Lügen mit langen Beinen

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Der zweite Aspekt ist noch deprimierender. ‚Schwerwiegender aber scheint der Widerstand der einheimischen Bevölkerung gewesen zu sein. Als dunkelhäutige Dasa oder Dasyu werden sie in den Texten immer wieder als die eigentlichen Widersacher der Eroberer genannt.‘ Wir haben schon erwähnt, daß nach der Darstellung dieser Historiker und Indologen die „Arier“ groß, stark, hellhäutig, hellhaarig, blau– bzw. grauäugig gewesen sein sollen. Weil auch heute die äußeren Körpermerkmale positiv bewertet werden und diese Bewertung den Angehörigen dieser Kultur in Fleisch und Blut eingedrungen ist, werden wir ebenfalls nachspüren, seit wann Körpermerkmale für die Unterscheidung von Menschen überhaupt herangezogen werden und wo diese Unterscheidung ihren Anfang genommen hat.

Eine allerletzte Anmerkung über die trügerischen Künste der „modernen Geisteswissenschaftler“. Seit dem 3. Drittel des letzten Jahrhunderts buddeln Archäologen ganze Städte aus, die Jahrtausende unter der Erde verdeckt waren. Es sind geplante Städte. Mit zusammenhängenden Siedlungen, geraden Straßen, Spielfeldern mit Stadion, effizienter Wasserwirtschaft, öffentlichen Bädern, Abwasserkanälen, künstlichen Bewässerungsanlagen, Kanalsystemen, Trockendocks usw. an Bänken riesiger durch Dürre ausgetrockneter Flüsse. Die Städte hatten keine Paläste und keine Tempel. Eine ernsthafte Diskussion hätte zumindest über eine Frage längst beginnen müssen. Ist es denkbar, daß eine derartige Zivilisation ohne Sprache, ohne Schrift, ohne Literatur, ohne Wissenschaft, ohne Philosophie hätte existieren können? Fehlanzeige. Aber die Antwort auf diese Frage ist unzweifelhaft „nein“. Wo sind diese Kulturleistungen?

Und was wäre dann, wenn wir begründeten Zweifel haben müßten, daß Sanskrit die Sprache der ‚Arier, welche im 2. Jahrtausend v. Chr. über die Gebirgsstraße des Nordwestens in das Stromgebiet des lndus einwanderten und in ständigem Kampfe mit den Vorbewohnern sich den Nordwestzipfel Indiens unterwarfen, ein jugendfrisches Volk von Hirtenkriegern (waren), die zwar schon etwas Ackerbau trieben, denen jedoch der Städtebau und ein höheres Kunstschaffen noch fremd war‘, gewesen ist? Ja, was sollten wir dann sagen? Was müßten wir dann tun?

Was geschieht mit uns?

Eigentlich haben wir doch nur etwas Genaues über „Indogermanen“, „Indoeuropäer“ und „Arier“ wissen wollen. Wer sie sind, seit wann bekannt ist, daß sie es sind, wie bekannt geworden ist, daß es sie gibt, wer hat sie gefunden und wie und warum und wozu? Uns werden Geschichten erzählt, Erklärungen geboten, Zusammenhänge aufgezeigt, die fragwürdig sind. Sie stimmen nicht überein mit so vielem, was wir betrachten in unserer Umgebung und in unserer Welt. Also müssen wir weiter fragen. Zu Beginn erschienen uns unsere Fragen einfach. Dem ist nicht so. Wir suchen nach Antworten, schon seit über fünf Jahren. Wir finden keine. Falsch. Wir finden Antworten, aber keine überzeugenden. Es sind Antworten mit Haken und Häkchen. Antworten, die uns immer wieder zu mehr Fragen veranlaßt haben. Es ist, als ob wir mit unseren an sich schlichten Fragen die Büchse der Pandora aufgestoßen hätten. Fragen ohne Ende. Anscheinend.

