren vielen Schriften nicht einmal erwähnt, daß ihnen ihr „Lebensraum“ einst zu eng geworden ist und viele ihrer Brüder, Schwestern, Kusinen und Vettern wie sie selbst auch, auf der Suche nach neuem „Lebensraum“ gewesen und auch anderswo eingewandert sind. Nein. Die „Sanskrit–Arier“ haben keine Erinnerungen mehr, außer daß sie „Arier“ gewesen sein sollen. Ein absolutes „black-out“, was dies angeht. Reklamiert wird die Verwandtschaft durch die entfernten Kusinen und Vettern aus dem „Abendland“. Als sie mittendrin auf Beutepfad im „Morgenland“ sind. Sie rauben zwar Indien aus, schleppen alles weg, was nicht niet– und nagelfest ist, besetzen das Land und beuten es dauerhaft aus. Aber sie bescheren ihren entfernten Kusinen und Vettern zunächst die „Sprachverwandtschaft“ und dann die „Sprachwissenschaft“. Dieser „Wissenschaftszweig“ hat auch den Begriff „Sprachfamilie“ erfunden, aber erst im 19. Jahrhundert nach Chr., genauer zwischen dem Ende des 18. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts.

Begriffe wie Familie und Verwandtschaft aber, auch wenn sie in Zusammenhang mit Sprachen kreiert werden, entwickeln ihre Eigendynamik. Der „abendländische“ Erfindergeist ist auch damals rege gewesen. Wenn also, haben die weitläufigen Verwandten aus dem „Abendland“, eher Vettern als Kusinen, gedacht, wenn also ihre Sprachen einen gemeinsamen Ursprung haben, dann gehören sie auch zur gleichen Familie, dann besteht doch auch eine „Blutsverwandtschaft“, selbst wenn sie durch die Jahrhunderte in Vergessenheit geraten ist. So wird der „Arischen Sprache“ kaum fünfzig Jahre später die „Arische Rasse“ hinzugefügt. Und uns werden auch noch weitere „Wissenschaftszweige“ beschert. Die Ethnologie, die Anthropologie, die Psychologie, die Psychoanalyse, usw.

*****

In der Encyclopaedia Britannica 1995 lesen sich diese Erfindungsvorgänge so: „Während des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Theorie einer ‚Arischen Rasse‘ – besonders emsig propagiert durch den Comte de Gobineau und später durch seinen Jünger (disciple) Huston Stewart Chamberlin –, die ‚Indoeuropäische‘ Sprachen sprechend, alle fortschrittlichen Errungenschaften für die Menschheit bewerkstelligte und moralisch überlegener war als die ‚Semiten‘, ‚Gelben‘ und ‚Schwarzen‘. Die ‚Nordischen‘ und die ‚Germanischen‘ Völker wurden als besonders reine ‚Arier‘ angesehen. Eine Theorie, die im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts von Anthropologen zurückgewiesen worden ist, die aber Adolf Hitler und die Nazis ergriffen hatten und zur Liquidierung von Juden, Zigeunern und anderen ‚Nicht–Ariern‘ durch die Deutsche Regierung als Grundlage diente.

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hat aber bewiesen, daß diese Zurückweisung der „Arischen Theorie“ durch Anthropologen keinerlei Wirkung gehabt hat. Hätten die Anthropologen, Historiker, Indologen, Politologen und Sozialwissenschaftler dieser Kultur nicht auch aus ihrer eigenen beruflichen Erfahrung heraus wissen müssen, daß eine bloße Zurückweisung eher bestätigend wirkt? Hätten sie nicht als Macher einer „Mediengesellschaft“ wissen müssen, daß „Dementis“ das Gesagte verstärken? Was haben die Anthropologen oder Vertreter anderer neuen Wissenschaften unternommen, nachdem feststand, daß die Zurückweisung der Theorie über die angebliche Überlegenheit der „Arischen Rasse“ nichts gefruchtet hat?

1990 wird vom „Max Mueller Bhawan (Haus)“ in Neu Delhi die zweite revidierte Ausgabe der Biographie deutscher Indologen herausgegeben. Die deutsche Kulturvertretung heißt in Indien nicht „Goethe Institut“, sondern sinnigerweise Max Mueller Haus, genannt nach Friedrich Maximilian Müller. Auf ihn kommen wir noch ausführlich zurück. Diese revidierte Ausgabe enthält 130 Biographien deutscher Indologen, die durch Veröffentlichungen über die frühe Geschichte Indiens auffällig geworden sind. Der letzte in dieser „Ahnengalerie“ ist 1931 geboren. Es ist nicht so, daß es danach keine Indologen mehr gegeben hat. Es wird in Deutschland und auch anderswo noch emsig „geforscht“. Viele Bücher werden gedruckt. Die „Arische Rasse“ lebt.

