Lügen mit langen Beinen

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Und was war im „Golfkrieg“ los? Wann ist er zu Ende gegangen? Hat unser Kopfspeicher noch Platz für den „Golfkrieg“? Der „Golfkrieg“ ist offenbar gelöscht. Heute wissen wir im besten Fall noch, daß die nach 1990 geborenen irakischen Kinder eigentlich selbst daran schuld sein müßten, daß das Regime von Saddam Hussein immer noch im Irak herrscht. Dem „Golfkrieg“ zum Trotz. Wie sonst sind die fortwährenden Raketen– und Bombenangriffe der Briten und der USA auf den Irak zu erklären? Sind diese Angriffe durch Resolutionen der Vereinten Nationen gebilligt?

Können wir uns noch über die Zusammenhänge mit Falkland erinnern? Oder beim Militärputsch in Chile? Oder an die Entlaubung des Ho-Chi-Mihn-Pfades durch den flächendeckenden Abwurf von Dioxin als die Demokratie und Menschlichkeit schlechthin in Asien verteidigt wurde? Wer steckte hinter dem „Sechs-Tage-Krieg“? Was geschah im Kongo und wie kam der einstige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Dag Hammarskjöld, ums Leben? Wer brachte den demokratisch gewählten iranischen Ministerpräsidenten Mohammed Mossadegh um, als er die Ölindustrie in Iran verstaatlichte? Wer war John Foster Dulles und welche Politik betrieb er? Aus welchem Himmel fielen die Flüchtlinge in Palästina, die heute noch in Lagern leben? Was geschah in Hiroshima und Nagasaki? Wer führte den zweiten und den ersten Weltkrieg? Was geschah in den sogenannten Kolonien? Wieso heißt „Amerika“ Amerika? Wie hieß dieser Kontinent früher? Wie hießen die Bewohner dort, bevor die christlich–europäischen Schlächter ganze Arbeit leisteten? Oder in „Australien“, oder in „Neuseeland“? Wissen wir noch, wieviel „Flüchtlinge“ es in den letzten 500 Jahren aus Europa gegeben hat und was sie in der ganzen Welt angerichtet haben? Waren sie Asylsuchende? Wenn wir die Antworten auf alle diese Fragen gegenwärtig hätten, würden wir dann nicht die lautstärksten Vorkämpfer für die Erhaltung der Menschlichkeit mit anderen Augen sehen?

Wer kennt die Anekdote noch? Ein Journalist fragt den Außenminister der USA John Foster Dulles, wenn er nur einen Wunsch frei hätte, welcher wäre der? „Freier Fluß der Informationen“ war seine Antwort. Der Journalist hat nicht nachgefragt. Wir aber grübeln nach. Was hat John Foster Dulles wirklich gemeint? Fließt nicht jeder Fluß in einer Richtung? Ja, die vielen „John Foster Dulles“! Sie haben uns jene langjährige UNESCO–Diskussion über „Medienmonopole“ fast vergessen gemacht. Jene 1970er und 1980er Jahre.

Wie gesagt, Fragen ohne Ende fallen uns ein, den Zusammenhang zwischen Medienvielfalt und Gedächtnisverlust gegenwärtig zu machen. Zur großen Politik wie auch zu Problemen des Alltags. Und wir wissen: Wir sind, was wir wissen. Und wir wissen, was uns erzählt worden ist.

Wir sehen keine Veranlassung, das Erzählte nicht anzunehmen und es zu anderen Bestandteilen unseres Wissens einzuordnen und abzulegen, wenn die Erzählung stimmig ist, wenn die Erzählung in uns kein Unbehagen erzeugt, wenn die Erzählung nicht in Widerspruch zu unserer Erfahrung und unserem bereits gespeicherten Wissen gerät. An diese Vorgänge haben wir uns gewöhnt. Meist haben wir auch keine Zeit zu fragen, wer der Erzähler ist, wie der Erzähler zu seinem Stoff kommt, wie er seinen Lebensunterhalt verdient, was die Erzählung bewirkt, wem sie dient, wem sie schadet, und vieles mehr.

Dies sind die Gründe, dies sind die Zusammenhänge, die unsere Suche nach Antworten auf unsere an sich harmlos erscheinende Frage so schwer gemacht haben: wer sind die „Indogermanen“, die „Indoeuropäer“ und die „Arier“? Seit wann ist bekannt, daß sie es sind? Wie ist bekannt geworden, daß es sie gibt? Wer hat sie gefunden und wie und warum und wozu? Aber wir sind weiter gekommen. Durch unsere unüblichen Fragen. Und es scheint, wir haben die Büchse der Pandora aufgestoßen.