Fragen ohne Ende fallen uns ein, weil es viele, zu viele ungeklärte Zusammenhänge gibt. Zur großen Politik wie auch zu Problemen des Alltags. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Kategorien wie „Indoeuropäer“ und „Arier“ einerseits und Jagd auf fremde Menschen andererseits? Müssen wir uns beispielsweise nicht fragen, welches die Zusammenhänge für die Jagd auf fremde Menschen in den reichen Ländern sind? Werden alle Fremden gejagt? Was ist fremd? Wie wird die Fremdheit wahrgenommen? Wo beginnt die Fremdheit? Wie definiert sich „fremde Rasse“? Wie ist ihre Wertigkeit? Kann es Verfolgung „fremder Rassen“ ohne die Erfindung von „Rasse“ geben? Wer hat wann „Rasse“ erfunden? Viele Geschichten werden erzählt. Allerlei Geschichten über „die Anderen“, über „die Fremden“, über deren Kulturen, die durch die „modernsten“ Transportmittel, die „Medien“, zu uns gebracht werden und von uns vermehrt konsumiert werden. Überall. In den reichen Ländern mehr. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Verfolgung fremder Menschen und dem schnellen Transport dieser Geschichten?

Lassen nicht solche Geschichten ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber allen anderen entstehen? Über Armut, über Katastrophen, über Inkompetenz, über Korruption, über Willkür? Und Überlegenheit gegenüber Personengruppen wie Asylsuchende und Asylanten, über Flüchtlinge und Wirtschaftsflüchtlinge, über unerwünschte und nützliche Einwanderer, über Obdachlose und arbeitsscheue Sozialhilfeempfänger, usw., usw.? Sind wir nicht besser dran? Haben wir nicht mehr aus uns gemacht? Wir? Wir die Zivilisierten, die Überlegeneren? Müssen wir nicht stolz auf uns sein?

Seit wann lernen wir, daß es eine unterschiedliche Wertigkeit von Menschen nach äußeren Merkmalen gibt wie: groß – klein, stark – schwach, blond – nichtblond, blauäugig – nichtblauäugig, weiß – schwarz und die vielen anderen „rassischen“ Merkmale. Was ist „Rasse“? Seit wann gibt es das Bewußtsein, daß es „Rassen“ von Menschen mit unterschiedlicher Qualität gibt? Wann ist die „arische Rasse“, die in allen Belangen den übrigen „Rassen“ überlegen sein soll, erfunden worden? Und wann ist zum ersten Mal vom Stamm der „Indogermanen“ bzw. der „Indoeuropäer“ gesprochen worden? Entdeckt oder erfunden? Gibt es tatsächlich die „arische Rasse“, die „Indogermanen“, die „Indoeuropäer“, oder sind es doch nur nützliche Phantasien? Seit wann gibt es Kategorien wie: „Wir“ und „die Anderen“?

Müssen wir uns beispielsweise nicht fragen, wie reiche Länder reich geworden sind? Wieso werden die Reichen immer reicher, auch innerhalb der reichen Länder? Wieso jagen die reichen Staaten waffentechnisch unterlegene Staaten? Wieso verstecken sich die reichen Staaten hinter immer unterschiedlicheren Fassaden wie beispielsweise die „NATO“, die „internationale Staatengemeinschaft“ und jagen gemeinsam andere Staaten und attackieren andere Kulturen. Was ist die „NATO“? Was ist die „internationale Staatengemeinschaft“? Wer steckt dahinter? Welche Staaten sind es, die sich zu dieser „internationalen Staatengemeinschaft“ zusammengefunden haben? Warum reichen dieser „internationalen Staatengemeinschaft“ die „Vereinten Nationen“ nicht? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Jagd der „internationalen Staatengemeinschaft“ auf die schwachen Staaten einerseits und der Jagd auf fremde Menschen innerhalb dieser „Staatengemeinschaft“ anderseits? Und dann: Wer innerhalb dieser „Staatengemeinschaft“ jagt wen? Sind die Gejagten nur Fremde?

Müssen wir uns nicht fragen und wissen wollen, wie es den Heranwachsenden zu Mute ist, wenn „Promis“ mit Leibwächter die „anständige Bevölkerung“ auffordern, in der Öffentlichkeit „Gesicht“ zu zeigen und den „Aufstand der Anständigen“ zu proben? Im 21. Jahrhundert? Würden beispielsweise die gleichen Aufforderungen in Deutschland erfolgen, wenn die Neonazis nicht Synagogen und jüdische Friedhöfe schänden würden, aber doch Jagd auf Menschen „minderwertiger Rassen“ machten? Oder wenn überall innerhalb der „Staatengemeinschaft“ Synagogen und jüdische Friedhöfe im gleichen Umfang geschändet würden?