Helmuth von Glasenapp (1891–1963) hat viel über Religion und Philosophie geschrieben. Hohe Auflagen. Wir zitieren aus einer „ungekürzten Taschenbuchausgabe“, gedruckt 1997 als 6. Auflage, seines 1963 erschienen Buches: Die fünf Weltreligionen. Das Judentum hat er nicht dazu gezählt. Wir lesen auf Seite 29 unter der Überschrift „Die geschichtliche Entwicklung“: „Die alte Stadt Prayāga (d. h. Opferstätte), welche die Mohammedaner mit dem uns geläufigem Namen ‚Allâhâbâd‘ (Wohnsitz Allâhs) belegten, ist der heiligste Ort Indiens, weil sich hier die beiden heiligen Ströme Ganges und Yamunā vereinigen. Das ist sinnbildhaft für den Hinduismus: er ist seinem Wesen nach selbst gleichsam der Vereinigungspunkt von zwei großen Entwicklungsströmen, die, aus verschiedenen Ursprüngen stammend, für ihren weiteren Lauf zu einer neuen Einheit verschmolzen: der eine dieser Ströme ist das Ariertum, das vor vier Jahrtausenden aus dem Norden nach Indien eindrang und es in sprachlicher und kultureller Hinsicht weitgehend umgestaltete, der andere Strom wird durch das bodenständige Element repräsentiert, das, in sich vielgestaltig, schon vor der arischen Einwanderung in Indien saß und bis heute seine Eigenart zu behaupten gewußt hat. Der schöpferischen Synthese dieser beiden Komponenten verdankt die indische Kultur ihre Entstehung; durch sie erhielt die indische Religion ihre einzig in der Welt dastehende Ausprägung.

Ist das nicht hübsch, leichtgängig und einleuchtend geschrieben? Unter der Überschrift: „Die vorarische Zeit“ lesen wir auf Seite 31: „Die älteste Geschichte Indiens ist uns heute noch ein Buch mit sieben Siegeln. Ethnographen nehmen an, daß die ältesten Bewohner des vorderindischen Kontinents, der allerdings damals noch nicht seine heutige Gestalt hatte, Negride gewesen sind, die zu ihren Stammesgenossen in Afrika und Melanesien in räumlichem und genetischem Zusammenhang standen. Diese sollen dann durch aus dem Norden kommende Europide nach dem Süden und in abgelegene Gebiete abgedrängt und allmählich aufgesogen worden sein, so daß sie heute nicht mehr in reinem Zustande vorhanden sind. Unter den Europiden, die, in mehreren Wellen vorrückend, in dem weiten Lande ihren Wohnsitz nahmen, repräsentierten den am meisten entwickelten Typus die Vorfahren der heute noch im Süden dravidische Sprachen redenden grazilen braunen Völker. ... Noch vor fünfzig Jahren (also um 1913) ging die herrschende Ansicht dahin, daß erst die Arier eine höhere Kultur und Religion nach Indien gebracht hätten, daß die vorarischen Bewohner des Gangeskontinents aber kulturarme Primitive gewesen seien. Diese Vorstellung änderte sich von Grund auf durch die großen archäologischen Entdeckungen, die seit den Jahren 1921/1922 im Indusgebiet gemacht worden sind. In Mohenjo Daro (in der Landschaft Sindh) und in Harappa (im Panjâb) wurden damals die Ruinen großer Städte freigelegt. Die dort gefundenen geräumigen Bauten, kunstvollen Werkzeuge und formschönen Plastiken verraten einen Stand der Kultur, der dem der nur in Dörfern wohnenden Arier, die noch keine ausgebildete Technik und Kunst besaßen, hoch überlegen war. Diese sogenannte Induskultur weist eine auffallende Ähnlichkeit mit der gleichzeitigen Kultur Vorderasiens auf, trägt andererseits aber wieder so individuelle Züge, daß sie nicht als bloßer Ableger derselben betrachtet werden kann, sie ist deshalb als ein selbständiges Glied der internationalen Weltkultur des 3. Jahrtausends anzusehen. ... Während einige Forscher die Indusleute für Indogermanen halten, die nicht dem arischen Zweige, sondern einer älteren Gruppe dieser Sprachfamilie angehörten, nehmen die meisten an, daß sie Vorfahren der Draviden waren und als solche zu den Sumerern und vor–indogermanischen Mittelmeervölkem in nähere Beziehung zu setzen sind.