Wegbereiter des „epochalen Entdeckers“ William Jones

Wir wollten doch nur etwas Genaues über „Arier“, „Indogermanen“ und „Indoeuropäer“ wissen. Unterwegs haben wir leidvoll nachdenken müssen. Was mit uns geschieht, nein, was mit uns geschehen soll, was alles uns glauben gemacht werden soll. All dies können und wollen wir nicht hinnehmen. Wir setzen unsere Suche kompromißlos fort. Wir beginnen bei jenen Geschichten, die weltweit auch in den Schulen erzählt werden. Wir erinnern uns.

Im Jahre 1786 entdeckte William Jones, der Begründer der Asiatic Society in Kalkutta, die enge sprachwissenschaftliche Verwandtschaft zwischen Sanskrit, der Sprache der Aryas, Griechisch, Latein, und den germanischen und keltischen Sprachen. Diese epochale Erkenntnis legte den Grundstein für die Erforschung der indo–europäischen Sprachgemeinschaft. ... Seit dem späten 19. Jahrhundert setzte sich in der Forschung mehr und mehr die Überzeugung durch, daß der Ursprung dieser indo–europäischen Sprachfamilie in den Weiten der osteuropäischen und der zentralasiatischen Steppe zu suchen sei.

Die bedeutenden Erkenntnisse der frühen Sprachwissenschaftler über die engen linguistischen Beziehungen innerhalb der indo–europäischen Sprachfamilie wurden jedoch zunehmend von rassistisch–nationalistischen Ideologien überschattet, die den Ursprung der eigenen Nation in einer mystisch–arischen Rasse postulieren. Dies trifft seit dem 19. Jahrhundert besonders auf deutsche nationalistische Historiker und in etwas jüngerer Zeit auch auf nationalistische Historiker Indiens zu. Diese Entwicklung hatte in Europa verheerende Folgen und führte in jüngster Zeit auch in Indien zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Historikern und zu schweren kommunalistischen Unruhen. Im Kontext der frühen indischen Geschichte erscheint es daher geboten, in der deutschen Sprache von ‚Aryas‘ zu sprechen, um diese frühgeschichtlichen Sprachgruppen Nordwestindiens von dem neuzeitlichen, ideologischen Konstrukt der ‚Arier‘ als einer mystischen Urrasse der Indo–Europäer deutlicher als bisher zu unterscheiden.

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Während des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Theorie einer ‚Arischen Rasse‘ – besonders emsig propagiert durch den Comte de Gobineau und später durch seinen Jünger (disciple) Huston Stewart Chamberlin –, die ‚Indoeuropäische‘ Sprachen sprechend, alle fortschrittlichen Errungenschaften für die Menschheit bewerkstelligte und moralisch überlegener war als die ‚Semiten‘, ‚Gelben‘ und ‚Schwarzen‘. Die ‚Nordischen‘ und die ‚Germanischen‘ Völker wurden als besonders reine ‚Arier‘ angesehen. Eine Theorie, die im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts von Anthropologen zurückgewiesen worden ist, die aber Adolf Hitler und die Nazis ergriffen hatten und zur Liquidierung von Juden, Zigeunern und anderen ‚Nicht–Ariern‘ durch die Deutsche Regierung als Grundlage diente.

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Die alte Stadt Prayāga (d. h. Opferstätte), welche die Mohammedaner mit dem uns geläufigem Namen ‚Allâhâbâd (Wohnsitz Allâhs) belegten, ist der heiligste Ort Indiens, weil sich hier die beiden heiligen Ströme Ganges und Yamunā vereinigen. Das ist sinnbildhaft für den Hinduismus: er ist seinem Wesen nach selbst gleichsam der Vereinigungspunkt von zwei großen Entwicklungsströmen, die, aus verschiedenen Ursprüngen stammend, für ihren weiteren Lauf zu einer neuen Einheit verschmolzen: der eine dieser Ströme ist das Ariertum, das vor vier Jahrtausenden aus dem Norden nach Indien eindrang und es in sprachlicher und kultureller Hinsicht weitgehend umgestaltete, der andere Strom wird durch das bodenständige Element repräsentiert, das, in sich vielgestaltig, schon vor der arischen Einwanderung in Indien saß und bis heute seine Eigenart zu behaupten gewußt hat. Der schöpferischen Synthese dieser beiden Komponenten verdankt die indische Kultur ihre Entstehung; durch sie erhielt die indische Religion ihre einzig in der Weit dastehende Ausprägung.