Fällt es nicht auf, welche Inflation von Erklärungen für diese Übergriffe von den vielfältigen „Medien“ geliefert wird? Ist es nicht immer ein Wettkampf der Prominenten untereinander, um die griffigste, um die am leichtesten verkäufliche Erklärung loszutreten? Zu welchen Themen auch immer? Wie heißt es so schön? Heißt es nicht unisono, Themen „besetzen“? Themen besetzen? Damit nicht auch bestimmte Antworten? Wie sollen wir in diesem lautstarken Lärm uns noch die Zeit nehmen zu fragen: was war in Solingen, Hoyerswerda, Rostock oder wo auch immer? Hat es nicht schon immer „einen Aufstand der Anständigen“ gegeben?

Wer erinnert sich noch, was beispielsweise die deutsche Filmregisseurin Doris Dörries anläßlich „eines Aufstandes der anständigen Kulturpromis“ nach den mörderischen Übergriffen in Rostock im Thalia Theater in Hamburg als etwas Programmatisches unterbreitet hatte? Sie hatte damals gemeint, daß das „Wegschauen“ nichts mit dem „Anstand“, sondern mit der Angst zu tun hat. Angst gegenüber Rowdies. Deshalb sollte jeder, so Doris Dörries im Thalia Theater in Hamburg, jeder sollte ein für alle sichtbares Zeichen in der Öffentlichkeit tragen (an dem Tag trugen viele ein lila Band) , damit wir an allen Orten wissen, daß wir gegen Rowdies nicht allein sind. So hatte Doris Dörries damals gemeint. Liveübertragung im öffentlich–rechtlichen Fernsehen. Riesenbeifall. Wie gesagt: nach „Rostock“. Wissen wir noch, wann „Rostock“ war? Vergessen wir nicht immer mehr. Immer schneller. Wieso wird unser Gedächtnis immer kürzer?

Dann im Jahre 2000 wird von „Promis“ mit „Body–guards“ vorgeschlagen, „Gesicht“ zu zeigen. Zehn Jahre nach „Rostock“. Wie sollen wir angesichts dieser Verhältnisse noch fragen können, was vor „Rostock“ war? Vor den „Türkenwitzen“? Vor den „Gastarbeitern“? Vor der „Reichskristallnacht“? Vor der Machtübernahme Hitlers? Vor „Mein Kampf“? Vor dem Ersten Weltkrieg? Vor dem Kolonialismus? Vor dem Zeitalter der „Aufklärung“? Fragen ohne Ende. Und natürlich ohne Antworten, weil wir ja solche Fragen eigentlich nicht stellen, nicht stellen sollen.

Aber wir haben uns an diese Spielregel nicht gehalten. Wir üben, Fragen zu stellen. Beispielsweise: Ist die Alltagsgewalt von heute tatsächlich neu? Die tägliche Jagd auf Fremde, auch gegen die sozial Schwachen wie Kinder, Frauen, Arme. Was sind die Grundpfeiler dieser Kultur, für die findige Köpfe – gut dotiert – sich immer neue Namen einfallen lassen und uns diese durch die vielfältige Mediengewalt täglich einhämmern? Zwingt nicht das Tempo der fortschreitenden Entwicklung die „Wissenschaftler“ den jeweiligen Stand dieser Kultur mit einem entsprechenden Namen zu charakterisieren? Bekommen wir nicht alle Jahre wieder einen neuen Namen für die gerade gegenwärtige Kultur bzw. Gesellschaft verpaßt? Hält die Namengebung noch Schritt mit dem „Fortschritt“? Können wir uns an all die Namen erinnern?

 

An einige Namen erinnern wir uns schon, die der Kultur oder der Gesellschaft vorangestellt wurden: Christliche, abendländische, europäische, industrielle, westliche, Nachkriegs–, demokratische, moderne, humanistische, post–industrielle, formierte, solidarische, Freizeit–, Informations–, Risiko–, Medien–, offene, globale, Internet–, interaktive, Spaß–, Fernseh–, usw., usw. Ist dieses Ritual der Namengebung, all die diversen Bezeichnungen für ein und dieselbe Gesellschaft, eher ein Ausdruck besonderer Phantasie, besonderer Genauigkeit? Oder ein Ausdruck der Verlegenheit? Eine Suche nach Identität? Oder der verzweifelte Versuch, wesentliche Charakteristiken dieser Kultur zu verschleiern, die Aufmerksamkeit ständig auf den oberflächlichen Wandel und auf die technologische Entwicklung zu lenken? Wer hat Angst davor, daß wir die Grundpfeiler unserer Kultur selbst entdecken und sie benennen? Sind wir dazu nicht in der Lage? Sind wir zu dumm? Wenn es so wäre, warum das unaufhörliche Einhämmern, warum so viel Aufwand um die sogenannte politische Bildung? Oder sind wir doch nicht dumm? Und deshalb das Einhämmern? Pausenlos. Wir lassen die Fragen als Merkposten stehen.