 

Ist das nicht entzückend erzählt? Warum kommt Helmuth von Glasenapp nicht auf die naheliegende Schlußfolgerung, daß nach den Ausgrabungsergebnissen die bisher erzählten Geschichten gründlich abgestürzt sind? Leider können wir ihn nicht mehr fragen. Wir können aber auf Seite 32 unter der Überschrift „Die Vedische Periode“ weiter lesen: „Die Arier, welche im 2. Jahrtausend v. Chr. über die Gebirgsstraße des Nordwestens in das Stromgebiet des lndus einwanderten und in ständigem Kampfe mit den Vorbewohnern sich den Nordwestzipfel Indiens unterwarfen, waren ein jugendfrisches Volk von Hirtenkriegern, die zwar schon etwas Ackerbau trieben, denen jedoch der Städtebau und ein höheres Kunstschaffen noch fremd war.

Wir entschuldigen uns für das lange Zitieren. Wie gesagt, wir haben ein Taschenbuch mit hoher Auflage vor uns. Es hat einen anspruchsvollen Anhang: „Vergleichende Übersicht über Lehre und Brauchtum der Fünf Religionen“, „Vergleichende Zeittafel“, „Zur Aussprache der Wörter der Asiatischen Sprachen“, „Verzeichnis der Abkürzungen“, nach Abschnitten orientierte „Literatur“ und „Namen und Sachregister“. Ein „wissenschaftliches“ Buch in Reinkultur also. Wir enthalten uns an dieser Stelle einer inhaltlichen Kritik. Wir stellen nur die schlichte Frage: woher kennt Helmuth von Glasenapp alle diese Geschichten, die er uns in diesem anscheinend anspruchsvollen Buch erzählt?

Also schauen wir ins Literaturverzeichnis. Für den ersten Abschnitt „Religionsgeschichte, Religionswissenschaft allgemein“ gibt es eine Dreiteilung. Die älteste erwähnte Quelle für den Teil „Gesamtdarstellungen“ datiert von 1920, für den Teil „Nachschlagewerke“ von 1956 und für den Teil „Quellen“ von 1908. Für den nächsten Abschnitt: „Brahmanismus und Hinduismus“ gibt es eine Zweiteilung. Aus Gründen, die wir nicht kennen. „Nachschlagewerke“ und „Gesamtdarstellungen“ sind zusammengefaßt. Darin ist die älteste erwähnte Quelle von 1891 und für „Quellen“ 1912. An keiner Stelle des Buches ist eine Quellenkritik zu finden. Ist denn für Helmuth von Glasenapp jedes gedruckt überlieferte Wort heilig? Welchen Nutzen soll eine Quellenkritik auch haben? Ist es nicht deprimierend, was als Wissenschaft verkauft wird? Wie sieht es in anderen „wissenschaftlichen“ Büchern aus? Wir haben bislang eine andere „wissenschaftliche Kultur“ nicht feststellen können. Deshalb haben wir uns vorgenommen, bevor wir uns mit der Erzählung eines „modernen Geisteswissenschaftlers“ auseinandersetzen, schlicht zu fragen, wer der Erzähler ist, wie er seine Brötchen verdient hat, wer seine Erzählungen fördert, wem seine Erzählungen Nutzen gebracht haben und wie seine Quellen aussehen. Das bisherige Ergebnis unserer Übung ist noch deprimierender. Aber alles der Reihe nach. Bei Helmuth von Glasenapp haben wir keine Urquelle entdecken können. Aber Kenntnisse über menschliche Rassen unterschiedlicher Wertigkeit sind ihm nicht fremd gewesen. Im „Tausendjährigen Reich“ hat er keinen Karriereknick erleben müssen.

Angesichts dieser modernen Wissenschaftskultur, offenbart durch das Buch von Helmuth von Glasenapp, hat uns nicht weiter verwundert, daß in der neuesten Ausgabe dieses Buches Quellen angegeben werden, die nach 1963, also nach seinem Tod, überhaupt erst entstanden sind. Natürlich nicht Quellen, sondern neue Druckerzeugnisse. Aus dem Kleingedruckten können wir erfahren, daß es „eine Anzahl anderer Werke, vorwiegend jüngeren Datums, die für eine weitere Beschäftigung mit den fünf großen Religionen geeignet erscheinen“ gibt. Wir hätten gern gewußt, welcher „Geist“ diese ‚Anzahl anderer Werke‘ ausgewählt hat und ob dieser „Geist“ auch in dem Text herumgefummelt hat. Damit sich das Buch besser verkaufen läßt!