Die älteste Geschichte Indiens ist uns heute noch ein Buch mit sieben Siegeln. Ethnographen nehmen an, daß die ältesten Bewohner des vorderindischen Kontinents, der allerdings damals noch nicht seine heutige Gestalt hatte, Negride gewesen sind, die zu ihren Stammesgenossen in Afrika und Melanesien in räumlichem und genetischem Zusammenhang standen. Diese sollen dann durch aus dem Norden kommende Europide nach dem Süden und in abgelegene Gebiete abgedrängt und allmählich aufgesogen worden sein, so daß sie heute nicht mehr in reinem Zustande vorhanden sind. Unter den Europiden, die, in mehreren Wellen vorrückend, in dem weiten Lande ihren Wohnsitz nahmen, repräsentierten den am meisten entwickelten Typus die Vorfahren der heute noch im Süden dravidische Sprachen redenden grazilen braunen Völker. ... Noch vor fünfzig Jahren (also um 1913) ging die herrschende Ansicht dahin, daß erst die Arier eine höhere Kultur und Religion nach Indien gebracht hätten, daß die vorarischen Bewohner des Gangeskontinents aber kulturarme Primitive gewesen seien. Diese Vorstellung änderte sich von Grund auf durch die großen archäologischen Entdeckungen, die seit den Jahren 1921/1922 im Indusgebiet gemacht worden sind. In Mohenjo Daro (in der Landschaft Sindh) und in Harappa (im Panjâb) wurden damals die Ruinen großer Städte freigelegt. Die dort gefundenen geräumigen Bauten, kunstvollen Werkzeuge und formschönen Plastiken verraten einen Stand der Kultur, der dem der nur in Dörfern wohnenden Arier, die noch keine ausgebildete Technik und Kunst besaßen, hoch überlegen war. Diese sogenannte Induskultur weist eine auffallende Ähnlichkeit mit der gleichzeitigen Kultur Vorderasiens auf, trägt andererseits aber wieder so individuelle Züge, daß sie nicht als bloßer Ableger derselben betrachtet werden kann, sie ist deshalb als ein selbständiges Glied der internationalen Weltkultur des 3. Jahrtausends anzusehen. ... Während einige Forscher die Indusleute für Indogermanen halten, die nicht dem arischen Zweige, sondern einer älteren Gruppe dieser Sprachfamilie angehörten, nehmen die meisten an, daß sie Vorfahren der Draviden waren und als solche zu den Sumerern und vor–indogermanichen Mittelmeervölkem in nähere Beziehung zu setzen sind.

 

Die Arier, welche im 2. Jahrtausend v. Chr. über die Gebirgsstraße des Nordwestens in das Stromgebiet des lndus einwanderten und in ständigem Kampfe mit den Vorbewohnern sich den Nordwestzipfel Indiens unterwarfen, waren ein jugendfrisches Volk von Hirtenkriegern, die zwar schon etwas Ackerbau trieben, denen jedoch der Städtebau und ein höheres Kunstschaffen noch fremd war.

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Die Datierung der Texte und der sie tragenden Kulturen war lange Zeit auch unter westlichen Indologen heftig umstritten. Aufgrund astronomischer Angaben hatte der berühmte indische Freiheitskämpfer Bal Gangadhar Tilak Anfang dieses Jahrhunderts in seinem Buch «The Arctic Home in the Vedas» geglaubt, den Ursprung der Veden bis ins 5. und 6. Jahrtausend v. Chr. zurückdatieren zu können. Der deutsche Indologe H. Jacobi kam unabhängig davon zu ähnlichen Schlußfolgerungen und datierte den Beginn der vedischen Periode auf die Mitte des 5. Jahrtausends. Meist folgte man in der Datierung der vedischen Texte jedoch dem berühmten deutschen Indologen Max Müller, der im späten 19. Jahrhundert in Cambridge lehrte. Von der Lebenszeit des Buddha um 500 v.Chr. ausgehend, datierte er die Entstehung der Upanishaden, deren Philosophie ohne Zweifel der Zeit vor Buddhas Wirken entstammte, in die Jahrhunderte von 800 bis 600 v. Chr. Ihnen gingen die Brahmana–und Mantra-Texte in den Jahrhunderten von 1000 bis 800 bzw. von 1200 bis 1000 v. Chr. voran. Heute datiert man den ältesten vedischen Text, den Rigveda, in die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. Da die Veden sehr bald nach ihrer Entstehung als göttliche Offenbarung nicht mehr verändert werden durften und in einer für unsere heutige Zeit unfaßbar genauen Weise in Priesterfamilien mündlich überliefert wurden, können sie nun, nachdem ihre Datierung zumindest in bestimmten Jahrhunderten als gesichert angesehen werden kann, als historische Quellen ersten Ranges für die Geschichte der vedischen Gesellschaft in Nordindien angesehen werden.