Wir haben uns auf die Suche gemacht. Unsere Mittel sind bescheiden. So haben wir mit schlichten Fragen begonnen. Wer erzählt uns was? Und woher weiß der betreffende Erzähler das, was er uns erzählt? Unsere Fragen sind zwar einfach, aber sie haben wie Dynamit gewirkt. Auch deshalb, weil wir beharrlich sind und uns nicht mit geläufigen Scheinantworten abspeisen lassen. Wir dokumentieren diese unsere Suche und die Fundstücke. Wir stellen sie zur Diskussion. Damit wir alle immer besser Fragen stellen lernen. Damit wir im täglichen Leben nicht unter die Räder kommen.

*****

Das tägliche Leben wird heute durch „Informationen“ geordnet. Weltweit. Immer mehr Informationen und eine immer mehr gefestigte Ordnung. Nicht nur durch die gedruckten und elektronischen „Medien“. Informationen werden auch vermittelt durch das Elternhaus, durch die Schule, durch das Umfeld, und das nicht zu knapp. Wo kommen die Informationen her, wo werden sie erzeugt, wer bringt sie in Umlauf, welche Wege nehmen sie, wie lange dauert es, bis eine Information vom Produktionsort das Elternhaus erreicht? Wir wissen es nicht. Ist es wichtig, das zu wissen?

Der Konsum von Informationen bereitet uns anscheinend viel Spaß und vermittelt uns viel Wissen. Wissen? Der 24-Stunden-Tag reicht kaum noch aus. Wann soll überhaupt noch nachgedacht und nachgefragt werden? Nachgedacht und nachgefragt? Ist es notwendig? Da helfen uns die Mahnungen einiger weniger Rufer wie des Medienkritikers Neil Postman wenig, daß wir uns möglicherweise zu „Tode unterhalten“ oder zu „Tode informieren“ lassen könnten. Wenn es so wäre, wäre das nicht ein sorgenfreier, ein unterhaltsamer, ein fröhlicher, ein schöner Tod? Was ist dagegen einzuwenden? Aber wir leben noch. Wir leben heute. Und wir können nicht aussteigen, selbst wenn wir wollten. Von wo und wohin? In unserer Zeit haben Robinsons keinen Platz auf diesem Planeten. Aber müssen wir aussteigen, müssen wir alles hinnehmen, was uns so gebracht wird?

Das Netzwerk des Transports von „Informationen“ wird immer dichter. Die Übertragungen sind flächendeckend. Die Menge der Informationen steigt und alles wird immer unüberschaubarer. Unüberschaubar ist auch die rasende Entwicklung der Technologien der Vermittlung. Informationen werden immer schneller zum Zielort gebracht. Rund um die Uhr. Rund um die Welt. Allein die Beherrschung der sich schnell überholenden technischen Ausrüstungen verbraucht mehr Zeit als wir eigentlich zur Verfügung haben. Geraten wir so nicht in die Informationsfalle? Sind wir uns dessen bewußt? Wollen wir uns aus dieser Falle befreien? Können wir uns befreien? Wie?

Wir haben kein Rezept gefunden. Selbst wenn wir welche gefunden hätten, würden wir sie hier nicht zum Besten geben. Dies wäre, meinen wir, unverantwortlich. Aber wir bemühen uns unaufhaltsam, uns aus dieser Falle zu retten. Wir vertrauen darauf, daß unser unaufhaltsames gemeinsames Bemühen und der ständige Austausch unserer Erfahrungen uns aus der Informationsfalle führen werden. Wir bauen darauf. Deshalb berichten wir über unsere Bemühungen.

Wir wissen wenig darüber, wo jene Informationen, die uns von unterschiedlichen Instanzen wie Familie, Schule usw. vermittelt werden, ursprünglich erzeugt werden, wer sie erzeugt und warum sie immer mehr Menschen verfügbar gemacht werden. Wir wissen auch wenig über die Gesamtmenge der verfügbaren Information und welcher Teil uns davon verfügbar gemacht wird. Und wir haben wenig Mittel, die Qualität dieser Informationen zu überprüfen. Doch wird unser tägliches Leben von Informationen überflutet. Und wie es bei einer Flut so ist, wir sehen die Flut kommen, wir sehen die Wucht der Flut und doch können wir nicht wirklich fliehen. Selbst wenn uns die Flucht gelingt, wundern wir uns, wie die Flut uns doch noch mittelbar einholt. Wir kaufen sie täglich. Aber warum kaufen wir diese Flut von Informationen und verbrauchen unsere Lebenszeit?