In einem „Standardgeschichtsbuch“ in Deutschland, Geschichte Indiens: von der Induskultur bis heute / Hermann Kulke; Dietmer Rothermund. – 2. Verbreiterte und aktualisierte Auflage, Beck, München 1998; erste Auflage 1982 –, liest sich der gleiche Erfindungsvorgang auf den Seiten 44–45 so: „Das zweite Jahrtausend v. Chr. wurde – nach dem Untergang der Induskultur – Zeuge eines weiteren bedeutenden Ereignisses der frühindischen Geschichte, als Gruppen zentralasiatischer Nomaden, die sich in ihren Schriften ‚Arya‘ nannten, über den Hindukush nach Nordwestindien einwanderten. Im Jahre 1786 entdeckte William Jones, der Begründer der Asiatic Society in Calcutta, die enge sprachwissenschaftliche Verwandtschaft zwischen Sanskrit, der Sprache der Aryas, Griechisch, Latein, und den germanischen und keltischen Sprachen. Diese epochale Erkenntnis legte den Grundstein für die Erforschung der indo–europäischen Sprachgemeinschaft, zu der nach unserem heutigen Wissen weit mehr Sprachen zählen als Jones zunächst angenommen hatte. Seit dem späten 19. Jahrhundert setzte sich in der Forschung mehr und mehr die Überzeugung durch, daß der Ursprung dieser indo–europäischen Sprachfamilie in den Weiten der osteuropäischen und zentralasiatischen Steppe zu suchen sei (Diesen Entdecker William Jones nehmen wir als Merkposten auf.).

Die bedeutenden Erkenntnisse der frühen Sprachwissenschaftler über die engen linguistischen Beziehungen innerhalb der indo–europäischen Sprachfamilie wurden jedoch zunehmend von rassistisch–nationalistischen Ideologien überschattet, die den Ursprung der eigenen Nation in einer mystisch–arischen Rasse postulieren. Dies trifft seit dem 19. Jahrhundert besonders auf deutsche nationalistische Historiker und in etwas jüngerer Zeit auch auf nationalistische Historiker Indiens zu. Diese Entwicklung hatte in Europa verheerende Folgen und führte in jüngster Zeit auch in Indien zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Historikern und zu schweren kommunalistischen Unruhen. Im Kontext der frühen indischen Geschichte erscheint es daher geboten, in der deutschen Sprache von ‚Aryas‘ zu sprechen, um diese frühgeschichtlichen Sprachgruppen Nordwestindiens von dem neuzeitlichen, ideologischen Konstrukt der ‚Arier‘ als einer mystischen Urrasse der Indo–Europäer deutlicher als bisher zu unterscheiden.

Ist diese Darstellung nicht um einige Grade zynischer als sie in der Encyclopaedia Britannica verbreitet wird? Stehlen sich diese „Historiker“ nicht aus der moralischen Verantwortung ihrer eigenen sogenannten wissenschaftlichen Tätigkeiten? Sie reden auch heute von ‚der indo–europäischen Sprachfamilie‘, sagen uns aber nicht, wer nicht dieser Sprachfamilie zuzurechnen ist. Sie tun so, als ob für sie das Problem mit dem Ende des „Tausendjährigen Reichs“ längst erledigt sei. Vor allem, wenn sie den Begriff „Arier“ aus ihrer Wissenschaft tilgen. Nicht ganz. Aber deutlich anders buchstabieren. Nun sollen die indischen Historiker mit dem Problem fertig werden. Geht es noch scheinheiliger?

Die eingewanderten „Arier“ bringen also die „arische“ Sprache „Protosanskrit“ mit nach Nordwestindien. Danach verfeinern sie ihre Sprache zu Sanskrit, erfinden die Sanskritschrift und überliefern uns eine Fülle von anspruchsvoller Literatur. Die auf diese Zeit und auf diese Region spezialisierten „modernen Historiker“ in Europa sind emsig damit beschäftigt, das Entstehungsdatum dieser in Sanskrit verfaßten umfangreichen Literatur zu bestimmen. Denn: was kann schon wichtiger sein, als das genaue Entstehungsdatum der einzelnen Schriften bestimmen zu wollen und darüber mit den Fachkollegen „wissenschaftlich“ zu streiten?

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