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Diese Geschichten geben den eindeutigen Hinweis, daß der Urheber dieser Version William Jones gewesen ist. Also werden wir uns intensiv mit William Jones befassen. Bei der Beschäftigung mit „wissenschaftlichen Texten“ haben wir leidvolle Erfahrungen gemacht. Wir stürzen uns nicht mehr auf sie und setzen uns damit auseinander. Zuvor stellen wir klärende Fragen. Erst bei dieser Übung haben wir gemerkt, wie sehr wir in unserer „wissenschaftlichen Ausbildung“ eigentlich verbildet worden sind.

Immer wenn uns im Alltag eine Geschichte erzählt wird, fragen wir nach, woher sie kommt, wer sie zuerst erzählt hat, usw. Ist der Erzähler unbekannt, stellt sich Skepsis ein. Ist er uns als seriös bekannt, sind wir geneigt, die Geschichte anzunehmen. Ist er aber schon als Windhund aufgefallen, vergessen wir die Geschichte schnell. Diese Praxis im Alltag haben wir nicht heute erfunden, oder gestern. Nein. Nicht zufällig heißt diese Praxis im Alltag schlicht Alltagssitte. Diese Sitte ist alt. Sie gilt für alle Bereiche, private, geschäftliche, öffentliche; sie gilt für alle Ebenen, national wie international.

Warum gilt diese bewährte Sitte in der „modernen wissenschaftlichen Kultur“ nicht? Warum sollen wir uns mit Veröffentlichungen auseinandersetzen, wenn wir den Verfasser als Mensch nicht einschätzen können? Dies gilt für Wissenschaftskongresse, Vorträge, Seminare, Vorlesungen, Bücher. Die „moderne Wissenschaftskultur“ hat nicht nur diese eine bewährte Sitte abgeschafft, wie wir noch erfahren werden. Wir wollen aber immer wissen, wer der Erzähler wirklich ist, bevor wir über seine Erzählungen nachdenken.

Also haben wir unsere Auseinandersetzung mit der Person William Jones begonnen. Aber wir sind gleich gestolpert. Berichtet William Jones nicht aus Kalkutta? ‚Im Jahre 1786 entdeckte William Jones, der Begründer der Asiatic Society in Kalkutta, die enge sprachwissenschaftliche Verwandtschaft zwischen Sanskrit, der Sprache der Aryas, Griechisch, Latein, und den germanischen und keltischen Sprachen. Diese epochale Erkenntnis legte den Grundstein für die Erforschung der indo–europäischen Sprachgemeinschaft...‘ Mit anderen Worten, seine ‚epochale Erkenntnis‘ ist offensichtlich der erste Höhepunkt eines Dramas gewesen, von dem wir noch nichts wissen. Erst ‚im Jahre 1786‘. Müssen wir nicht genauer wissen, was vor 1786 gewesen ist? Wir lassen also William Jones eine kurze Weile warten und blicken zurück. Wer hat die Bühne erbaut, auf der William Jones „brilliert“ hat?.

Die Geschichte dieses Theaterstücks soll in Indien vor ca. 6000 Jahren begonnen haben. Erzählt wird aber die Geschichte zum erstenmal – sage und schreibe – etwa 5800 Jahre später, weil diese neuen Eindringlinge glaubten, im nördlichen Teil Indiens Menschen zu begegnen, die ihrer äußeren Erscheinung nach auch seßhaft gewordene Nomaden aus der zentralasiatischen Steppe hätten sein können. Merkwürdig ist, daß diese neuen Eindringlinge oder deren Vorväter bis zur Zeit dieser geglaubten Entdeckung oder davor, weder die zentralasiatische Steppe noch die Bewohner dieser Steppe gekannt haben.