Und was ist Information? Alles was uns über die „Medien“ geliefert wird? Gibt es Unterschiede? In der Qualität? Welche? Wo und wie lernen wir, Informationen zu unterscheiden, zu bewerten? Ist Information bloß eine Nachricht, eine Auskunft, eine Belehrung, oder etwa auch ein Baustein für Wissen oder alles zusammen? Wer gibt uns Antworten auf unsere Fragen? Die Verkäufer dieser Informationsmaschinerie tun dies nicht. Natürlich können wir zu Nachschlagewerken greifen. Helfen sie uns weiter? Was sind Nachschlagewerke? Gibt es Unterschiede zwischen ihnen? Seit wann gibt es Nachschlagewerke? Wer sind ihre Verleger? Wer trägt die Schlagworte zusammen? Werden alle möglichen Schlagwörter erfaßt? Gibt es Auslassungen? Welche? Und woher wissen die Verfasser der Nachschlagewerke, wenn sie selbst glauben, etwas zu wissen, daß ihr Wissen auch Wissen ist? Welche sind die Quellen ihres Wissens? Was ist, wenn diese Quellen vergiftet sind oder nur den Schein vermitteln, Quelle zu sein, ohne je eine Quelle gewesen zu sein? In welchem Verhältnis stehen die Macher der Nachschlagewerke zu der Informationsmaschinerie? Wir maßen uns nicht an, auf diese Fragen Antworten auch nur zu versuchen. Aber wir meinen schon, daß wir auf Fragen wie diese Antworten suchen sollten. Gemeinsam. Wie sollen wir sonst der Gefahr entrinnen, willenloses Werkzeug, Roboter der Besitzer der Informationsmaschinerie zu werden?

Wir alle wissen, daß „Informationen“ nicht vom Himmel fallen. Sie werden produziert und dann zu uns getragen, damit wir sie auch verbrauchen. Die Bandbreite der Träger, gemeinhin „Medien“ genannt, ist weit. So scheint es. Wir haben behauptet – wahrscheinlich ohne auch nur einen dumpfen Widerspruch provoziert zu haben –, daß Informationen durch das Elternhaus, durch die Schule, durch das Umfeld, durch gedruckte und durch elektronische „Medien“ an uns heran gebracht werden. Die Bandbreite der Medien wird immer dichter. Und diese Verdichtung soll Fortschritt bedeuten. Je dichter, um so „fortschrittlicher“. So wird es uns präsentiert und wir glauben auch daran. So sehr, daß wir uns im Alltag über diese Träger, über die Medien, wenig Gedanken machen. Wir stürzen uns auf den Inhalt der überbrachten Information, debattieren über ihn mit viel Akribie. Irgendwann ist die Luft raus. Selten haben wir die Kraft und die Ausdauer uns über den Träger, über den Weg, über den Erzeuger, über die Quelle Gedanken zu machen. Und was ist, wenn die Information einen erfundenen, einen nicht zutreffenden, einen falschen, einen gefälschten Inhalt hat? Ja, was ist, wenn es so wäre? Wären wir dann nicht etwas „glauben gemacht“ worden, was nicht ist? Und wenn es so wäre, wem nutzt das? Wem schadet das? Hat es etwas mit der Macht zu tun? Ausübung der Macht durch Manipulation? Wer übt die Macht über uns aus?

Der immer schneller werdende Alltag läßt uns keine Zeit mehr, zunächst nach der Quelle und nach der Qualität der Quellen zu fragen, bevor wir uns mit dem Inhalt einer „Information“ befassen. Ist dies nicht überall die Praxis geworden, in der Hochschule, in den Lektoraten der Verlage und in den Redaktionen der Medien? Schließlich besorgt sich jeder seriöse Mensch, jede Einrichtung, Information von seriösen Agenturen. Und wir alle sind doch seriöse Menschen! Oder? Dann erübrigt sich das Hinterfragen. Man kann schließlich nicht jedes und alles hinterfragen! Wo kämen wir dann auch hin? Nirgendwo. Wir kämen überhaupt nicht von der Stelle weg. Nicht wahr? Bewegung ist angesagt. Fortschritt! Wer rastet, der rostet. Und welcher „moderne“ Mensch will rosten?

Also lernen wir die fortschrittliche Wertigkeit zu verinnerlichen. Es gibt seriöse Agenturen und es gibt unseriöse Agenturen. Es gibt seriöse Quellen und es gibt unseriöse Quellen. Es gibt seriöse Nachschlagewerke und es gibt andere. Es gibt seriöse wissenschaftliche Werke und es gibt andere wissenschaftliche Werke. Nach welchen Kriterien so entschieden wird? Wer so entscheidet und wer die Entscheidung propagiert? Wie sollen wir das wissen? Haben wir überhaupt Zeit, solche überflüssigen, rudimentären Fragen zu stellen? Wissen wir denn nicht, daß beispielsweise die Deutsche Presseagentur im Vergleich zu anderen nicht–deutschen Agenturen verläßlicher ist? TASS, Tanjug, Terra und wie sie alle heißen mögen.

Es gibt natürlich einige etwa gleich gute Agenturen, wie Reuters, AP, AFP. Sie tauschen ihre Informationen auch untereinander aus. Ungeprüft, versteht sich. Der Rationalisierung wegen. Schließlich müssen die Agenturen wirtschaftlich organisiert sein, genug Geld verdienen, um sich gute Mitarbeiter leisten zu können. Kurz: alle Agenturen, die zu uns gehören, sind auch seriös und glaubwürdig. Wäre es nicht so, würden sie auch nicht zu uns gehören. Bekannte Nachschlagewerke sind eben seriöser, sonst wären sie ja auch nicht bekannt. Renommierte Verlage sind, na ja, wir wissen schon. Ein viel schreibender Wissenschaftler ist eben weiser. All dies hat man zu wissen. Sonst läuft man Gefahr, kurzatmig und unbeweglich zu werden. Zu rosten.

Wie schon erwähnt, werden wir nicht nur von einer unüberschaubaren Menge von „Informationen“ überschüttet, sondern auch die Geschwindigkeit des Überschüttetwerdens steigt ständig. Dabei haben wir, hat die Menschheit, etliche Quantensprünge beim Austausch von Beobachtungen, Erfahrungen und Meinungen hinter sich: die Erfindung von Schrift, Druck, Film, Telegraphie, Funk, Telefon, Fernsehen, Internet, Digitalisierung. Gibt es heute noch Möglichkeiten, eine Fälschung vom Original zu unterscheiden? Machen wir uns Gedanken darüber? Haben wir Zeit dazu? Wird es nicht immer schwieriger, der Quelle einer „Information“ nachzuspüren, die Verläßlichkeit einer Quelle zu prüfen, „die Spreu vom Weizen“ zu trennen? Wie bewußt sind wir uns dieser mißlichen Lage? Fragen über Fragen. Wir haben Antworten gesucht und nicht gefunden. Nicht in den Nachschlagewerken, nicht in den sogenannten wissenschaftlichen Büchern. Weil wir auf der anderen Seite mit dem Ist–Zustand nicht klar kommen, beschreiten wir unübliche Wege, stellen unübliche Fragen. Wir wissen nicht, ob wir dadurch auch verläßliche Antworten auf unsere Fragen finden werden. Aber die Tatsache allein, daß wir begonnen haben, unübliche Fragen zu stellen, hilft uns, mit dem Ist–Zustand der Macht-Medien-Manipulation durch „Information“ immer besser klarzukommen. Wie war der Zustand der Macht-Medien-Manipulation früher?

*****

Wie verläßlich ist der Austausch von Beobachtungen, Erfahrungen, Erkenntnissen und Meinungen unserer Vorfahren in der Kultur der schriftlosen Zeit gewesen? Zu dieser unserer zentralen Frage erzählen uns „Sprach– und Kommunikationswissenschaftler“ so gut wie nichts. Es ist schon so lange her. Außerdem ist es nicht eine wissenschaftliche Nicht–Frage? Haben wir nicht schon immer gelernt, daß wir heute im fortschrittlichsten Zeitalter mit der höchst entwickelten Kultur aller Zeiten leben? Die Gnade bzw. das Glück der Spätgeborenen?