Die zentralasiatische Steppe ist mithin eine nachträgliche Dichtung, um die Geschichten über „Verwandtschaften“ glaubhaft zu gestalten. Warum haben diese Eindringlinge Geschichten erfinden müssen? Eine dichterische Besessenheit? Eine krankhafte Phantasie? Kann es so gewesen sein? Was könnten sie tatsächlich gesehen haben? Ein reiches Land mit Menschen unterschiedlicher äußerer Erscheinung, ganz anders als das „Einheitsbild“ ihres alltäglichen Umfeldes daheim? Bald müssen sie feststellen, daß die Geschichte Indiens der letzten 2600 Jahre gut belegt ist. So kreisen ihre Phantasien darum, ob nicht die Vielfalt äußerer Erscheinung der Inder auf eine Vermischung verschiedener „Völker“ vor 2600 Jahren zurückgeführt werden kann. Wie sie zu solchen Phantasien kommen? Nun, Sigmund Freud war noch nicht geboren. Und einer wie er würde schon eine einleuchtende Erklärung geboten haben, wenn ihm diese Frage aufgestoßen wäre.

Wir aber bleiben bei den Fakten. Den Ausdruck „Phantasie“ nehmen wir zurück. Fest steht, daß die entwickelte Kultur, die wirtschaftliche Entwicklung, der angesammelte Reichtum und die künstlerisch hochwertige Zivilisation schon vor 2300 Jahren für Alexander den Großen der Anlaß waren, in Indien einzudringen. Deshalb fragen wir, ob die neuen Eindringlinge einen Kulturschock erlitten haben könnten, dessen Folge ein schier unüberwindbares Minderwertigkeitsgefühl war? Und wie wird in der Regel ein Minderwertigkeitsgefühl überwunden? Andere herab setzen oder sich selbst herauf stufen oder alles gleichzeitig? Auch diese Fragen belassen wir an dieser Stelle als Merkposten zum Nachdenken.

Wir bleiben bei der Erzählung, daß weidende Nomaden aus der zentralasiatischen Steppe irgendwann vor 2600 Jahren Nordindien erobert haben könnten. Und die Erzähler dieser Geschichte sind nicht irgendwelche Eindringlinge oder Reisende, sondern jene Indien kolonisierenden Christen aus Europa des 19. Jahrhunderts n. Chr., und nicht jene des 16. oder 17. oder 18. Jahrhunderts. Sie sind geprägt von den überlieferten und erlebten Geschichten jener blond-blauäugig-weiß-christlichen Kultur, die sie vertreten. Einer zwar nicht 6000jährigen, aber doch 2000jährigen, die also seit unserer Zeitrechnung datiert.

Die neuere christliche Geschichte in Indien – es gibt auch eine ältere, worauf wir noch zurück kommen werden – beginnt in 1498. Deshalb ist die Frage fällig, ob die europäischen Christen in Indien vor William Jones nichts gesehen, nichts gehört und nichts gesagt haben? Auch diese Frage ist in den „modernen Wissenschaften“ noch nicht gestellt. Wozu auch? Auch wenn die christliche Geschichte in Indien zwischen 1498 und 1783 erstaunlich gut belegt ist. Also, daran kann es nicht gelegen haben, daß Wissenschaftler dieser Kultur diese – etwa 280jährige – Geschichte schlicht übersehen haben könnten, wie etwa das „dunkle Mittelalter“. Die Geschichte dieser Zeit ist nicht wenig aufschlußreich.

Es kann den Nachfahren der europäischen Christen nicht verborgen geblieben sein, daß Europa seit über 500 Jahren fleißig dabei ist, sich die ganze Welt untertan zu machen, indem sich Europäer weltweit ansiedeln. Bislang sind mehr als 60 Millionen Menschen aus Europa anderswo „eingewandert“ und haben sich im Einwanderungsland fleißig vermehrt. Die mildeste Form dabei ist die Einwanderung der europäischen „Wirtschaftsflüchtlinge“ gewesen. Und was alles haben sie angestellt?

Uns wird nach 1757 die Geschichte Indiens von vor 2600 Jahren so erzählt, daß uns auch heute verständlich wird, worauf die frühen Errungenschaften und Leistungen Indiens zurückzuführen sind. Die ursprünglichen Einwohner Indiens wären dazu niemals imstande gewesen. Aber wie kommen gerade die britischen Christen zu solchen Geschichten? Sie waren nicht als erste in Indien. Portugiesen waren vor ihnen da. Auch die Niederländer und Franzosen waren vor 1757 schon da. Denen ist nicht eingefallen, der Welt die Geschichte Indiens von vor 2600 Jahren aus diesem Blickwinkel zu erzählen. Vor ihnen waren islamische Eroberer da. Haben sie nicht eine ganze Menge über Indien auf Arabisch und auf Persisch geschrieben? Und davor die Hellenen? Und andere Reisende? Was haben sie über Indien geschrieben? Aber alles der Reihe nach.