Die fleißigen „Wissenschaftler“ von heute sagen uns aber nichts über die Verläßlichkeit, über die Genauigkeit der Wissensvermittlung in der schriftlosen Zeit im Vergleich zu der Zeit nach der Erfindung der Schrift, bis hin zum nächsten Quantensprung, der Erfindung des Buchdrucks mittels Bleilettern. Wir haben sie auch noch nicht so eindeutig gefragt. Angeblich soll es ja keine Antworten geben, wenn nicht ausdrücklich danach gefragt wird. Angeblich. Das Gesetz des Marktes soll es sein: Keine Nachfrage, kein Angebot. Wenn wir aber – dem Markt zum Trotz – häufig den Eindruck haben, daß uns mehr Antworten gegeben werden als gefragt, dann stimmt möglicherweise etwas mit unserem Apparat der Wahrnehmung nicht. Oder? Und wenn Antworten gegeben werden, bevor überhaupt gefragt worden ist? Was dann?

 

Auf unsere zentrale Frage über die Verläßlichkeit des Austausches von Beobachtungen, Erfahrungen, Erkenntnissen und Meinungen unserer Vorfahren in der schriftlosen Zeit, sind wir auf unsere Vorstellungskraft angewiesen. Wir stellen uns vor, daß der ursprüngliche Austausch unserer Vorfahren über Laute und Gestik von Angesicht zu Angesicht stattgefunden haben muß. Überall. Ob neben dem Sehen und Hören auch andere Sinnesorgane für diesen Austausch herangezogen wurden, lassen wir an dieser Stelle außer Acht, weil wir uns dies nicht vorstellen können.

In unserem Zusammenhang scheint uns entscheidend zu sein, daß Laute und Gestik der Gattung Mensch schon immer nur eine endliche Bandbreite hatten und immer noch haben. Andere Gattungen haben andere Bandbreiten. Wenn sich Katzen aller Länder ohne wissenschaftlich akribische Stützen verständigen können, müßten das auch Menschen schon immer gekonnt haben und heute noch können. Auch ohne die Stütze durch Sprach– und verwandte „Wissenschaften“. Seit wann gibt es sie überhaupt, diese Wissenschaften?

Wir stellen uns vor, daß unsere Vorfahren ihr Umfeld immer genauer abgestuft wahrgenommen und für den Austausch von Wahrnehmungen und Erfahrungen die Bandbreite von Lauten zur Sprache und die Gestik zur darstellenden Kunst ausgeformt haben. Wir stellen uns ebenfalls vor, daß diese Systematisierung ein langandauernder, mühsamer Weg gewesen ist und ohne die Austauschform von Angesicht zu Angesicht nicht möglich gewesen wäre. Unterschiedliche Beobachtungen, Wahrnehmungen, Deutungen und Meinungen wurden ausgetauscht, besprochen, angeglichen und vereinbart. Einvernehmlich. Fortwährend. Gespeichert wurde der Inhalt im Kopf. Außenspeicher waren und sind bei dieser Austauschform nicht zwingend notwendig. Auch zu unserer Zeit wird diese Austauschform im Alltag hauptsächlich praktiziert. Ohne dauerhafte Mißverständnisse. Deshalb können wir uns auch ohne die so genannten wissenschaftlichen „Stützen“ verständigen. Wäre die Qualität dieser Austauschform nicht überzeugend, würde es zur Ansammlung von Wissen gar nicht gekommen sein, auch nicht das Bedürfnis entstanden sein, über Schriften das angesammelte Wissen auch außerhalb des Kopfes zu speichern. Sicherheitskopien im Außenspeicher. Aber eben Kopien, und nicht als Ersatz für den audiovisuell gestützten Kopfspeicher.

Jeder Austausch von Angesicht zu Angesicht, seien es Erfahrungen, seien es Beobachtungen, seien es Meinungen, seien es Phantasien, seien es Berichte über Geschehnisse, seien es Lügengeschichten, beeinflußt uns, verändert uns und wir wachsen dadurch, in welche Richtung auch immer. Wir hören und sehen uns dabei unmittelbar. Ohne Vermittlung durch technische Hilfsmittel, bzw. Geräte. Wir registrieren die Betonungen der Sprache und wir beobachten die Regungen im Gesicht. Wir sind gegenseitig unmittelbar Fragen und Kommentaren zugänglich. Keine andere Austauschform kann wirkungsvoller sicherstellen, daß der auszutauschende Inhalt unmißverständlich und wahrheitsgetreu übermittelt werden kann.

Wir wissen nicht, seit wann vorsätzlich gelogen wird und seit wann es Fälschungen gibt. Wir wollen uns auch nicht ablenken lassen mit müßigen Fragen wie: seit wann wir lügen, seit wann wir fälschen, seit wann wir aus Eigennutz andere aufs Kreuz legen, oder auch wann und wo zum ersten Mal eine Fälschung als solche später aufgeflogen ist. Für uns ist die Erkenntnis wichtig, daß unvermeidbare, aber doch wahrgenommene Fehler, verursacht durch die Tücke des Objekts, uns immer in die Versuchung führen können, vergleichbare Fehler von anderen unbemerkt einzuschleusen, wenn es uns nützt. Und uns nützen heißt mit anderen Worten natürlich, anderen zum Nachteil gereichen.

Wie groß ist eigentlich das Risiko beim Fälschen? Auf jeden Fall ist das Risiko kalkulierbar. Wahrscheinlich fliegt es gar nicht auf. Wahrscheinlich fliegt es so spät auf, daß der Fälscher nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden kann. Und sollte die Fälschung doch zeitig auffliegen, wie soll entschieden werden, ob es sich um eine Fälschung handelt oder nur falsch ist, durch die „Tücke des Objekts“, so zu sagen! Selbst wenn alle Wahrscheinlichkeit dafür sprechen würde, daß die Tücke des Objekts auszuschließen ist, gäbe es noch viele Möglichkeiten sich herauszureden. Wer kennt das nicht? Wer erinnert sich nicht an die vielen „black-outs“ der Regierenden jüngster Zeit?

Nun: die gesellschaftliche Kategorie, einem nutzen – dem anderen schaden bzw. Vor– und Nachteil setzt Verteilung der begehrten Objekte voraus. Seit wann? Wir wollen es nicht untersuchen. Aus schon bekannten Gründen. Warum sollen wir uns auf den Holzweg der Erkenntnisgewinnung begeben? Also bleiben wir bei Verteilung. Und alles was begehrt ist, wird auch knapp. Warum nicht bei den an sich gleich zu verteilenden begehrten Objekten, uns in dem Maße begünstigen, wie es auch durch die „Tücke des Objekts“ hätte passieren können. Wo ist das Risiko? Fest steht, daß schon seit einigen Jahrhunderten gefälscht und gelogen wird. Mit steigender Tendenz. Gestützt durch die rasend schnell wachsenden, vermarktbaren Technologien. Im Zeitalter der Digitalisierung ist die Manipulation eines Originals nicht mehr feststellbar. Diese Technik macht es möglich, daß beliebig viele Kopien des Originals und Kopien von Kopien ohne Qualitätsverlust hergestellt werden können. Nicht eine gewaltige Kulturleistung? So wird uns diese Technologie verkauft. Sie leistet noch mehr. Sie öffnet der Fälschung Tür und Tor. Denn im Klartext heißt diese Technologie nämlich, daß ein Dokument, ein Bild, ein Klang in Ziffern aufgelöst, beliebig oft neu geschrieben und wieder in Dokument, oder Bild oder Klang umgewandelt werden kann. Natürlich können unterwegs einige Ziffern verloren gehen, oder auch verschwinden oder aber auch hinzugefügt werden. Am Ende steht eine Endanfertigung und sie steht eben, ausschließlich und endgültig. Hauptsache sie ist schön und vermarktbar. Fortschritt eben!

Kehren wir zurück zur Schrift. Mit der Erfindung der Schrift als Mittel (Medium) des Austausches (der Kommunikation) gehen uns die Höhen und Tiefen des Klangs beim Erzählen und die Regungen im Gesicht als Ausdruck des Gemütszustandes verloren. Auch die Gelegenheiten zur Klarstellung und zur gemeinsamen Einschätzung. Es ist eigentlich unwichtig herausfinden zu wollen, wo und wer auf dieser Erde sich zum ersten Mal als Erfinder der Schrift brüsten konnte. Und wer sich brüsten will, muß es wohl nötig haben. Es wäre auch ohnehin eine Reise in die Sackgasse, eine Beschäftigungstherapie, typisch für eine „Guinnessbuch-Kultur“ oder, was noch schlimmer wäre, ein Ablenkungsmanöver von wesentlichen Fragen. Denn selbst wenn zweifelsfrei festgestellt werden würde, wo, wann und von wem die Schrift zuerst erfunden wurde, hätten wir als Menschheit davon keinen brauchbaren Erkenntnisgewinn. Eher eine Vergeudung von Energie und Zeit, die zum wirklichen Erkenntnisgewinn dann fehlen könnte. Zum Beispiel bei folgenden Überlegungen.

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