Die Geschichte des christlichen Europas ist geprägt von der eifrigen Christianisierung weiter Teile unserer Welt. Diese Geschichte ist die Folge der Botschaft: „Darum gehet hin, und lehret alle Völker, und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes; und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe (Matthäus 28, 19 und 20)“. Diese Welle der Christianisierung ist nicht von ihrem Entstehungsort Jerusalem in Palästina ausgegangen. Nein. Sie geht von Europa aus. Sie wird getragen von den neuen Christen, von den konvertierten Europäern. Und die Verbreitung der christlichen Nächstenliebe hat viel Blut gekostet. Und sie hat überall die frühere, über Jahrtausende geltende Nächstenliebe zerstört. Raub, Tötung, Eroberung, Besatzung, Ausbeutung, Christianisierung.

Diese Christianisierung ist mit fanatischem Eifer an die Leute gebracht worden. Viele, die nicht an die christliche Nächstenliebe glauben wollten, haben daran glauben müssen. Kreuzzüge, der Krieg gegen die Mauren und der Fall von Granada, die Vertreibung der Juden aus dem christlichen Spanien, Inquisition, Eroberungen, Völkermord, Sklavenhandel, Raubkolonialismus, systematische Unterdrückung, Ausbeutung, Entfremdung und Gehirnwäsche haben Spuren auch in der Psyche der Nachfahren dieser Täter hinterlassen. Der Druck der Rechtfertigung für das unrechte geschichtliche Handeln ist groß, weil ihre Nachfahren heute noch daraus reichen Gewinn einfahren. Dem erfinderischen Geist ist keine Grenze gesetzt. Hauptsache ist, daß die Rechtfertigung unter die Leute gebracht werden kann, die sie bitter nötig haben. Die „John F. Kennedys“ oder die „George W. Bushs“ fallen nicht vom Himmel. Sie wachsen.

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Wie bekannt, hat nach Alexander von Makedonien (3. Jahrhundert v. Chr.) bis Vasco da Gama (1498) kein europäischer „Haudegen“ indischen Boden betreten. Dies geschieht, weil im 15. Jahrhundert der Handelsweg über das Rote Meer, Ägypten bzw. Persien, Irak, Syrien, und Türkei von den Osmanen blockiert wird. Bis 1515 etablieren die Portugiesen ihre Seemacht und bringen alle wichtigen Häfen der Westküste Indiens unter Kontrolle. Nicht als Händler, wie ihre Nachfahren uns schon immer glauben machen wollen, sondern als brutale, hinterlistige und rücksichtslose Räuber, Ausbeuter und Mörder. Diese beginnen als „Haudegen“, und verwandeln sich über „Buchhalter“, „Schreibtischtäter“, „Rechtfertiger“ zu „Herrschern“. Händler waren sie nie.

Die „Haudegen“ sind ohne Ausbildung, brutal, rücksichtslos, gierig und undiszipliniert. Vor Ort müssen die „Räuber aus reichem Haus“ für Ordnung sorgen. Die „Haudegen“ werden immer mehr durch die „Buchhalter“ zu einer Kampftruppe organisiert. Die Buchhalter sind aus dem gleichen Holz geschnitzt, aber blicken etwas weiter. Die „Schreibtischtäter“ sind nicht so einfach gestrickt, haben Schulbildung, sind nicht immer fähig draufzuhauen, aber nicht weniger rücksichtslos, brutal und gierig. Die „Rechtfertiger“ sorgen dafür, daß die „Räuber“ immer mehr ihre „Schwerter“ mit dem „Schreibtisch“ tauschen können. Sie verkaufen die „Schreibtischtäter“ als Verwalter, die „Buchhalter“ als Polizisten und die „Haudegen“ als Kampftruppen. Die „Rechtfertiger“ sind gut ausgebildet, diszipliniert, loyal, aber auch rücksichtslos, skrupellos, schamlos und gierig. Sie sind die christlichen „Ideologieproduzenten“, „Gehirnwäscher“. Deren Moral? Was ist Moral?

 

Das gleiche geschieht auch anderswo in der Welt. Schon immer ist die katholische Kirche mit von der Partie, denn die Kirchenfürsten sind dem Reiz weltlicher Güter nicht abgeneigt. So wird auch Goa von portugiesischen „Haudegen“ überfallen und besetzt. Mord und Vertreibung sind dabei bedauerliche „Kollateralschäden“. Die „Buchhalter“, die „Schreibtischtäter“ im Gewande der „Händler“ kommen nach. Die katholische Kirche beteiligt sich an diesem Unternehmen flankierend. Im Jahre 1518 lassen sich Franziskaner in Goa nieder. Kaum ist der Orden der Jesuiten 1540 gegründet, kommt 1542 schon der jesuitische Missionar Francisco Xavier (1506–1552) nach Goa, 1548 kommen die Dominikaner und 1572 auch die Augustiner. Andere christliche Orden kommen nach. Die einfacheren Missionare überblicken möglicherweise den Zusammenhang nicht. Wir wollen aber darüber nicht spekulieren. Welchen Platz die Missionare vor Ort in der Hackordnung der katholischen Kirche einnehmen, werden wir noch erfahren.

Hier ist uns wichtig aufzuzeigen, wie der Eifer für die Verbreitung des Glaubens die Aufmerksamkeit der niederen „Haudegen“ vom Raubgewinn der oberen „Haudegen“, der „Räuber aus reichem Haus“ und der Anteilseigner des Gesamtunternehmens abgelenkt hat. Auch durch regelmäßige „Seelsorge“. Die Botschaft ist einfach. Warum laufen diese Heiden auch weg ohne ihr „Hab und Gut“, statt heim zu finden zum „wahren“ Gott? Und was soll man denn sonst mit dem verlassenen „Hab und Gut“ machen, als es gut aufzubewahren? Kann man, darf man Wertgegenstände verkommen lassen? Und alle diejenigen, die nicht weggelaufen sind oder nicht weg laufen konnten, werden durch die öffentlich zur Schau getragene „Frömmigkeit“ getäuscht. Die einfachen „Haudegen“ wüten und sterben für die Verbreitung der christlichen Nächstenliebe. Wer soll da noch von Raub sprechen?

Die Schiffe sind nicht billig. Die Kanonen und die anderen Waffen auch nicht. Aber die Menschen kosten wenig. Es gibt sie reichlich in Portugal, die dort nichts mehr zu verlieren haben. Ihnen wird die Perspektive eröffnet, als Beteiligte am abenteuerlichen Unternehmen reich nach Hause zurückzukommen. Wenn nicht, haben sie ihr Leben für eine gute Tat gegeben, das christliche Licht und Heil zu den „Heiden“ gebracht. Dafür würden sie im Himmel belohnt werden. Ein guter Köder für ein mörderisches Unternehmen für alle, die eh nichts mehr zu verlieren haben. Die lange Reise ist beschwerlich. Viele kommen überhaupt nicht an.

Sieben Monate auf See, immer und immer, und dabei soll man kein Fisch werden?...Die anderen vier Schiffe unserer Gesellschaft haben unter besserer Leitung ihres Schiffsführers die Schwierigkeiten früher überwunden als wir, und indem sie ihre Route zwischen der Küste Afrikas und der Insel St. Lorenz nahmen, gelangten sie nach Mosambik, wo sie 20 oder 25 Tage Rast einlegten; von dort aus erreichten sie Goa in der üblichen Zeitspanne und hatten, nachdem sie hier angekommen waren, Muße, ihr Geschäft vollständig oder teilweise abzuwickeln, je nach Art eines jeden einzelnen. Unser Schiffsführer, der im vorigen Jahr bei Verzino auf den dortigen Untiefen gestrandet war, fuhr diesmal, bevor er sich anschickte, den Äquator zu überqueren, aus Angst so dicht unter die Küste von Guinea, daß wir, nach Eintreten der Windflaute, ganze 46 Tage dort verbummelten; und indem wir diese Zeit und diese Gelegenheit verpaßten, fanden wir dann alle saisonbedingten Winde so verändert, daß wir nicht nur als verloren, ja sogar ganz verloren galten, sondern auch, nachdem wir das Kap der Guten Hoffnung gerundet hatten, Gegenwind vorfanden, der uns dort und unter der Insel St. Lorenz weitere 45 Tage aufhielt; und da wir mit der Zeit schon so weit vorgerückt waren, mußten wir zwangsweise diese Insel verlassen ohne überhaupt an Land zu gehen: eine große Strapaze. Und gerade als wir vor der Mitte der Insel standen, liefen wir auf eine Reihe von Untiefen, genannt die Garagiai, zu, die gefährlichsten und schrecklichsten in dieser Gegend: für den, der dort aufläuft, gibt es keine Rettung, denn es gibt nichts außer drei oder vier Sandbänke, wo es weder Wasser noch Bäume noch sonst etwas gibt und die Hitze ist so groß, daß Eier aufgehen ohne ausgebrütet zu werden. Es gefiel Gott, uns da herauszuholen und von weiteren Qualen zu befreien, denn nachdem wir jene Insel vollständig umsegelt hatten traten wir ein in diese Gewässer Indiens, wo es weder Stürme noch Starkwinde gibt noch hohen Seegang, sondern es ist immer ruhig, mit einem Wind so angenehm wie die See, die stets glatt und freundlich anzusehen ist, was sich niemand vorstellen könnte nach dem vorher Erlebten; und dazu würde gut passen der Spruch jenes Mannes aus Bergamo (Stadt in Norditalien.), der, aus sehr schwerem Sturm errettet, beim darauf folgenden Anblick einer sehr ruhigen See ausrief:Jetzt stellt sie sich wie ein schnurrenden Kater‘.

Dies ist ein Auszug aus einem Brief eines Florentiners namens Filippo Sassetti (1540–1588) nach seiner Ankunft in Cochin an seinen Freund Francesco Valori von Dezember 1583. Filippo Sassetti ist insofern eine Ausnahmegestalt in der Galerie der christlichen Ausbeuter, weil er weder ein „Haudegen“, noch ein Missionar, noch ein „Buchhalter“, noch ein „Schreibtischtäter“, sondern eher ein angestellter kaufmännischer Diener vieler am Ausbeutungsgewinn interessierter europäischer Herren gewesen ist. Er hat viele ausführliche Briefe, eigentlich Berichte mit literarischer, sach– und landeskundlicher Qualität geschrieben. Aus freien Stücken. Nicht im Auftrag. Er lebt in Indien kurz. Im September 1588 ist er gestorben. Seine Briefe sind „Jahresbriefe“, bestimmt durch den jährlichen Rhythmus des Schiffsverkehrs. 1583/84 ist das erste Briefjahr. Seine Briefe sind in Florenz als wertvolle Zeitdokumente archiviert. Dem im 18. Jahrhundert erfundenen „Indo–europäischen Sprachstamm“ sei dank, erfahren wir Erstaunliches. Über das europäische Umfeld und darüber, was die Europäer in Indien alles angestellt haben. Ironie der Geschichte?

Denn das alles wäre nach der 1689 in Florenz gehaltenen Trauerrede anläßlich seines Todes 1688 in Goa vergessen worden. Er war ein zu seiner Zeit angesehener Zeitgenosse in der Stadt Florenz. Mehr nicht. Aber Filippo Sassetti wird um die Mitte des 19. Jahrhunderts für die große Welt „entdeckt“, als die Welle der „Indologie“ und der „vergleichenden Sprachwissenschaft“ auch Italien erfaßt. Seine „Briefe aus Indien“ werden veröffentlicht. Im Rahmen einer Sammlung mit dem Titel Biografia dei viaggiatori italiani (Biographie der italienischen Reisenden) veröffentlicht Pietro Amat di S. Filippo 1882 eine 115seitige Abhandlung über Filippo Sassetti. Mario Rossi legt die erste Biographie Un letterato e mercante fiorentino del secolo XVI – Filippo Sassetti (Ein florentinischer Kaufmann und Literat des 16. Jahrhunderts – Filippo Sassetti) – Lapi, Città di Castello, 1899 vor. Viele andere folgen. Filippo Sassetti beziehen wir ausführlich in unsere Suche ein, weil ihm der erste Platz in der „Ahnengalerie“ der Indologen zugefallen ist. Obwohl er doch kein Indologe gewesen ist. Er ist deshalb nur der angebliche „Vorläufer“.

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Filippo Sassetti wird am 26. September 1640 in Florenz als zweiter Sohn einer dem Herrschergeschlecht der Medici stets treu ergebenen adeligen Familie geboren. Im Gegenzug erwirbt die Familie während der Herrschaft von Cosimo I. im 15. Jahrhundert ein bedeutendes Vermögen. Aber sein Großvater, Francesco Sassetti, kann das Vermögen nicht halten. Zu aufwendig ist sein Lebensstil. Sein Vater, Giovambattista, muß seine beiden Söhne sogar in eine kaufmännische Lehre schicken.

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